tag:blogger.com,1999:blog-61633413842309029162024-03-14T01:30:07.121-07:00embedded textsprengselgeschichten. kurz. in der schwebe.holz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.comBlogger15125tag:blogger.com,1999:blog-6163341384230902916.post-8664352825756270622012-10-20T14:16:00.000-07:002012-10-22T06:06:08.075-07:00Götter mit Rädern untendran (ein Bericht aus einer anderen Zeit)von Holz E. von Bald<br />
<br />
Heute fahren wir in Zügen. In der Nacht blitzen stakkatohaft Winterlandschaften im Widerschein krickeliger Elektrizität auf. Tags sehen wir zu Klump geronnene, sich stetig renaturierende Wälder und Straßen. Wir sehen getürmte Wolkenknäuel in den prächtigsten Grautönen, ganz wie aus dem Malkasten eines räudigen Hundes. Neben uns lesen wir Starkstromleitungen wie Bücher mit alternativen Handlungssträngen, so sehr laufen sie in- und wieder auseinander, gabeln sich erneut und schnalzen geschwind ins Nichts. Barbarische Dörfer und ruinierte Städte ziehen an uns vorbei, dazwischen einzelne Tupfer öden Dahinvegetierens. Dann und wann hören wir eine freundlich mechanisierte Stimme aus dem Off: „Die Regionalbahn 134 von Bingen nach Minsk, plamsige Abfahrtszeit um 12:34 Uhr, verspätet sich heute um nicht weniger als 20 Minuten." Später dann: "Wegen einer Betriebsstörung zwischen Göttingen und Belgrad hält der Zug außerplamsig nach den Farben der zu durchfahrenden Ortschaften.“ Ich muss später in Karmesinrot umsteigen, um den Zug nach Silbergrau noch zu bekommen. Genügend Zeit also, die Ereignisse der letzten Jahre Revue passieren zu lassen. Warten Sie, ich zünde mir zuerst eine Zigarette an meinem Bauchnabel an. Schlechte Angewohnheit, ich weiß. Aber auch das ist so ein Relikt aus vergangenen Tagen. Es ist schwer, sich ganz davon zu lösen.<br />
<br />
Wir waren damals alle ganz kirre. Uns fehlte eine Religion, ein Glaube, ein Versprechen. Die Ideologien hatten ausgedient. Der Sozialismus war unverstanden und kahl an fremder Unfähigkeit gestorben. An den Kapitalismus glaubten nicht einmal mehr die, die von ihm profitierten. Selbst fundamentalistische Christen und Muslime hatten schließlich erkannt, dass man Gott nicht essen kann und flüchteten sich wie wir alle in virtuelle Welten, ausgestattet mit unechtem Geld und Freunden, die man nicht persönlich kannte. Während wir einerseits vor dem Kasten saßen und in ihn hinein starrten, saßen wir andererseits gerne in einem Kasten, um hinaus zu schauen und die Welt drive by shooting zu erfassen. Dies lag an den grundlegenden, doch indifferenten, ja geradezu schizophrenen Bedürfnis der Menschen, einerseits die Gesellschaft und andererseits die Einsamkeit zu suchen. Dieses inkoheränte Verhalten verunsicherte jedoch die Staatsgebilde, die zunehmend gasförmige Aggregatzustände angenommen hatten, sehr. Sie bildeten gerade Konglomerate mit den zehn mächtigsten Wirtschaftsunternehmen der Welt. Die letzten demokratische Staaten gaben dafür das passive Wahlrecht auf. Ihre Regierungen bildeten sich auf Grundlage der Umsätze. Lotterieausschüttungen an die Regierungsmitglieder ersetzten die Diäten. Warum auch nicht?<br />
<br />
Wir, die Konsumenten, waren kaum mehr zu kontrollieren. Die virtuelle Gemeinschaft machte uns aggressiv und steigerte unsere unbenannte Wut, die wir schließlich im Straßenverkehr loszuwerden suchten, nur um hinterher Online damit zu prahlen. Die kapitaldemokratischen Konglomerate dachten derweil angestrengt nach, wie sie eine neue Ordnung mit gewaltigem Kommerz verbinden konnten. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis man darauf kam, jedem Neugeborene automatisch einen Account bei einem sozialen Netzwerk anzulegen, unkündbar und lebenslang. Dies revolutionierte die Staatsreligionen und Nachrichtendienste auf eine gewaltige Weise. Hallelujah. Wir hatten nun einen weiteren, menschgeschaffene Gott und dachten, wir hätten alles unter Kontrolle. Denn anders als dieses metaphysische Wesen aus der Vergangenheit war die virtuelle Welt doch erklärbar durch Algorithmen und Bits und Bytes. Den Rest erledigte die Psychologie des Marktes, und so starrten wir erneut gemeinschaftsselig in die Monitore, bis unsere Augen schmerzten vor lauter Netzwerk. Der Markt, der unsere Bedürfnisse erkannte und nur unser Wohlergehen im Auge hatte, schuf Abhilfe, indem er zuerst die Endgeräte an unsere Körper via Bauchnabelport (oder BioPort) koppelte und nur wenige Monate später die Gerätechips direkt implantierte. Diese Befreiung von all den Geräten ließ uns selig nach innen lächeln.<br />
<br />
Wir wählten nun in Gedanken unsere Freunde an, sprachen mit ihnen oder ihren virtuellen Stellvertretern. Wenn wir Hunger hatten, nahm ein Supermarktversandcenter unserer Wahl (Werkseinstellung) unsere Bestellung auf und lieferte Lebensmittel an unseren per GPS bestimmten Aufenthaltsort. Wir sahen Kunst oder eine glitschige Bananenschale, vielleicht einen kotenden Köter, und die Welt hatte Anteil an unserem Erleben. Wir wurden geliked und bewertet und für gut befunden, und wir wussten alles über unsere Freunde. Freunde, die wir mochten, hatten wiederum andere Freunde, die sie mochten und die wir zu den unsrigen machen konnten. Wurden wir einmal aggressiv, schaltete sich schon in der Eskalationsphase 1 ein virtueller Aggrobot ein und ebnete unsere Gefühlsregungen ein. Derweil rosteten unsere Autos in den Garagen vor sich hin. Wir hatten sie einfach vergessen, schlicht nicht mehr gebraucht, um unser Gefühlsleben zu regulieren. Wir hassten und liebten uns im Netz. Und so erlebten wir das totale Gemeinschaftsgefühl, die ständige Erreichbarkeit und die absolute, physische Friedfertigkeit. <br />
<br />
Es war furchtbar. Viele Menschen fühlten eine große Leere in der Bauchnabelgegend. Nach und nach ließen wir uns die Chips also wieder entfernen und glaubten damit uns selbst wieder nahe zu kommen. Wir hatten uns natürlich getäuscht. Denn wir hatten längst vergessen, wer wir waren ohne unsere Profile und ohne profilschärfende Applikation. Es war ein einziges Chaos. Die Menschen waren mitteilungsbedürftig wie eh und je, nur dass sie nun jeden Anlass zu uferlosem Offline-Geplapper nutzten, völlig wahllos und ohne zu ahnen, ob sie nun geliked werden oder nicht. Auch hier separierten sich allmählich einige Konsumenten und verbaten sich jede öffentliche Ansprache. Dies schuf große Unzufriedenheiten und zunehmende Aggressivität im Umgang untereinander. Verbal grob angegangene Menschen reagierten sich physisch ab, und die völlig überforderte, nur virtuell geschulte Polizei konnte sich der endlosen Quasselei einerseits und den heftigen Hieben andererseits kaum erwehren. Das Staatsgebilde schien allmählich zusammenzubrechen, dieses Mal endgültig. Bald hatten wir alle jedes Bedürfnis nach Gemeinschaft verloren. Wir stürmten in unsere Garagen und setzten uns ans Steuer, starteten die Motoren und ließen unserer Verzweiflung freien Lauf. Bald merkten wir: Nicht das Internet mit seinen Verlockungen und Gerätschaften war unser Gott. Wir selbst waren die Götter, und wir brauchten ein Gefährt, das uns Macht verleiht über die Leben anderer. Wir waren Milliarden einzelner Götter, die eifersüchtig über ihre Schöpfung wachten, in steter Konkurrenz zueinander standen und nur durch Götterhand sterben konnten. Dies war unsere neue Religion. <br />
<br />
Wir waren tobende Götter. Unser Donner war Motorenlärm, die Hupe eine Drohgebärde für die devote Menschheit, unser Schleuderblitz die Stoßstange. Unsere Geschwindigkeit demonstrierte die uns innewohnende Macht, der Asphalt der Straße war unser Olymp. Aus Tankstellen wurden Tempel, aus Zapfsäulen Altäre, aus Automobilfabriken elysische Felder. Die kapitaldemokratischen Konglomerate huldigten uns und brachten ihr Opfer in Form von honiggelbem, brenzlig riechendem Ambrosia aus biologischem Anbau. Nachdem sie erkannten, wie sie uns am besten dienen konnten, schufen sie Tempel auf Tempel, um unseren Hunger zu stillen und uns gleichzeitig ihrem Willen gefügig zu machen. Sie erinnerten sich an den Segen der BioPorts und erschufen dann neue Himmelsgefährte, die sich mit unseren göttlichen Körpern symbiotisch verbinden konnten und nur durch unsere überheblichen Geister steuerbar waren. Fortan bildeten wir eine Einheit. Wir fühlten Freude und Schmerz mit dem Fahrzeug, und dessen Hunger war unser Hunger. Schon bald verließen wir unsere Himmelsgefährte nicht mehr und verbrachten die Tage und Nächte in ihnen. Wir vernetzten uns und liebten uns darinnen, wir aßen dort und arbeiteten, verrichteten unsere Notdurft in ihnen und ließen uns in den zahlreichen Tempeln warten und huldigen. Als völlige Individuen suchten wir die Gemeinschaft mit anderen in endlosen Verkehrsstaus. Wir erließen Dekrete, die niemanden interessierte und machten anstößige Gesten, die niemand sah oder verstand. Wir waren Götter und Sklaven zugleich, hochgetuned zur völligen Symbiose mit unseren Automobilen. Wie Gänse wurden wir von den Hohepriestern der Konglomerate vollgestopft, die stetig unsere Lebern befühlten und mit sicherem Lächeln für gut befanden, während sie uns nach und nach die Flügel stutzten.<br />
<br />
Doch das große Schlachten und Ausweiden der Götter blieb aus. Denn die Schöpfer unserer Himmelsgefährte hatten nicht bedacht, dass wir biomechanische Wesen waren, deren biologischer Teil eine Krankheit nicht autark durchsteht, sondern den mechanischen Teil infiziert. Da schlackt dem Himmelsgefährt das Ambrosia in den Eingeweiden, die Bordelektronik verschnupft zu zähem Schnodder, der Lack zerbröselt filigran zu schmieriger Asche und Gummi klumpt zu klammer Lava. So reichte letztendlich eine einzige Erkältung, um sämtliche, überdies miteinander vernetzten Götterwagen innerhalb kürzester Zeit lahm zu legen und irreparabel am Straßenrand verenden zu lassen. Wir zu Menschen zurechtgeschrumpften Götter zogen die Stecker erst nach Tagen aus unseren Bauchnabeln und krochen belämmert aus den Wägen, um die Wonnen einer guten Hühnersuppe schätzen zu lernen. Sattsam geruht und geheilt von ärgerlichem Schnupfen und Größenwahn, schlenderten wir entschleunigt durch die Straßen. Wir bauten dem vor sich hin lotternden Schrott am Wegesrand die nun obsoleten Ports aus und platzierten sie fachgerecht als Zigarettenanzünder in unsere Körper. Dies als Erinnerung, als Mahnung an vergangene Narreteien, letztendlich aber doch dazu angetan, uns eine Filterzigarette an unserem Nabel anzünden zu können. <br />
<br />
Dann wandelten wir schwerfällig schmauchend über die unbefahrenen Straßen. Unsere fetten, gallertartigen Leiber blubberten ziellos umher, während die Natur allmählich unsere durch Straßen domestizierte und mit Verkehrszeichen gestrählte Welt zurückeroberte. Gras brach den Asphalt auf, wo er am brüchigsten war, Kletterpflanzen rankten in die Höhe und stachen den Ampeln mit schwerfälligem Geäst die Augen aus und fällten tranige Stoppschilder im Akkord. Die verdorrten KFZ- Leichen an den Straßenrändern waren schnell überwuchert und wurden so zu blühenden, korallenriffgleichen Herbergen florierenden Lebens. Dort, wo sich die Natur bereits im fortgeschrittenen Maße erholt hatte, wuchsen zuerst Blumen, dann Dornen und später auch Bäume. Wir erkannten all dies mit Wohlgefallen unter dem Schutz unserer Sonnenbrillen. Es dauerte nicht lange, bis die Fauna nachzog mit ihrem quirligen und doch so bierernsten Gewese. Da nahmen wir uns ein Beispiel und passten uns an. Im brüllenden Urwald unserer Städte nahmen wir die Arbeit wieder auf. Die Produktion lief langsam, doch hatten wir keine Eile: Wir mussten nicht mehr wachsen und kriechen wie zu früheren Zeiten. Erstmals waren wir befreite Wesen, unsere Knechtschaft schien gebrochen. <br />
<br />
Eines aber sollte man niemals unterschätzen: Der unendliche Erfindungsreichtum der Menschen lässt uns eine Abhängigkeit durch die andere ersetzen. Und wie immer ist es das Undurchdachte, das Imperfekte, was uns von einer Innovation zur nächsten treiben lässt und uns in die Unmündigkeit treibt. Gestern haben wir entschleunigt geraucht, vorgestern waren wir Götter mit Rädern untendran. Heute fahren wir mit dem Zug. Was bleibt uns anderes übrig, als uns auch in diese Daseinsform zu verlieben? Und so schaue ich die Welt an mir vorüberziehen, gleich als sei ich der Fixpunkt in diesem Universum. Ein Gott, der dem Zugbegleiter mittels Netzhautscan die Gültigkeit seines Fahrausweises nachweist und via sicherheitszertifizierten, datentransferierenden Augenklick einen Serviceaufschlag berappt. Dann endlich eine Ansage: „Plamsiger Halt in Rot am 23.5.2045 gegen 17:25 Uhr, mit 70,3 Stunden Verspätung. Wir von der Bahn-Conglom AG wünschen viel Freude an der Fahrt gehabt zu haben und hoffen auf ein baldiges Wiedersehen. Als kleine Aufmerksamkeit bekommen Sie an unserem Infopoint einen Gutschein für einen halbe Tasse Kaffee (Milch und Zucker nur mit Aufpreis). Vielen Dank!“ Den Kaffee lasse ich mir direkt in die Netzhaut einscannen, darauf können Sie Gift nehmen.<br />
<blockquote class="tr_bq">
<span style="font-size: x-small;">Anmerkung: Dieser Text sollte eigentlich ein Beitrag zum <a href="http://www.autofrei.de/aktuelles/schreibwettbewerb" target="_blank">Schreibwettbewerb</a> von <i>autofrei leben! </i>sein. Leider erfüllt er in keiner Hinsicht die Kriterien: Er zeigt keine positive Vorstellung von einem Leben ohne Auto, ist zudem in einer nicht nachzuvollziehenden Zukunft angesiedelt und außerdem etwas zu lang. Er geht wohl auch ein wenig am Thema vorbei. Deshalb habe ich ihn in einem Anfall von Selbstzensur erst gar nicht eingereicht. Wesentlich ist: Einen Rucksack aus LKW- Plane (Sachpreis) kann ich mir selber nähen, und Gesinnungsprosa fertige ich nur gegen gutes Geld an.</span></blockquote>
holz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-6163341384230902916.post-26227559858198867262012-08-26T05:36:00.000-07:002012-08-26T06:09:32.047-07:00Haare<style type="text/css">
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<br />
Bender erschrak. Gerade hatte er sich
die Bilder der Konfirmation seiner Tochter angeschaut, als er
sich auf einem Bild inmitten der Gäste erkannte. Das heißt, zuerst
erkannte er sich nicht. Schließlich war die Person von hinten
fotographiert, umgeben von Kolleginnen und Kollegen, was Bender
erstaunt hatte. Wer mochte die Person mit der lichten Stelle am
Hinterkopf wohl sein, die sich da angeregt mit Frau Griese von der
Personalverwaltung unterhält? Erst Benders Frau konnte für
Aufklärung sorgen: Hennek, das bist doch Du!
<br />
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<br /></div>
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Es überraschte Bender nicht sehr, dass
er sich selbst von hinten fotografiert nicht erkannt hatte. Das würde
wahrscheinlich jedem passieren, insofern man wie er eine unauffällige
Frisur sowie ausschließlich neutrale Kleidung trägt. Auch hatte er
sich nie besonders mit seiner Statur beschäftigt. Er war eben nicht
besonders groß und leicht untersetzt. Wie viele Männer in seinem
Alter war Bender vollkommen unauffällig. Das machte ihn
verwechselbar. Irritiert hat ihn vor allem die lichte Stelle am
Hinterkopf. Die war ihm selbst an sich selbst nie aufgefallen. Das
teilte er Marie abends im Bett mit.</div>
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<br /></div>
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Es ist ja nicht so, dass ich eine
Glatze besonders schlimm fände, begann er seinen Monolog. Marie
schmunzelte verächtlich. Eine Glatze, dafür kann man ja nichts. Es
passiert vielen, dass ihnen ab einem gewissen Alter die Haare
ausfallen. Ich aber habe davon gar nichts bemerkt. Normalerweise
merkt man es doch beim Duschen, wenn die Haare ausfallen. Oder
spätestens beim Kämmen, und wenn dann nicht, dann bleiben sie
vielleicht am Kragen oder auf der Schulter hängen. Am Jackett oder
sonstwo. Marie gähnte.
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<br /></div>
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Bender hob erneut an: Nun, man schaut
sich ja auch selten von hinten an. Neulich, in der Anprobe, habe ich
einen jungen Mann gesehen, der nachgeschaut hat, ob die Hosen am
Hintern gut sitzen. Ich fand das gewöhnungsbedürftig, soviel
Eitelkeit. Aber auch er hat sich nur auf den Hintern geglotzt, nicht
auf den Hinterkopf. Inwiefern ist also ein Mann in der Lage, bei sich
selbst Haarausfall am Hinterkopf zu diagnostizieren? Er schubbste
Marie leicht mit dem Ellbogen an, die daraufhin erwachte, sich
pflichtschuldigst aufsetzte und benommen fragte: Waa-as? Ich habe
Dich gefragt, inwiefern ein Mann in der Lage ist, bei sich selbst
Haarausfall am Hinterkopf zu entdecken, wiederholte Bender.
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<br /></div>
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Och Hennek, ich bin müde. Lass mich
schlafen! Doch Bender gab nicht auf. Ich sage Dir, wie ein Mann
seinen beginnenden Haarausfall entdecken könnte: Seine direkte
Umgebung zum Beispiel könnte ihn darauf hinweisen. Sie könnte
sagen: Schau, Hennek, da hinten an Deinem Kopf ist eine kahle Stelle,
das sieht doof aus, mach was dagegen. Es könnten Freunde sein, die
mir das sagen. Es könnte mit großer Wahrscheinlichkeit mein Friseur
sein. Aber wenn die alle nichts sagen, dann müsste mich wenigstens
meine Frau über den Zustand meiner Haarpracht informieren. Und
dann?, wollte die gelangweilte Marie wissen. Was hättest Du mit
dieser Information angefangen?
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<br /></div>
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Ich hätte mir womöglich die Haare
ganz kurz geschnitten. Auf keinen Fall hätte ich probiert, die kahle
Stelle mit anderem Haar zu verwurschteln. Ich wäre ehrlich mit
meinem Haarausfall umgegangen. Aber so sehe ich doch völlig
lächerlich aus. Mein Kopf sieht von hinten aus, als hätte man ihn
geplättet. Wie eine Flunder. Wie ein abgenutzter Flokati. Mit so
einem Hinterkopf macht man sich überall lächerlich. Der Chef schaut
einen an und sagt: Sieh an, der Bender, ein patenter Kerl eigentlich.
Aber jetzt tut er so als habe er keine Glatze. Das zeugt nicht von
Haltung. Den kann ich nicht befördern. Oder die Kollegen: Die machen
sich womöglich über mich lustig, wenn ich den Raum verlasse.
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<br /></div>
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Im Nachhinein wurde Bender vieles klar.
Er fühlte sich tatsächlich bei der letzten Beförderung übergangen.
Hinzu kam: Neuerdings waren die Kollegen immer so seltsam gut
gelaunt, sie lachten viel und verstummten dann, wenn er den Raum
betrat. Nachdem er wieder ging, setzten sie ihre Gespräche oft
gutgelaunt fort. Klopfte ihm nicht der kahlrasierte Müller einmal
sogar gönnerhaft auf die Schulter? Gab es vielleicht ein Komplott
gegen ihn? Und war sein Friseur zu Anfang der letzten Sitzungen nicht
gesprächig wie immer, wurde aber dann plötzlich still und
konzentriert, sobald er sich um Benders Hinterkopf kümmerte? Und
schließlich seine Frau, Marie: Sie schliefen kaum noch miteinander.
Ekelte sie sich vielleicht vor seiner Glatze? Vermutete sie, dass mit
dem allmählichen Verlust der Haarpracht auch die Manneskraft
abhanden käme, wie weiland Samson?
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<br /></div>
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Am meisten verärgert war Bender über
die Tatsache, dass ihn niemand auf sein Malheur hingewiesen hatte.
Als zögen alle einen Vorteil daraus, solange er nur in Unkenntnis
darüber bliebe. Als schöpften sie Kraft aus dem Verlust seiner
Haare. Genau so musste es gewesen sein. Da half auch nicht, dass
Marie beteuerte, sie habe gedacht, er wüsste bescheid über den
Zustand seines Hinterkopfes. Sie habe das Thema nur aus Rücksicht
auf ihn nicht angesprochen, schließlich wolle sie ihn nicht
verletzen. Daher habe sie so getan, als sei nichts gewesen. Und das
mit seinen Kollegen, bitteschön: Das bilde er sich ein und zeige
nur, wie recht sie hatte bezüglich seiner Empfindlichkeit.
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<br /></div>
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Bender verließ das eheliche Bett im
Streit, zog sich an und machte sich auf den Weg in die nächstbeste
Bar. Zuerst steuerte er in die Kneipe um die Ecke, fand aber die
desolaten Gestalten an der Theke nicht anziehend. Deshalb vermaß er
den Kiez, in dem er seit 15 Jahren lebte und niemals ausging, neu.
Zum ersten Mal sah er, was sich dort überhaupt ereignete. In die
ehedem karge, graue Schlafstadt war allmählich eine Lebendigkeit
eingekehrt, die ihm zuvor entgangen war. Wollten ihn alte Freunde in
Berlin einmal besuchen, um dort etwas zu erleben, wiegelte er oft ab:
In seinem Kiez sei absolute tote Hose, da gäbe es gar nichts, und
sie sollten sich lieber ein Gästezimmer in einem der Szenekieze
nehmen. Bender hatte sie allesamt versehentlich angelogen: Er lebte
längst in einem Szenekiez. Es war ihm nur bei all der Arbeit und dem
Familienleben nicht aufgefallen.
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<br /></div>
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Da war sein Spätkauf, in dem er
allmorgentlich seinen Coffee to go holte, bevor er dann im Innern der
U-Bahn verschwand und erst nach 20 Minuten wieder aus dem Boden
auftauchte. Dort verbrachte er den Tag mit Verwaltungstätigkeiten.
Dann verschwand er unter der Erde, tauchte wieder auf und holte sich
am selben Spätkauf eine Zeitung, bevor er sich nach Hause begab. Um
dort zuerst die Zeitung zu lesen und beiläufig Stefan, seinem
ältesten Sohn, und Melanie, seiner konfirmierten Tochter, zuzunicken
und ihnen ggf. etwas zuzugrummeln. Dann kochte Marie was, und alle
aßen still, während der Fernsehapparat das Esszimmer erleuchtete.
Wochenends gab es anfangs noch Ausflüge. Doch wegen des jugendlichen
Desinteresses an allem seitens der Kinder unterließ man später auch
das und war froh, wenn sie lange (jedoch nicht zu lange) aus dem Haus
gingen und man seine Ruhe hatte.</div>
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<br /></div>
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Kurz: Benders geregeltes Leben gab es
nicht her, abends um die Häuser zu ziehen und mit Freunden die
Neuerungen innerhalb des eigenen Kiezes zu bestaunen. Zumal sich die
Freundschaften auf den Kollegenkreis beschränkten und bei genauerer
Betrachtung auch das keine richtigen Freundschaften waren, sondern
eher vielleicht Bekanntschaften? Menschen eben, die man zu
Konfirmationen einlud und mit denen man sich mehr oder minder
freiwillig ins Restaurant verabredete. Und nun wagte sich Bender zum
ersten Mal seit Jahren über die selbst gesetzten Grenzen seines
Kiezes hinweg und spürte das pulsierende Leben und das Flimmern der
Jugend. Wie muss es Alice gegangen sein, als sie der elterlichen
Strenge durch den Spiegel floh.
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Bar an Bar säumte die Straße. Bender
neidete das vorwiegend junge Publikum, das dort eng beisammen saß
oder flanierte, oft ineinander gehakt und laut lachend, mit
alkoholischen Getränken in der Hand, die selbstbewusst an- und
dann mit ausladenden Gesten wieder abgesetzt wurden. Dieser Elan
begeisterte ihn. Diese jungen Menschen hatten noch keine
Vorstellung von der Ernsthaftigkeit des Lebens. Leid und Kummer
kannten sie kaum, und falls doch, war die Halbwertszeit nur kurz. Sie
prahlten und protzten mit ihrer kaum erwachten Sexualität und ihren
unerforschten Körpern, frei von allen Makeln des Alters und der
Vergänglichkeit.
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Bender schaute an sich herunter und
fühlte sich unendlich alt. Gleichsam wähnte er sich betrogen und
beraubt seiner eigenen Jugend, die er plötzlich für
verplempert hielt. Verplempert mit Gedanken an den Beruf und die
Familie, vergeudet mit der Tristesse des Alltags. Schlafen, Arbeiten,
Essen. Der Rhythmus eines Biedermannes. Und während all dieser Zeit
verliert er unbemerkt seine Haare, und was noch schlimmer ist: Die
eigene Frau verliert das Interesse an ihm. Und wie ist es hier, in
dieser atmenden, schwitzenden Welt der Jugend? Freilich, auch die
jungen Leute sind vorwiegend an sich selbst interessiert. Doch
brauchen sie stets einander, um sich selbst erkennen zu können. Die
Altersgenossen sind der Spiegel, und das macht sie zu echten,
interessierten und mitteilsamen Freunden. Wie er seine eigenen Kinder
doch um ihre Jugend beneidete, und wie sehr er verstehen konnte, dass
sie die familiäre Enge nicht oft genug verlassen konnten.</div>
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Und da stand Bender nun inmitten des
Chaos und des Lärms und war fassungslos bis glücklich. Es machte
ihm nichts aus, wenn er hie und da einmal angerempelt wurde, er
wollte nur dieses Flair einatmen und ein Teil des Ganzen werden. He,
Opa, aus dem Weg! Was iss'n mit Dir? Bender schaute irritiert auf. Er
blickte auf ein hübsches Mädchen, vielleicht Anfang zwanzig, bei
ihr vier nicht minder hübsche Begleiterinnen. Willste 'n Schluck?
Bender nickte und setzte die Flasche an. Klebrigsüßes mit einem
Schuss Alkohol rann ihm die Kehle herunter. Er wischte sich den Mund
und gab die Flasche zurück. Was ist das?, wollte er wissen. Wodka
RedBull, mit Zeug drin!, lachte das Mädchen und ging weiter. Mach's
gut, Opa! Und pass' auf Dich auf!, rief ein anderes. Alle fünf
lachten lauthals.</div>
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Bender ging kopfschüttelnd, aber
erheitert, weiter. Er hatte sich dazu entschieden, sich in einer der
stilvolleren Bars zu betrinken. Er war einigermaßen überrascht, wie
sehr ihn der Schluck aus der Flasche betrunken gemacht hat. Nur
wenige Minuten später kam der erste Schwindel, und er begann die
Umgebung allmählich in seltsamen Farben zu betrachten und hatte auch
den leisen Verdacht, Dinge zu sehen, die es im Grunde gar nicht gab.
Höllisches Zeug, dachte er und wollte mehr davon. Als er endlich
eine angenehme und doch belebte Bar fand, kehrte er ein. Es hatte ich
eigentlich nicht viel geändert seit damals, als er nach Berlin kam.
Immer noch spielten Lichtprojektionen eine große Rolle, und die
Musik hatte sich in den letzten zwanzig Jahren nicht wesentlich
geändert. Die Einrichtung war immer noch improvisiert, cordbezogene
Cocktailsessel standen nebst Plastikstühlen und abgeranzten
Nierentischchen. Selbst das Personal gab sich ähnlich
desinteressiert wie damals.</div>
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Er bestellte einen Wodka RedBull und
wunderte sich, wie wenig dieser Drink dem vorangegangenen in der
Wirkung ähnelte. Möglicherweise war die Mischung zu schwach. Also
bat er der Barkeeper, doch etwas mehr Zeug in den Drink zu mischen.
Ey Alter, was hast'n Du für'n Problem. Was für Zeug? Bender gab
sich hartnäckig: Na Zeug eben. Wenn Du's nicht weißt, woher soll
ich's dann wissen? Der Barkeeper grummelte etwas in den Lärm hinein:
Wenn du meinst. Macht aber 20 Euro extra! Bender nickte, und da legte
der Barkeeper ein Tütchen mit einer Pille darinnen auf die Theke,
hieb mit einem Hammer darauf ein und überreichte es Bender mit den
Worten: Wohl bekomm's! Bender zahlte und rührte die pulverisierte
Masse in seinen Drink.</div>
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Er fühlte sich herrlich. Bender saß
in einem bequemen Sessel und betrachtete selig grinsend das Treiben
um sich herum. Die Bässe wummerten angenehm in der Magengegend, und
die hübschen Gesichter der Mädchen wärmten sein Herz. Es war ihm
nicht unangenehm, dass er ganz offensichtlich als Kuriosum
wahrgenommen wurden. Besser, ein Dirty Ol' Man als niemand zu sein,
dachte er zufrieden. Unter seinesgleichen war Bender unauffällig und
farblos. Hier unter den Jungen, Bunten und Schrillen war er ein Exot.
Nur manchmal schienen ihm die Farben etwas zu schrilll, und die
Gesichter der Mädchen verzerrten sich ab und an zu Fratzen. Aber
dann verwandelten sie sich zu Vögeln, die meisten in Fasane und
Paradiesvögel, andere in Krähen und nur wenige in Puten. Das war
lustig und auch ein wenig beängstigend.
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Bender verspürte plötzlichen
Harndrang. Da begab er sich zur Toilette und stellte sich an ein
Pissoir. Mit einer Hand musste er sich an der Wand festhalten,
während er mit der anderen versuchte, den Reißverschluss zu öffnen.
Es gelang. Als sich jedoch ein junger Mann zu ihm stellte und sein
Ding aus der Hose holte, da war das kein Penis, sondern ein winzig
kleiner Hund, der ihn mit einem großen Auge anstarrte und ankläffte.
Bender zog sich erschrocken zurück und suchte panisch Zuflucht in
einer freien Kabine. Er schloss ab, drehte sich um und hob die
Klobrille an. Er entleerte sich, während er angestrengt versuchte,
das Gleichgewicht zu halten. Alles drehte sich, als er seinem Urin
hinterher sah. Dann wurde es Nacht um Bender.
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<br /></div>
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Als er wieder erwachte, fand er sich
völlig verkrümmt am Boden liegend, wieder. Ein Fuß schaute zur
Kabinentür heraus, sein Kopf lag schräg und eingeknickt an der
gekachelten Wand. Der Unterkiefer hing im rechten Winkel zum Boden,
er sabberte aus dem linken Mundwinkel. Eine Hand hing in der
Schüssel, die andere lag unter seinem Körper in etwas Feuchtem.
Benders Penis hing schlaff aus der Hose. Um ihn herum hatte sich ein
großer, nasser Fleck gebildet. Alles tat ihm weh. Er richtete sich
langsam auf, indem er sich an allem abstützte, was in greifbarer
Nähe war. Dann säuberte er sich notdürftig mit Toilettenpapier,
verstauten seinen Penis in der Hose, zog den Reißverschluss zu und
verließ so souverän wie möglich die Kabine.</div>
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<br /></div>
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Bender begab sich zum Waschbecken und
wusch sich die Hände. Um sich zu erfrischen, benetzte er sein
Gesicht mit Wasser. Da bemerkte er, dass er großen Durst hatte. Er
war völlig augetrocknet. Daher trank er ein paar kräftige Schlucke
aus der Leitung. Der Durst wurde jedoch nicht besser. Erst nach
mehrmaligem Trinken stellte er fest, dass das trockene, raue Gefühl in
seinem Rachen nicht vom Durst stammt. Irgendetwas hing in seinem
Schlund und behinderte ihn beim Schlucken. Bender griff mit den
Fingern in die Mundhöhle und versuchte den Gegenstand zu greifen.
Nach einigen Fehlversuchen wurde ihm klar, dass ihm ein Haar halb in
der Speiseröhre, halb im Mundinnenraum steckte. Er versuchte es
erneut. Und dieses Mal gelang es ihm endlich, das glitschige Haar zu
ergreifen.
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<br /></div>
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Bender hatte Angst, dass es reißt,
bevor er es völlig entfernt hatte. Er zog deshalb sehr sachte daran
und spürte endlich, wie sich tief in der Speiseröhre etwas wie ein
Faden spannte und langsam nach oben glitt. Also zog Bender weiter und
weiter. Das Haar ragte schon so weit aus seinem Mund heraus, dass er
nachfassen musste. Es schien kein Ende zu nehmen. Dann, nach einigen
Dezimetern, verstärkte sich das Gefühl im Rachen, und am
ursprünglichen Haar hingen weitere Haare, verknotet ineinander und
verwoben miteinander. Bender zog mittlerweile panisch weiter und
weiter. Seine Eingeweide schienen wie betäubt von der schabenden
Bewegung, die er in Gang gesetzt hatte. Meter für Meter zog er den
stinkenden, mit Talg versetzten und allmählich dicker werdenden Zopf
aus seinem Schlund.</div>
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HEK 2012</div>
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holz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-6163341384230902916.post-63710022354736108962012-03-25T10:00:00.000-07:002012-03-25T10:00:19.251-07:00FreundeMein Vater war wütend. Er war schon immer jähzornig, was im Nachhinein betrachtet vielleicht ein Ausdruck unerfüllter Sehnsüchte gewesen sein mochte. Er war ein hart arbeitender Mann, gesegnet oder geschlagen mit drei Kindern und einer Ehefrau, und er hatte es nun endlich zu einer eigenen Baufirma gebracht. Freilich unter größten Einsätzen und persönlichen, finanziellen Risiken. <br />
Endlich war etwas Geld in der Familienkasse, und wir erlaubten uns ausgedehntere und üppigere Urlaube. Auch die Autos wurden teurer. Doch es blieben die alten Freundschaften, die alten Verbindlichkeiten. Sie warfen meinen Vater immer wieder zurück auf seine Herkunft: Das halb gebildete Arbeitermilieu und eine gewisse Kleingeistigkeit, die stets den Nutzen der Dinge sah, aber nie deren Schönheit. Diese wurde stets zuerst geopfert, bis am Ende nur die Tristheit eines möglichen finanziellen Gewinns blieb, der ebenso kleingeistig investiert wurde wie zuvor. <br />
Mein Vater wollte aus seiner Haut heraus. Doch die wies sich als äußerst dick aus, und nur seine ungeduldige Schroffheit und der im Magen aufgestaute Ärger schafften es an die Oberfläche zu dringen wie Schweiß bei einer kräftezehrenden Tätigkeit. <br />
Gerade ihm, der allen, die ebenfalls den Grenzen ihrer von Geburt gegebenen Voraussetzungen zu entfliehen suchten, unterstellte, ihnen sei ihr Leben nicht gut genug, weshalb sie ihre Angehörigen dumm zurück ließen, ihm also reichte sein Leben nicht. Er hatte Träume, hielt diese aber gerade so gut in sich verborgen, dass er sich selber nicht deswegen anklagen konnte. Er wollte Teil und Nutznießer einer Schickeria sein, er wollte Geschäftsmann sein und das niedere Leben des Arbeiters hinter sich lassen. Die Wirtschaft prosperierte und er wollte sein Stück vom großen Kuchen.<br />
Da war es gerade recht, dass wir neue Nachbarn bekamen. Sie bezogen das Haus meines Onkels, dessen Frau es ins Dorf zu einer Infrastruktur gepflasterter Straßen und sozialen Kontakten trieb. Sie kauften das perfekte Wochenendhaus: Es lag in einem dünn besiedelten Teil der Ortschaft, insgesamt standen dort großzügig verteilt sechs Häuser, wovon nur eines ständig bewohnt war: Das Haus meiner Eltern, direkt nebenan. <br />
Die neuen Nachbarn waren gerade reich geworden. Sie verstanden es, Feste zu feiern und übten damit auch einen gewissen Einfluss aus. Die Feste waren schweinisch, dekadent, ausgelassen. Sie waren laut und ordinär. Man sah den neuen Nachbarn das Geld an. Nicht in der zurückhaltenden, geistvoll wirkenden Art des gebildeten Geldadels. Sie stellten mehr einen billigen Abklatsch davon dar, wie ihn nur Emporkömmlinge hinbekommen. Sie lebten das Ideal einer spätrömischen Dekadenz, völlig stillos und mehr den Bedürfnissen des Plebs verhaftet als denen der Patrizier: protzige Autos, protziger Goldschmuck und geschmacklose, aber teure Möbel.<br />
Meinem Vater gefiel das. Er hatte ja keine Vorstellung von Stil und Noblesse, und womöglich wären ihm "gelackte" Nachbarn viel zu stilvoll und nobel gewesen. So aber wähnte er sich unter Seinesgleichen, und man konnte sich vorstellen, wie ihm das Maul angesichts der ordinär dampfenden Weiber und den besoffen schwitzenden Männern offenstand, als er zum ersten Mal zu einer Party geladen wurde. <br />
Er sah wahrscheinlich zukünftige Kumpel und Liebschaften, und außerdem auch Geschäftskontakte vor seinem geistigen Auge. All das schien ihm ein Sprungbrett in eine noch bessere Zukunft zu sein. Er war ja längst noch nicht oben angekommen. Noch hätte er auch einfach nur der Gärtner sein können, der versehentlich auf einer Party landete, wo ihn die Gesellschaft belustigt beäugte wie einen Mr. Chance, ihm jedoch weit weniger Gehör als diesem schenkte. Ein Novize vielleicht auch, dem danach trachtet, dereinst selbst einmal auf andere herabzuschauen. Wer weiß schon wirklich, was er sich erdachte und erträumte? Jetzt hatte er aber einen 9jährigen Sohn zu zähmen, der partout nicht ins Bett wollte, während dort drüben bei den Nachbarn schon die ersten Sektkorken knallten und schrill- ordinäres Gelächter erschallte.<br />
<br />
Ich war natürlich neugierig gewesen. Da hatten einige Herrschaften heute ganz offensichtlich großen Spaß, und ich sollte ins Bett gehen und schlafen. Meine um Jahre älteren Geschwister hatten mittlerweile eigene gesellschaftliche Verpflichtungen, und sie dachten nicht im Traum daran, sich mir als Babysitter anzudienen. Alle hatten Spaß, und ich wollte dabei sein. Das war mehr als gemein. <br />
Die Nachbarn hatten zwei Söhne. Einer war ein paar Jahre jünger als ich, und der andere war zwei Jahre älter. Obwohl ich viel lieber mit ihm gespielt hätte, immerhin hatte er ein kleines, voll funktionstüchtiges Motorrad und vielerlei anderes technisches Spielzeug, verbrachte ich mehr Zeit mit dem Jüngeren. Doch immer, wenn es sich ergab, klettete ich mich an P heran. Da war eine Welt, die sich mir nicht vollständig erschloss, weshalb ich versuchte, ein Teil davon zu werden. P war leicht gönnerhaft und es machte ihm großen Spaß, mich mit seinen neuesten Errungenschaften zu beeindrucken. Er hatte eine große Sammlung von StarWars- Comics und verfügte über eine der ersten Spielekonsolen, die auf dem Markt war. Ich durfte mich gerade so lange damit beschäftigen, bis ich voll darin eingetaucht war. Dann schaltete er die Konsole aus oder verstaute die Comics in einer Schublade. Ich sollte nicht zu gierig werden. <br />
Eines Tages im Sommer klingelte er an unserer Türe und lud mich zu sich ein. Seine Eltern hatten gerade ein Schwimmbassin aufgestellt und mit Wasser aufgefüllt. Ich durfte es mir ansehen und bestaunen. Natürlich schien just in dem Augenblick, in dem ich mir zu Hause eine Badehose holen gegangen war, die Sonne nicht mehr so heiß wie zuvor, weswegen P eine Plane über das Bassin zog und mich auf ein anderes Mal vertröstete. <br />
Was mich nicht davon abhielt, das ein oder andere Mal, wenn die Nachbarn nicht da waren, das Schwimmbassin sehnsüchtig zu bestarren. Das Grundstück war damals noch nicht von unserem abgetrennt, ich konnte es jederzeit betreten. Ich hätte es jedoch nie gewagt, ohne Erlaubnis zu baden. Das schien mir unanständig. Ich stand lediglich da und stellte mir vor, wie es sei, jetzt ein paar Runden zu schwimmen. Der Umstand, dass das Bassin nur einen Durchmesser von ungefähr drei Metern hatte, tat meiner Phantasie keinen Abbruch.<br />
Eines Tages würde ich P erzählen, dass mein bester Freund A ab und an wochentags mit Badehose und Handtuch zum Nachbargrundstück käme und dann ein Bad nähme. Ich weiß nicht, warum ich ihm das erzählte. Es war von hinten bis vorne erlogen. Wahrscheinlich wollte ich mich einfach wichtig tun, gehört werden, während ich dem von mir bewunderten P diese Geschichte auftischte. Und es funktionierte. P regte sich über alle Maßen über A's Unverfrorenheit auf und gelobte, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, sobald er ihm das nächste Mal begegnen würde. <br />
Ich hatte natürlich erwartet, dass P die Geschichte bald vergessen würde. Ich selbst konnte mich schon bald nicht mehr daran erinnern. Andere Dinge passierten tagtäglich und verdrängten diese Anbiederung. Ich war ein sehr nachlässiger Lügner. Das bin ich heute noch, weshalb ich es lieber vermeide, zu lügen. Als A mich etwas später einmal zum Spielen besucht hatte, kam P zu uns herüber und stellte ihn zur Rede. P belehrte A aufgebracht darüber, dass er in seinem Schwimmbassin nichts zu suchen habe. Und falls er es doch noch einmal wagen sollte, sich dort wieder blicken zu lassen, würde er ihn schlicht verprügeln. A wirkte aufgrund seiner Verwirrung äußerst schuldig. Mir wurde plötzlich bewusst, was ich angerichtet hatte und so versuchte ich P davon zu überzeugen, dass ich gelogen habe und dass A niemals dort geschwommen sei. Es half nichts. P gehörte ganz offenbar zu der Sorte Mensch, die nur der Denunziation gerne Glauben schenken, doch der Wahrheit nur sehr ungern. P ließ uns unter Drohungen endlich alleine. Warum hast Du das gemacht?, fragte A und ich wusste keine Antwort. Zu seinem nächsten Geburtstag war ich nicht eingeladen.<br />
<br />
Derweil sich die Firma meines Vaters nicht als besonders solide herausstellte. Er hatte sich teils übernommen, teils gab es Schwierigkeiten mit insolventen Kunden oder nachbarschaftlichen Initiativen, die, nachdem Baugenehmigungen schon erteilt waren, gegen die Vorhaben klagten und die Prozesse gewannen. Kredite wurden gekündigt, Maschinen verkauft, Aufträge blieben aus, Privatvermögen wurden mit Hypotheken bedient und am Ende hat alles nichts mehr geholfen. Die Träume meines Vaters waren so fragil wie nur Träume es sein können. Die neuen Freunde halfen ihm nicht, brauchten ihn auch nicht, und so sah sich mein Vater dabei zu, wie er ihnen die Badezimmer in Schwarzarbeit flieste statt mit ihnen ausgelassen zu feiern. <br />
Mein Vater blieb das, was er immer schon war: ein Arbeiter, der nicht zu Höherem bestimmt ist, dem zwar jede Niedertracht fern liegt, jedoch nicht zur Gänze fremd ist. Dermaßen hingestürzt, blieben denn auch die Einladungen aus. Wer möchte schon seine herrlich ordinären Feste mit einem ordinären Handwerker verbringen? Vor allem, wenn der sich selbst wieder in seinem ureigensten Handwerk erkennt? Mehr Spaß macht doch einer, der nur glaubt, er sei jemand Besseres, während alle anderen bescheid wissen. Weniger Spaß macht allerdings einer, der kommt und sich ganz uncharmant nach ausstehendem Geld für bereits geleistete Dienste erkundigt, wo man doch gerne ausgelassen feiern möchte. In ihrer Gier und Bosheit erkennen die Emporkömmlinge plötzlich doch noch ihren Sinn für Stil und Etikette, schau einer an.<br />
Da frisst sich einer wie mein Vater den ganzen Frust über ein Versagen in sich hinein und ist wieder jähzornig wie eh und je. Verbittert ist er und die Galle tut ihr Übriges. Schulden wachsen ihm über den Kopf, Arbeitslosigkeit mindern sein Selbstwertgefühl. Wer nimmt ihn noch, mit Mitte 50? Es bleibt die Schwarzarbeit. Mit ihr verhindert er die Zwangsversteigerung des Hauses. Meine Mutter geht putzen. Später werde ich von meinem Ausbildungsentgelt Miete im Elternhaus zahlen. Doch bis dahin sind's noch ein paar Jahre. Und noch ein paar Jahre später ziehe ich aus dem Elternhaus aus. <br />
Mauern zwischen den Grundstücken werden nun so hoch gebaut, dass das Elend auf beiden Seiten unsichtbar wird, nicht jedoch unhörbar. Freundschaftliche Kontakte brechen ab. Denn der Nachbar schuldet ebenfalls Geld. In rein pädagogischer Absicht hat dieser nämlich meinen Vater darüber in Kenntnis gesetzt, dass Schwarzgeld nicht einklagbar ist. Da zahlt man der Anschauung halber einfach nicht. Hat er's nun gelernt? Ja, er hat! <br />
Da müssen dann Grenzen gezogen werden. Doch die verhindern nur das Zuschauen. Das Gelächter und Geschrei aus dem Nachbarhaus bleibt, ist plötzlich nicht mehr Verheißung, sondern reines Ärgerniss. Die Polizei wird gerufen, kommt auch, tut aber nichts. Der Lärm bleibt, das Lachen schwillt bedrohlich an. Es hilft alles nicht: Die Party geht weiter, auch ohne meinen Vater. Er begräbt all seine Träume, nachdem sie ihm gestorben sind, und der Grabstein darauf bleibt unbeschriftet. <br />
<br />
Ein Jahr nach meinem Verrat an A, das Geschäft meines Vaters fängt gerade an, sich aufzulösen, treffe ich mich mit meinen Freunden. A hat mir seine Freundschaft nicht dauerhaft aufgekündigt. Echte Freunde tun das nicht. Es ist sehr heiß. Wir fahren mit dem Fahrrad von Ort zu Ort. Außer A sind noch R, der Sohn des Bürgermeisters, und T, ein weiterer Schulfreund, dabei. Wir radeln und wir diskutieren. Was ist eine Fotze? Wie schnell kann man wirklich mit dem Fahrrad fahren? 20 km/h? Mehr? Ich bestehe darauf, dass wir mit unseren Fahrrädern nicht schneller sein können. Ich habe schon damals sehr feste Überzeugungen, die jedoch nicht immer sehr überzeugend scheinen. Wir spielen Fußball auf dem Bolzplatz, bis uns ältere Jungens dort vertreiben. Wir fangen Frösche und lassen sie wieder frei. Wir keuchen und wir schnaufen und ruhen uns dann auf einer Sommerwiese aus. Noch schwitzen wir Kinderschweiß, der unsere erhitzte, flaumigweiche Haut benetzt.<br />
Wir sind Freunde, und dann sind wir es wieder nicht. Wir schließen Bündnisse und lösen sie wieder auf. Wir stehlen gegenseitig unsere Spielsachen, doch unser Gewissen lässt uns diese bei der nächsten Gelegenheit unauffällig wieder zurück an ihren Platz legen. Meistens. Wir geben vor, Dinge zu wissen, die wir noch gar nicht wissen können. Jeder hat selbstverständlich schon mal ein Mädchen geküsst. Keiner hat bis dahin jemals ein Mädchen geküsst. Und obwohl Mädchen jeder von uns total schrecklich fiundet und wir sie deshalb meiden wie wie die Pest, muss ein jeder von sich behaupten, er habe schon Händchen gehalten. Was heißt eigentlich "schwul"? Hat das was mit dem Wetter zu tun? Wenn es schwül ist, dann fühlt man sich so komisch. Fühlt man so auch, wenn man schwul ist? Keiner weiß Genaues, doch jeder weiß, dass der andere völlig falsch liegt. <br />
Wir sind Freunde, und dann sind wir es wieder nicht. Wir probieren aus, wie viel Macht wir übereinander haben. Wir wollen den anderen überlegen sein. Die Kindheit scheint aus vielen kleinen Wettbewerben zu bestehen. Denn der Stärkste darf bestimmen, was wann gemacht wird. Doch pure Kraft alleine schafft keine Freunde. Dafür braucht es Ränke, die darauf warten, geschmiedet zu werden. Der Stärkste ist nicht immer der Klügste. Doch wie können kleine Knirpse zeigen, dass sie stärker und klüger als die anderen sind? Wie können sie den Erwachsenen zeigen, dass sie längst schon sind wie sie?<br />
Die Hitze flimmert und spielt uns optische Streiche. Neben uns der Wald, der Duft von Harz und Moos liegt bittersüß in der Luft. Auf der anderen Seite sprudelt ein kleiner Bach, der uns von den Wiesen trennt. Insekten schweben träge inmitten der Trockenheit und lassen sich auf erstorbenen Blütenblättern und trockenem Dung nieder. Vor uns liegt ein Feldweg, die gelbgrüne Grasnarbe verläuft mitten durch den heißen, trockenen Sand. Unsere Fahrradreifen sinken fast bis zu den Speichen ein. Das macht das Fortkommen schwer. Meine Freunde fahren zu dritt vor mir her und lassen mich nicht neben sich. Ich beschwere mich, doch die drei reagieren nicht. Sie tun so, als wäre ich gar nicht da. Nichtbeachtung ist das Schlimmste, was einem Kind wie mir widerfahren kann. Wenn meine Mutter auf mich böse ist, beachtet sie mich nicht. Nun bleibe ich aus Trotz einfach stehen. Mit dem Bein stütze ich mich ab. Ich versinke leicht mit der Sohle meiner Sandale, der heiße Sand rieselt zwischen meine Zehen. Meine Freunde halten vielleicht 50 Meter vor mir an, wenden ihre Fahrräder und bilden eine Front. <br />
Ich bin bestürzt, wütend, traurig zugleich. Ich verstehe nicht, was ich falsch gemacht habe. Warum sie sich auf einmal gegen mich stellen. Erst sind sie still, schauen nur. Dann beginnen sie, mich zu verhöhnen. Komm doch, Schwuli. Hier kommst Du nicht vorbei!, rufen sie. Ich ahne die Häme in ihren Gesichtern. Häme ist das Zweitschlimmste, was einem Kind wie mir widerfahren kann. Meine Mutter lacht hämisch, wenn ich mich beim Spielen verletzt habe und weine. Weil ich wieder und wieder nicht auf sie gehört habe. Weil sie mir etwas verboten hat und ich es trotzdem tue. Und wenn ich mich dabei verletze: Dann geschieht es mir gerade recht. <br />
Die Zeit scheint einfach stehen geblieben zu sein. Wie ein Schnappschuss steht sie vor mir. Nichts bewegt sich, völliger Stillstand. Ich fühle mich einsam. Ich will nicht einsam sein. Also versuche ich, die Zeit wieder anzuschieben, das Bild in meinem Kopf sachte in Bewegung zu setzen. Es funktioniert. Ein Gedanke formt sich. Die Bestürzung und Traurigkeit weicht allmählich von mir. Bis nur noch Wut übrig ist. Und dann trete ich so fest in die Pedale, wie ich nur kann. Ich fahre direkt auf meine Freunde zu. Zuerst drehen die Reifen im losen Sand durch, doch dann finden sie allmählich Haftung. Ich gewinne endlich an Fahrt, werde schneller und schneller. Erst im letzten Moment, ich bin jetzt nahe an ihnen dran, weicht die Häme aus ihren Gesichtern. Sie schieben ihre Räder panisch zur Seite und bilden einen Korridor. Ich rase dazwischen durch, und fahre dann weiter, immer weiter, ohne zurück zu schauen. Nach den großen Ferien gehe ich zur Realschule. Wir sind Freunde, und dann sind wir es wieder nicht.holz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-6163341384230902916.post-63805652570490457252011-06-01T05:37:00.000-07:002011-06-01T05:56:24.536-07:00Zwischen den Bildern. Realitätsklammern.<b>[Zwischen den Bildern das Nichts] </b>Ich stehe am Strand, die Hände in den Hosentaschen, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Hinter mir bleischwerer Horizont, der Himmel grau wie das Haar einer alten Frau, das Meer schwarz wie flüssiger Teer. Die Enden meines Schals flattern im Wind, meine Beine wirken in meiner weiten Hose wie aufgebläht und zerfasert, wie in einem zu schnellen Tanz. Dagegen wirken meine Füße seltsam am Boden festgenagelt. Ich bin eine Vogelscheuche im Wind, so sehe ich aus. Die Jacke klebt an mir wie ein Fremdkörper, scheint ihr ganz eigenes Leben zu führen, hebt und senkt sich wie in einem epileptischen Anfall. Und jetzt, da, der Moment, in dem mir der Hut fortgeweht wird und ich ihm nur nachblicke. Ich lächle Dir zu, nehme die Hände aus den Taschen und zucke mit den Schultern, dazu eine wegwerfende Geste. Scheiß auf den Hut. Ich komme langsam näher, dann wandert das Bild nach unten, fort von meinem Gesicht über meine flatternde Jacke, weiter hinunter zu etwas Unscharfem, ist das schon meine Hose und dann unverkennbar zwei schwarze Schemen, meine Schuhe. Dann fällt das Bild unscharf ins Nichts. Das muss der Moment sein, in dem ich Dich küsse.<br />
<br />
Ich sehe mir dieses Video am Liebsten an. Im Grunde ist es völlig unspektakulär. Es zeigt genau das Wesen unserer Liebesbeziehung. Ich löse mich allmählich auf, und Du bleibst unsichtbar. Du hast Dir ein Bild von mir gemacht und mich erkannt, während ich Mühe habe, mich an Dein Gesicht zu erinnern. Deswegen vermisse ich Dich so, und deswegen scheinst Du mich nicht zu vermissen. Du weißt, wer ich bin, und ich habe Dich nie völlig begreifen können. Dies ist das Wesen meiner Sehnsucht: Ich bin noch nicht fertig mit Dir. Und was mir am Ende bleibt, sind ein paar Videos, auf denen ausschließlich ich zu sehen bin. Dich scheint es nie gegeben zu haben. Immer nur mich. Ich, zu Hause am Notebook. Ich im Garten auf dem Liegestuhl, lesend. Mit roter Badehose. Ich von der Seite, ein Auto steuernd. Die Landschaft rast an mir vorbei. Ich, am Steuer eines Autos, von der anderen Seite. Auf der Insel war das. Weshalb waren wir dort? Ich kann mich so gut wie nie daran erinnern, warum wir irgendwo waren. Ich erinnere mich nur daran, dass wir dort waren. Du bist weggegangen und hast die Videos dagelassen. <br />
<br />
Ich stehe im Wohnzimmer, beige Hose, weißes Hemd. Ich gestikuliere wild mit den Händen. Im Hintergrund kann man Umzugskisten sehen, die Wände sind seltsam kahl. In einer Ecke liegt ein abmontierter Kronleuchter. Ich wirke unruhig, fassungslos, gehe hin und her und gestikuliere und rede und rede und gestikuliere. Dann ein Schwenk zur Tür, zwei Männer in braunen Arbeitshosen betreten den Raum, das Wohnzimmer gleitet an ihnen vorbei und sie packen die Umzugskisten mit ihren kräftigen Armen, man kann ihre Gesichter nicht erkennen. Ich versperre die Sicht auf ihre Tätigkeit. Ich gestikuliere und rede und gehe weiter hin und her. Ich bin nicht mehr im Fokus und bin manchmal sogar ganz aus dem Bild heraus. Die Schlafzimmertür nähert sich und ein Raum öffnet sich, inmitten liegt eine Matratze, seltsam abgesondert von Bettgestell, das daneben steht. Ein Mann mit brauner Arbeitshose schiebt sich vorbei, man sieht ihn nun von hinten, wie er den langen Spiegel wegnimmt. Er geht mit dem Spiegel um mich herum, ich bin jetzt auch in unserem Schlafzimmer und versperre ihm den Weg, halb absichtlich wirkt das, und er schwenkt den Spiegel kurz zu Seite und da Stopp, noch einmal zurück, im Zeitraffer, der Spiegel schwenkt, nun bin ich zweimal halb zu sehen, im Spiegel und in echt, oder in unecht? Aber da blitzt auch etwas auf. Was da aufblitzt, das bist Du. Kurz. Ganz kurz. Fast zu kurz. <br />
<br />
Wie oft habe ich diesen Film nun gesehen? Ich habe nicht gezählt. Es war: oft. Nie ist mir diese Sequenz aufgefallen. Doch jetzt habe ich Dich gesehen. Ich habe Dich kurz aufblitzen gesehen. Ich muss mir nun ein vollständiges Bild von Dir machen. Ich muss Dich noch einmal sehen, um endlich gehen zu können. Um mich von Dir zu verabschieden. Damit ich endlich fertig mit Dir sein kann. Ich muss dieses Bild von Dir extrahieren. Dazu verlangsame ich das Bild. Ich fange an der Stelle an, wo sich der Möbelpacker um mich herum wendet. Eine fließende Bewegung. Es ist ein Film. Ein Film besteht aus Einzelbildern, die zu einer flüssigen Bewegung werden, wenn man sie in der richtigen Geschwindigkeit in Reihe aufzeigt. <br />
<br />
Zwischen den Bildern sind Lücken. Für das normale Auge nicht sichtbar. Es sei denn, man verlangsamt den Film. Doch so sehr ich mich bemühe, so langsam ich den Film auch abspiele. Etwas stimmt nicht. Das Nichts zwischen den Bildern. Es fehlt. Etwas stimmt nicht. Da wird mir klar: Das Video ist nicht echt. Es ist nicht real. Ich gerate in Panik. Ich verlasse die Wohnung. Ich renne. Ich stolpere. Ich renne. Ich weiß nicht wohin. Ich renne zur Tür hinaus und bin dann weg. Von der noch offenen Tür gehen wir an einem kahlen Flur vorbei in ein ebenso kahles Wohnzimmer. Dort in der Mitte steht ein Stuhl und ein Schreibtisch. Darauf liegt ein Notebook. Der Bildschirm ist schwarz. <br />
<br />
<b>[Realitätsklammer]</b> Ich werde in einem hell erleuchteten Zimmer wach. Man wünscht mir einen guten Morgen. Ich frage wo ich bin. Der freundliche Herr sagt: Na, da wo Sie immer sind, Herr Koos. Er ist kräftig gebaut, jung und unrasiert. Und er trägt weiße Kleidung, wie sie für Pfleger in einem Krankenhaus üblich ist. Zeit für einen kleinen Spaziergang. Ach nein, vorher bekomme ich noch ein Frühstück und ich wasche mich. Meine Kleidung ähnelt im Schnitt der des Pflegers, doch ist sie in einem bräunlichen Ton gehalten. Zur Unterscheidung. Ich behalte die Augen offen. Wenn ich die Augen schließe, wird mir schnell schwindlig. Deshalb behalte ich sie solange offen, wie es geht. Ich versuche nicht zu blinzeln. Das gelingt mir nicht immer. Von Zeit zu Zeit. Dann blinzele ich doch. Mich überfällt dann eine eigenartige Panik. Es ist, als gäbe es nichts mehr um mich herum. Als sei da eine Leerstelle. Nicht in meinem Bewusstsein. In der Welt. Sie macht mir Angst. Es ist, als sei sie nicht real.<br />
<br />
Jetzt bin ich draußen. Im aufgeräumten Ambiente des kleinen Parks inmitten der Klinikgebäude. Klare Strukturen in der Anordnung, kein Chaos. Die kleinen Bäume stehen wie Soldaten in Reih' und Glied. Unter jedem zweiten Baum steht eine kleine Holzbank. Platz für zwei Personen. Für jeden Sitzenden ein Baum. Jedoch sitzt jeder alleine auf einer Bank. Der Rasen mit der kleinen Vogeltränke ist frisch gestutzt und saftig grün. Streichholzlang. Darf nicht blinzeln. Ein Streichholz für jedes Auge, damit mir die Welt nicht verloren geht. Dabei geht sie mir täglich verloren, sagt der Pfleger. Ich werde wach und weiß nicht wo ich bin. Der Pfleger heißt Daniel. Sagt er mir. Sagt er mir jeden Tag. Sagt er. Ich vergesse es wieder, wenn sich die Augenlider am Ende eines Tages schließlich doch müde schließen und ich am nächsten Morgen wieder erwache. Na Koos? Ein weiterer Patient, er erinnert sich an mich. Er stellt sich vor. Christoph S. Er erzählt mir eine Geschichte. Er erzählt mir seine Geschichte. Daniel sagt, er täte dies jeden Tag. Er freue sich jeden Tag darauf, mich wieder zu sehen. Dann könne er mir seine Geschichte erzählen. Wieder und wieder. Das täte ihm gut. <br />
<br />
Obwohl ich mich an niemanden erinnern und im Grunde auch gar nicht weiß, wo genau ich bin und warum, scheine ich recht beliebt zu sein bei den Patienten und Pflegern. So vergeht der Tag. Unterbrochen nur von einigen wenigen Blinzlern und einem Besuch bei Dr. Stolz. Er will wissen, wie es mir geht. Ich sage ihm, dass ich das nicht weiß. Woher auch? Dr. Stolz scheint mich gut zu kennen. Was bedeutet: Er fragt nicht weiter nach. Er verschreibt mir Augentropfen wegen der Rötung. Daniel geht mit mir zur Medikamentenausgabe. Ich weiß nicht wo sie ist. Ich scheue mich, die Tropfen zu nehmen, weil ich dann womöglich blinzeln muss und mir etwas vom Tag entgleitet, in das Nichts hinein. Ich fürchte mich vor dem Nichts, und wahrscheinlich bin ich deswegen hier. Ich esse zu Abend, dann schauen wir alle zusammen mit den Pflegern einen Film. Daniels Schicht ist zu Ende. Gute Nacht, Koos. Bis Morgen! Und dies mit einem Grinsen. Ich sage, Gute Nacht äähhh Bernd? Er schaut besorgt. Ich habe einen Witz gemacht. Morgen habe ich ihn vergessen. Den Film auch.<br />
<br />
Ich wache auf und weiß nicht wo ich bin. Ein Mann, ganz in weiß, begrüßt mich. Guten Morgen, Herr Koos. Ich bin Bernd. Ihr Pfleger. Keine Sorge, ich bringe Sie durch den Tag und erkläre ihnen alles, was Sie wissen müssen. Ich kleide mich an. Ich putze mir die Zähne. Ich schaue mich im Spiegel an und muss blinzeln. Ich bin weg. Ich öffne panisch die Augen. Dann bin ich wieder da. Ich habe Angst davor, die Augen zu schließen. Es ist, als würde die Welt verschwinden. Ich verbringe fast den ganzen Tag damit, die Welt im Auge zu behalten. Ich wache auf und ein Daniel hilft mir durch den Tag. Ich lerne die anderen Insassen kennen. Sie sind unruhig. Sie gehen aufgeregt in der kleinen Parkanlage umher. Ich kann spüren, dass etwas in der Luft liegt. Einer, der sich mit Michael vorstellt, sagt mir, Aufpassen, Koos, gleich geht es los. Und noch bevor ich überhaupt weiß, was los geht, geht etwas los. Die Insassen rennen alle in eine Richtung, und ich passe auf und denke, das ist es wohl, was losgeht hier. Wir rennen also los, acht Insassen, und die Pfleger hinterher. Ich weiß nicht, wo wir hinlaufen.<br />
<br />
<b>[Flucht] </b>Nicholas ruft, schnell hier hinauf, die Treppe hoch, schnell. Und während wir die Treppe also hochrennen, wartet Nicholas unten, bis wir alle vorbei sind, und versucht dann, die Pfleger mit Drohgebärden zu verjagen. Ksst! Fchch! Haut ab, Ihr Wichser. Ksssst! Rennt uns danach hinterher. Intuitiv weiß ich, dass sich Flüchtende in eine Sackgasse begeben, wenn sie die Treppen hinauf laufen. Ich weiß aber gar nicht, ob wir hier überhaupt auf der Flucht sind. Vielleicht ist das ein Spiel, dass sie jeden Tag spielen. Insassen gegen Pfleger. Wir springen über ein Eisengitter und sind dann auf einer Dachterrasse. Ein Spiel, vielleicht. Dort sind schon Andre und Christoph an der Tür zum Gebäude zugange. Sie stemmen sie mit der Kraft ihrer beiden Körper auf und winken uns hinein. Wir folgen, was sollen wir auch sonst tun. Andre schließt die Tür hinter sich und Nicholas schiebt einen alten Schreibtisch davor. Das müsste halten. Christoph schaut zufrieden aus. Ein Schweißtropfen läuft mir von der Stirn in die Augenbraue und bahnt sich seinen Weg hindurch. Noch ehe ich ihn bewusst wahrnehme und fortwischen kann, rinnt er mir ins Auge und ich muss beide kurz schmerzhaft schließen. Panisch reiße ich die Augen wieder auf und schaue mich um. Alles noch da.<br />
<br />
Wir machen eine kleine Rast. Die Pfleger hämmern eine Weile gegen die Tür, versuchen sie aufzubrechen. Dann, nach einiger Unterredung, scheinen sie aufzugeben. Es wird ruhig da draußen. Sie lassen uns verschwinden. Christoph bricht endlich das angespannte Schweigen. Weißt Du, Koos, sie lassen uns einfach verschwinden. Ich weiß, Du kannst Dich nicht erinnern. Aber wir waren einmal mehr. Viel mehr. Ich will wissen, wie sie das anstellen. Uns einfach verschwinden lassen. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Christoph jetzt resigniert. Nicholas steht auf. Los, weiter jetzt. Die kommen bestimmt bald wieder. Ich frage mich, ob das jeden Tag passiert. Christoph, das hier: Passiert das jeden Tag? Was spielt das für eine Rolle, erwidert er. Keine Antwort auf meine Frage. Komm jetzt. Wir müssen los! Aber eine klare Ansage. Wir müssen weiter. Flüchten wir denn? Oder gehen wir einfach nur wohin?<br />
<br />
Türen versperren uns den Weg wie Augenlider. Wenn sie aufgetan werden, offenbart sich uns eine neue Welt. Diese neue Welt unterscheidet sich nur unwesentlich von der alten. Dennoch ist sie ein anderer Ort in einem anderen Licht. Was dahinter ist, ist beinahe dasselbe, aber anders angeordnet. Ich finde allmählich Spaß daran, Türen aufzustoßen. Weil ich mich daran erinnern kann, was in dem Raum davor war. Es tut gut, sich ab und an einmal zu erinnern. Wie kann ich wissen, ob dieser spaßige Irrsinn hier eine Ausnahmeerscheinung ist oder vielleicht sogar täglich stattfindet. Eine Art Massenpsychose, immer wieder von neuem ausbrechend. Ein Spiel, das die Anstalt notgedrungen und mittlerweile gelangweilt mitspielt. In dem die Pfleger nur noch pro Forma hinterher rennen und dann wieder zurück an ihre Arbeit gehen. Oder zu was auch immer.<br />
<br />
Ein Spiel, bei dem die Ärzte dereinst auf einen Durchbruch in der Behandlung hofften. Nun schauen sie vielleicht nicht einmal mehr auf die Kamerabilder auf ihren Monitoren. Sie gehen stattdessen an ihre Schreibtischschublade, nehmen eine Flasche Scotch heraus und füllen das Wasserglas auf dem Tisch bis zum Rand. Sie schieben ihre Brille in die Haare, gehen auf Augenhöhe zu dem Glas, falten ihre Zunge kurz über die Oberlippe und kneifen ein Auge zu. Sie starren einäugig in flüssiges Bernstein, dass soviel interessanter scheint als ihre Patienten. Dann, nach ausgiebiger Betrachtung, von allen möglichen Seiten, gehen sie aus der Hocke und setzen sich wieder zurück in ihren lederbezogenen Sessel. Sie nehmen das Glas in die Hand und schütten den Inhalt langsam und sorgfältig, fast liebevoll wieder zurück in die Flasche. Mit der Fingerspitze wischen sie einen daneben gegangenen Tropfen vom Tisch und führen sie zur Nase. Sie inhalieren tief, und ihre Zungenspitze berührt zart den ausgestreckten Finger. Schmatzend verschwindet die Fingerspitze in ihrem Mund. In dem Moment, in dem sie ihr zwanghaftes Verhalten bemerken, ploppt der Finger entschlossen aus der Mundhöhle und fährt in einer Höllengeschwindigkeit zur Ruftaste der Telefonanlage, und aus den Vielen wird wieder nur einer. Hier Dr. Stolz. Machen Sie dem Mumpitz da unten endlich ein Ende. Danke.<br />
<br />
Wir stoßen Tür für Tür auf und scheinen einen Plan zu haben. Wir sind acht Leute auf dem Weg irgendwohin. Das ist der Plan. Wir rennen nicht davon. Wir wüssten gar nicht wohin. Wir sind nicht auf der Flucht. Wir sind auf der Suche. Wir bleiben zusammen und laufen durch Korridore, die Treppen hinauf und wieder herunter, wir stoßen Türen auf und sind dann wieder woanders. Es fällt zunächst gar nicht auf. Wir merken es nicht. In einer neuen Welt hinter jeder neuen Tür sind die Veränderungen so gering, es hätte uns früher auffallen müssen. Michael merkt es als erster. Wo ist Claus? Hat jemand Claus gesehen? Nicholas ruft, kommt, wir müssen weiter. Weiter. Sonst ist es zu spät. Siehst Du, sagt Christoph zu mir, sie lassen uns einfach verschwinden, einen nach dem anderen. Und wir können nichts tun. Er spricht, als habe er einen Kloß verschluckt. Wir rennen weiter, nun zu siebt. Das mit Claus' Verschwinden macht mich nervös, dass meine Augenlider unwillkürlich zucken. Ich habe keine Angst davor zu verschwinden. Ich fürchte mich davor, dass mir die Welt entschwindet. Ich versuche mich zu konzentrieren. Im nächsten Korridor kann ich es aus dem Augenwinkel heraus beobachten. Ich kann es ganz genau sehen. Ich sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie Nicholas sich in Luft auflöst. Wie machen sie das? Wie lassen sie uns verschwinden? <br />
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Christoph sagt, es sei nun nicht mehr weit, er erinnere sich nun an den Weg. Wir sind so viel gerannt und geklettert und gestiegen und hindurch gegangen, dass ich ihm nicht glauben kann, dass er wirklich weiß, wo wir sind, geschweige denn, dass er überhaupt weiß, wo wir hin müssen. Er zeigt uns den Weg. Hier lang. Noch eine Tür und wir sind da. Ich öffne die Tür. Dahinter ein Balkon. Von da aus geht es nicht weiter. Wir gehen resigniert hinaus und stützen uns ab, versuchen uns zu orientieren. Christoph verschwindet vor unseren Augen. Ein Wimpernschlag entfernt von uns. Michael sieht es. Michael sagt, wir sind auf der falschen Seite, Freunde. Da drüben sind sie. Dort, auf dem Dach. Da drüben sind sie. Wir blicken uns um, bis wir sie auch sehen. Männer auf dem Dach. Wir, auf einem Balkon, sehen Papier vom Dach in den Hof hinunter schweben, und wir können nichts dagegen tun.holz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-6163341384230902916.post-90335318517288398962011-02-22T09:40:00.000-08:002011-02-22T10:27:25.087-08:00Moralist, nicht integer: revisited!Nachdem die Bisswunde an meinem Arm endlich verheilt war, hatte ich mir überlegt, nun doch nicht mehr durch den Stadtpark zu gehen. Es war einfach zu gefährlich. Da mir aber das Fahren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln bekanntermaßen verboten wurde, aus Gründe, die nur aus einem großen Missverständnis resultierten, war ich geradezu zur Bewegungslosigkeit verdammt. <br />
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Da entschloss ich mich einfach dazu, die kleine Stadt zu verlassen und mein Glück in der großen Stadt zu suchen. Vieles würde anders sein: In der großen Stadt gäbe es zwar gewiss auch Hunde und Herrchen und ebenfalls öffentliche Verkehrsmittel, doch würde ich Letztere benutzen dürfen und das Zählwerk meiner selbst verschuldeten Vergehen auf Null zurückstellen können.<br />
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Die große Stadt hieß mich herzlich willkommen. Zumindest widerfuhr mir bei meiner Einbürgerung keine schlimmere Sache. Allmählich fasste ich Fuß und traute mich endlich, die U-Bahn des öffentlichen Nahverkehrs zu benutzen. Das war nun bitter nötig, da ich meinen Lebensunterhalt sichern musste. In der großen Stadt kann man jedoch nicht einfach zum Amt gehen, sondern muss, in Ermangelung eines KFZ, dorthin fahren. Ich musste meine Scheu und allen Argwohn ablegen.<br />
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Also versuchte ich recht freundlich drein zu schauen und es allen recht zu machen. Wer mir entgegen kam, dem wich ich aus. Und wer eine kleine Spende wollte, dem gab ich etwas von meinen spärlichen Mitteln. Man will ja kein Unmensch sein. Wobei ich die sogenannte kleine Spende relativ hoch fand. Aber in einer großen Stadt braucht man auch große Spenden. Dies erschien mir logisch und fair. <br />
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Am Ende bekam ich jedoch nie eine Zeitung wie versprochen. Trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass man für 48 Stufen und 20 Meter so viel Zeit in Kauf nehmen muss. Dem Himmel sei Dank, dass ich, geprägt von meinen einschlägigen Erfahrungen mit Verspätungen, genügend Zeit eingerechnet hatte. Sollte alles nach Plan laufen, wäre ich eine Stunde vor meinem Termin beim Amt.<br />
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Wie es sich zeigte, tat ich gut daran. Denn IN die U-Bahn zu kommen, schien mir schwieriger, als HINAUS. In gebührendem Abstand platzierte ich mich also vor der Fahrgasttür. Die Leute strömten hinaus, und ungeduldigere Menschen schoben sich vor mich und drängten hinein. Am Ende war kein Platz mehr für mich. Ansonsten hätten die Fahrgäste aufrücken müssen. Aber wer bin ich, so etwas zu fordern? Ich wohne ja erst seit kurzem in der Stadt und habe noch nicht die vollen Rechte wie zum Beispiel jemand, der schon lange in der großen Stadt lebt oder gar in ihr geboren ist.<br />
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Dieser Umstand stellte sich jedoch als großes Glück heraus, da ich in der Aufregung, ausgelöst durch meine erste U-Bahn-Fahrt in der großen Stadt, von den vielen Menschen, denen ich auswich oder etwas Kleingeld gab und dem Gebaren der Fahrgäste, völlig vergessen hatte, einen Fahrschein zu lösen. Dies holte ich nach, musste mich aber zuerst einer fremd sprechenden Gruppe hintanstellen und danach noch ein paar besonders eilige Menschen vorlassen. Am Ende gelang es mir jedoch, bei einem freundlichen Menschen eine Fahrkarte zu erstehen, die freundlicherweise schon gestempelt war.<br />
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Dann gelang es mir endlich, in die U-Bahn einzusteigen. Zunächst musste ich eine ganze Weile stehen, doch das machte mir nichts. Ich lächelte den einen oder anderen Fahrgast an und grüßte ihn freundlich. Das scheint in der großen Stadt nicht üblich zu sein, denn die Leute grüßten nicht zurück. Sie lächelten auch gar nicht und drehten sogar ihren Kopf zur Seite. Womöglich hatte ich etwas Unangenehmes im Gesicht kleben, vielleicht hatte ich auch Mundgeruch. Sofort tastete ich mein Gesicht ab, konnte jedoch nichts finden. Dann hielt ich mir die Hand vor den Mund und atmete hinein. Ich konnte nichts Derbes riechen. Aber den eigenen Gestank kann man bekanntlich selber gar nicht riechen. <br />
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Um die Menschen in meiner näheren Umgebung nicht zu belästigen, versuchte ich die Luft lange einzuhalten und so selten wie möglich zu atmen. Dabei wurde mir schwindlig. Ich hätte mich am Liebsten hinsetzen wollen, so schwindlig war mir, doch das ging ja nicht, weil die äußeren Sitzplätze schon alle besetzt waren. Auf die Fensterplätze wollte ich mich erst gar nicht schummeln, die Leute hätte sonst ihre bequeme Sitzposition wegen mir aufgeben müssen. Zudem wollte ich sie nicht mit meinem Mundgeruch belästigen. Es war mir alles sehr unangenehm.<br />
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Dann endlich hätte ich umsteigen können, doch leider bin ich nicht rechtzeitig aus der U-Bahn heraus gekommen. Da lernte ich, dass dies beinahe genauso schwer war wie HEREIN zu kommen. Andererseits gelang den übrigen Fahrgästen beides in vollem Umfang. Wahrscheinlich lag dies daran, dass ich neu war und mich noch nicht so gut in der großen Stadt und den dortigen Sitten auskannte. Das war selbstverständlich mein Fehler: Was gehe ich auch immer so unvorbereitet aus dem Haus? Ich hätte es schließlich wissen müssen: Man soll sich die Sitten und Gebräuche derer, die man besucht, vorher aneignen! <br />
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An der nächsten Haltestelle gelang mir erfreulicher Weise der Ausstieg. Ich ging zum gegenüber liegenden Bahnsteig, um bei nächster Gelegenheit zurück zu fahren. Da standen schon viele Leute, die alle warteten. Ich war jedenfalls sehr vergnügt, da ich es bereits beim zweiten Versuch geschafft hatte, aus der Bahn zu steigen, so dass ich meinen Mundgeruch und den Schmutz in meinem Gesicht völlig vergessen hatte. In dieser Hochstimmung nahm ich ein kleines Mädchen wahr, höchstens zehn Jahre alt, alleine und mit Ranzen auf dem Rücken. <br />
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Ich ging zu ihm hin und grüßte es freundlich. Ich hatte dem Mädchen lediglich sagen wollen, dass ich es sehr mutig von ihr fände, ganz alleine mit der U-Bahn zu fahren. Ich fand das wirklich großartig, wie jemand so Junges mit etwas so Kompliziertem einfach zurecht kommt, wenn Erwachsene wie ich schon Probleme damit haben. Doch das Mädchen schaute mich nur erschrocken an und lief dann mit einem schrillen Quieken, ich kann es nicht anders sagen, weg. Da fiel mir ein, dass ich ja so argen Mundgeruch hatte und auch schmutzig im Gesicht war. Ich wäre auch schreiend davon gelaufen, wenn mich so jemand angesprochen hätte.<br />
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Gleich darauf kamen allerdings ein paar Frauen und Männer auf mich zu und fragten harsch, was ich denn von dem kleinen Mädchen gewollt habe. Ich entgegnete ihnen, dass ich gar nichts von ihr wollte und dass ich kleine Mädchen eben gerne mag und deswegen nett zu ihnen bin. Das schien den Leuten nicht zu gefallen, und ich war etwas verwundert, dass man in dieser Stadt offenbar keine kleinen Mädchen mag. Da sagte ich der mittlerweile aufgebrachten Menge, dass es da, wo ich herkämme, ganz normal sei, kleine Mädchen zu mögen. Und da mir langsam dämmerte, was die Leute vor mir wirklich bewegte, fügte ich hinzu, dass man dort ebenfalls kleine Jungens möge. Es sei selbstverständlich, wenn Freunde und Verwandschaft ihre Kinder vorbei brächten und sie dann dort auch alleine ließen. Das mache doch den Kindern genauso viel Spaß wie den Erwachsenen.<br />
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Ich verstand dann nicht so richtig, warum die Leute mich plötzlich so beschimpften. Sie sagten Sachen zu mir, die ich hier nicht wiedergeben möchte. Wohl aber möchte ich darauf hinweisen, dass mir ein besonders grober Mensch die Faust derart auf die Nase geschlagen hat, dass sie mir blutete. Und eine Dame schlug mir fortwährend ihre Tasche auf den Rücken. Ich wusste nicht wie mir geschah, ahnte aber, dass es besser wäre, die Flucht zu ergreifen. Dem Himmel sei Dank fuhr im selben Moment der Zug ein. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig in einen der hinteren Wagen absetzen, bevor die zuerst erstarrte und mir dann schleunigst hinterher eilende Menge nachfolgen konnte. Wütend trommelten sie an die Fahrgasttür, mit den immer selben Schimpfworten auf ihren Lippen, keifend, geifernd, hochrot erzürnt.<br />
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Erleichtert atmete ich auf. Um bei den übrigen Fahrgästen, die mich schon argwöhnisch beäugten, Wohlwollen zu erlangen, lächelt ich sogleich freundlich. Doch diese erschauerten nur vor mir und wichen aus. Um mich herum wurde getuschelt und einige Leute schienen mich mit Unbehagen zu betrachten. Aber immerhin hielten sie Abstand zu mir, und so konnte ich einfach dastehen, ohne sie mit meinem Blut zu bekleckern. Da bemerkte ich, wie sich mir zwei Personen von der Seite näherten. Als sie bei mir ankamen, fragten sie nach meinem Fahrschein, den ich ihnen augenblicklich zeigte. Man soll ja wegen mir keine Zeit verschwenden müssen. So dachte ich jedenfalls.holz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-6163341384230902916.post-80627723947134385982010-10-17T06:54:00.000-07:002012-11-21T09:02:24.259-08:00BlockadenHolz E. von Bald <br />
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Es hatte mit einer Schreibblockade zu tun. Seit Monaten nun brachte ich nichts mehr zu Papier. Nicht, dass ich keine Ideen mehr gehabt hätte. Davon gab es genug. Sie schienen mir sogar relevant zu sein. Doch irgend etwas hinderte mich daran, sie aufzuschreiben. Ich weiß nicht, was es war. Es hatte mit einer Schreibblockade zu tun. Seit Monaten nun brachte ich nichts mehr zu Papier. Nicht, dass ich keine Ideen mehr gehabt hätte. Davon gab es viele. Einige schienen sogar relevant zu sein. Doch irgend etwas hinderte mich daran, sie aufzuschreiben. Es hat wohl mit einer Schreibblockade zu tun. Seit Monaten bringst Du nun nichts mehr zu Papier, sagte mein wohlmeinender Freund. Es ist nicht so, dass ich keine Ideen mehr habe, entgegnete ich. Davon habe ich viele. Darunter sogar einige relevante.<br />
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Doch irgend etwas hindert Dich daran, sie aufzuschreiben. Aber ich kann Dir weiter helfen, sagte mein sich für gewöhnlich direkt vor meinen Augen materialisierender, aber immer wohlmeinender Freund. Er gab mir den Rat, einen Motivator aufzusuchen. Er wird Dir helfen, so wie er schon mir geholfen hatte und vielen anderen zuvor, die den Kopf voller Ideen hatten und nicht weiter wussten, sie zu nutzen. Er schrieb eine Adresse auf und hielt mir den Zettel hin. Daraufhin verließ er meine Wohnung durch die ihm ebenfalls gefällige Art des Sich-Einfach-In-Der Luft-Auflösens. Darüber wie immer irritiert, hielt ich den Zettel in der Hand und dachte: Er muss sich unbedingt eine andere Form des Kommens und Gehens überlegen, sonst drehe ich noch durch. Eines Tages.<br />
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Später rief ich den Motivator namens Bertollo unter der angegebenen Nummer an und machte mit einer Sprechstundenhilfe namens Belinda einen Termin aus. Da Sie privat versichert sind, spielt es keine Rolle, wann und ob Sie kommen, sagte Belinda, die es sich zwischendurch anders überlegte und nun lieber Carla heißen wollte. Gut, sagte ich, dann komme ich gleich morgen. Gegen zwei Uhr am Mittag, wäre das recht, Carla? Belinda. Ich heiße Belinda. Vierzehn Uhr, morgen. Bänkelstraße 17. Ist recht. Wiederschaun. (Klack) <br />
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Am nächsten Tag setzte ich mich auf mein Moped, eine alte, senfgelbe Simson mit abgeschlagenen Blinkerärmchen und zerritztem Sitzpolster. Ich startete das Relikt und fuhr damit los, etliche Rauchzeichen hinterlassend, um nachfolgenden Menschen anzuzeigen: Hier stand einmal ein Moped. Hustend und keuchend ist es nun fortgefahren. So what? Eventuell gefundene Blinkerärmchen bitte in den Briefkasten werfen oder einem vorbeiziehenden Nazi auf die Schädeldecke hauen. Vielen Dank! <br />
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Die Praxis des Motivators befand sich im äußersten Norden der Stadt, also hatte ich eine weite Reise vor mir. Zwischendurch rastete ich und tankte die Simson auf. Ich selber machte noch ein paar gymnastische Übungen und aß einen Schokoriegel. Dann fuhr ich weiter. Als ich endlich im äußersten Norden der Stadt angekommen war, es also beinahe geschafft hatte, konnten mich weder der Stadtplan noch der mitgeführte Kompass zur Praxis in der Bänkelstraße führen. Die Nadel drehte sich wie verrückt im Kreis und die Karte war verkehrt, egal wie ich sie hielt. Also fragte ich Passanten nach dem Weg, doch die zuckten nur kurz mit der Schulter und setzten munter pfeifend ihren Weg fort. <br />
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In heller Aufregung fuhr ich mit der Simson hin und her, doch ich konnte die Praxis einfach nicht finden. Mit einem Blick auf die Uhr entschied ich nun, wieder nach Hause zu fahren. Den Termin hatte ich ja bereits verpasst. Also fuhr ich geradezu wieder nach dem Süden der Stadt. Ich musste mich jedoch verirrt haben. Denn vor meinen Augen tat sich ein großer See auf. Ich stand vor der Frage, in welche Richtung ich ihn umfahren müsste, um wieder zur ursprünglichen Route zurück zu finden. Ich entschied mich für den Osten, doch nach einer halben Stunde Fahrt hatte ich den See nicht umrundet und eher das Gefühl, als entfernte ich mich immer mehr von meinem Ziel, statt ihm näher zu kommen. Dann fuhr ich zurück nach Westen und darüber hinaus, bis ich in einer Sackgasse Halt machen musste. So kam ich nicht weiter, soviel stand fest.<br />
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Ich schaute mich um. Ich befand mich in einer engen, menschenleeren Straße, alter Pflasterstein. Um mich herum waren schmucklose, mehrgeschossige Häuser etwa aus der Wende vom 19ten zum 20ten Jahrhundert. Der Putz war schon vor langer Zeit abgebröckelt und legte Ziegelsteine frei, die mittlerweile völlig verrußt waren. Steinerne Treppen, umwehrt von Eisengeländern, wuchsen von der Straße hinauf zu wuchtigen Hauseingängen, die Türen aus massivem Holz, abgeblätterter Lack. Die Fenster der Häuser, wie in früheren Zeiten doppelt gerahmt und verglast. Blumentöpfe voller Geranien setzten grelle Farbtupfer auf die grauen Wände. Über die Straße hinweg behängte Wäscheleinen. <br />
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Ich stellte den Motor ab. Irgendwie musste ich einen Weg nach Süden finden, zur Not durch die Häuser hindurch. Ich stieg die Treppe des mir den Weg versperrenden Hauses hinauf und trat ein. So sehr ich auch suchte: Es gab keinen Hinterausgang. Als ich enttäuscht wieder hinaus wollte, ging ich versehentlich durch ein Wohnzimmer, in dem sich gerade ein junges Paar stritt. Es ging um die üblichen Probleme. Erst wollte ich vermitteln, doch dann überlegte ich es mir anders und schlich mich aus der Szene. Dieser Streit ging mich nichts an. <br />
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Zurück im Treppenhaus und voller Neugierde, die ich mir heute nicht mehr erklären kann, stieg ich die Treppe hinauf und schaute mir Stockwerk für Stockwerk an, beobachtete die Menschen in ihren Wohnungen, staunte, lachte und weinte, als ich ein schönes Mädchen tot in der Badewanne vorfand, das Wasser darinnen blutrot verfärbt. Ein junger Mann saß lächelnd daneben und hielt ihre blutleere Hand in den seinen.<br />
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Erschüttert von diesem zärtlichen Bild wechselte ich in eine andere Wohnung und fand eine Familie beim Kaffeekränzchen vor, als der Vater dem Kleinsten gerade mit dem schweren Küchenmesser die Hand abschnitt. Wahrscheinlich hatte er nach einem Stück Kuchen gegriffen, ohne artig zu fragen. Reumütig blickte der Kleine seinen Vater an, wissend um des Vaters Pein: Den stärksten Schmerz fühlt stets das Elternteil, das straft.<br />
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Andächtig verließ ich auch diese Szene und fand andernorts einen Kindergeburtstag vor, ausgelassen lachende Kinder in Kostümen, die den gefesselten, am Boden liegenden Clown, freudig boxten und kniffen. Dessen Hilferufe erfreuten auch die Erwachsenen, die auf ihren Stühlen saßen und begeistert in die Hände klatschten. Ich nahm ein Stück Geburtstagstorte und schmierte es dem Clown ins Gesicht. Und immer wieder rief er um Hilfe, zum Totlachen das Ganze. Wann hatte ich zuletzt einen solchen Spaß? <br />
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Erhitzt vor lauter Lebensfreude ging ich hinaus auf die Terrasse. Ein junger, südländisch ausschauender Mensch, kam auf mich zu und fragte nach Feuer. Ich gab ihm welches. Wir rauchten beide andächtig und betrachteten den großen See in der bereits untergehenden Sonne. Er meinte, das Licht sei nun besonders gut. Ob ich denn etwas dagegen hätte, wenn er mich photographierte. Ich verneinte und fragte, was ich tun solle. Einfach ich selbst sein solle ich, das genüge. Ich wusste gar nicht, wie das geht: ich selbst sein. Doch dem jungen Mann schien zu gefallen, was ich tat.<br />
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Er photographierte und photographierte, kam mir dabei immer näher. Mich interessieren die Muster, mich interessieren Details, nuschelte er in die Kamera hinein, während er immerfort das Objektiv justierte. Bis er endlich nur noch wenige Zentimeter von meinem Jackett entfernt war und dessen Musterung schoss. Als er sich nach etwas mehr als einer viertel Stunde wieder etwas entfernte und endlich damit aufhörte, sich für meine Muster und Details zu interessieren, dankte er mir überschwänglich. Er küsste mich auf den Mund und verschwand in der Wohnung.<br />
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So blieb ich noch eine Weile auf der Stelle stehen und dachte an nichts. Ein wunderbares Gefühl überkam mich dabei. Dann wandt ich mich wieder dem herrlichen Panorama zu und bedachte den aufkommenden Nebel mit einem stillen Gruß. Dessen Arme erhörten mich bald und griffen zärtlich nach mir. Sie ließen mich schlussendlich ganz verschwinden in seiner köstlichen, diffusen Konsistenz. Ich schloss die Augen und ließ es geschehen. <br />
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HEK 17.10.2010holz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-6163341384230902916.post-67364566793976881312010-02-04T11:28:00.001-08:002010-02-04T11:46:09.161-08:00Auf die Insel!Als man feststellte, dass sie fast nur noch verwaltungsinterne Vorgänge bearbeiteten, begann man, alle Beamte und Fachangestellte der Verwaltungen auf eine südlich gelegene Insel zu verbringen. Dort sollten sie für den Rest ihrer Tage sich selbst überlassen bleiben und das tun, was sie am besten können: sich selbst verwalten! <br />
<div style="margin-bottom: 0cm;">Im Lande selber beschloss man, den Dienst am Bürger den kundenorientierten Dienstleistern zu überlassen, was im allgemeinen sehr gut angenommen wurde. Wenn ein Arbeitsloser zum Beispiel in Arbeit vermittelt wurde, schickte man ihm nun zusätzlich einen Blumenstrauß samt Grußkarte.</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Man freute sich ganz ehrlich, dass die Menschen aus dem "Bezug" heraus fielen. Früher wurden die "Bittsteller" sang- und klanglos aus dem System gestrichen. Neue kamen hinzu, und sie waren außer arbeitslos vor allem eines: lästig!</div><div style="margin-bottom: 0cm;">So ging es den BürgerInnen mit sämtlichen Ämtern und Verwaltungen. Doch nun war alles gut. Sie fühlten sich endlich ernst genommen und mussten für jeden Antrag nur noch drei statt der üblichen 10 Durchschläge einreichen. Es war jetzt alles so viel einfacher.</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Doch nach einiger Zeit hörte man von den BewohnerInnen der "Verwaltungsinsel" nichts mehr! Hatten sie es tatsächlich geschafft, zu gedeihen und sich fortzupflanzen? Waren sie endlich vollkommen unabhängig und benötigten keinerlei Unterstützung mehr? Noch vor wenigen Monaten wurde die Regierung von Anträgen auf Entwicklungshilfe geradezu bombardiert.</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Man versuchte, Kontakt zu knüpfen, wollte schließlich Geschäfte mit dem endlich prosperierenden Eiland machen. Doch auf derlei Anfragen gab es keinerlei Reaktion. Also schickte die Regierung ein Erkundungsteam auf die "Verwaltungsinsel", um nach dem Rechten zu sehen.</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Als das Team dort ankam, war es nicht schlecht erstaunt: Die Häuser waren zerfallen, in ihnen befand sich kein Leben mehr. Auf den Schreibtischen lagen Unmengen von unbearbeiteten Anträgen, Ablehnungen und Widersprüchen. Sämtliche Topfblumen waren verwelkt. An den Tischen saßen mumifizierte Leichen, die bunte Gießkännchen in ihren Händen hielten.</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Sofort wurden Experten hinzu gerufen. Sie sollten erforschen, was denn in der Zwischenzeit passiert sei. Die einfache Antwort war schnell gefunden: Die BewohnerInnen hatten sich gegenseitig zu Tode verwaltet! Die Experten erklärten es der Regierung exemplarisch an einem Beispiel: <br />
<blockquote>Eine beantragte Dose Thunfisch verursachte einmal solch einen Verwaltungsaufwand, dass hinterher keiner mehr die Kraft hatte, sie zu öffnen, als sie endlich am Bestimmungsort angekommen war. Bei näherer Ansicht des Aktenverlaufs unter Zuhilfenahme forensischer Spurensicherung stellte sich folgendes heraus: Selbst wenn der Antrag 1554c (Bestellung einer Dose Thunfisch) samt Folgeantrag 1554d (öffnen der Dose Thunfisch) positiv entschieden worden wäre (die zuständigen Behörden mahnten wiederholt Formfehler in der Antragstellung an), wäre der Antragsteller trotzdem verhungert. Dies lag ganz besonders an folgendem Umstand:</blockquote></div><blockquote><div style="margin-bottom: 0cm;">Eine Verwaltungsfachangestellte wurde aufgrund ihres mehrfach abgelehnten Antrags auf eine höhere Gehaltseinstufung dermaßen brüskiert, dass sie aus Trotz den Antrag 234a (Antrag auf Zuteilung und Zustellung eines Dosenöffners) unter ihrem Schreibtisch verschwinden ließ. Der Antragsteller war übrigens nicht zwangsläufig derselbe, der ihre Gehaltserhöhung rechtsgültig abgelehnt hatte. Doch hatte sich die Abneigung der Verwaltungsfachangestellten gegenüber ihren KollegInnen so sehr manifestiert, dass sie ihren Dienst prophylaktisch in jeder Sache verweigerte.</div></blockquote><div style="margin-bottom: 0cm;">Solche und ähnliche Geschichten passierten nun tausendfach auf der "Verwaltungsinsel", so dass am Ende alle Abläufe einer geregelten Gesellschaft ins Stocken gerieten. Die Regierung sah ein, dass es so kommen musste: Es ist niemals gut, domestizierte Wesen einfach in der freien Wildbahn auszusetzen, ohne sie in die Gefahren ihrer ureigensten Natur einzuweisen.<br />
Die Insel ist übrigens für Jahrzehnte unbewohnbar, da einsetzende Regenfälle die im Laufe der Zeit entstandene Papierwüste in eine unwirtliche und nicht zu bewirtschaftende Pappmaschee- Landschaft verwandelt hatten.</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Heute überlegt die Regierung übrigens ernsthaft, ob sie nicht die letzten Arbeitgeber auf ein anderes einsames Eiland verbringen soll. Sie könnten sich dort so wunderbar gegenseitig ausbeuten und ihre Erträge in taumelnde Höhen treiben. Die BürgerInnen des Landes wären hocherfreut: Das Leben würde dadurch so viel leichter und die Arbeit brächte vielleicht endlich wieder etwas Freude.<br />
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HEK 29. Juli 2007</div>holz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-6163341384230902916.post-12984521331921808362010-01-18T08:18:00.000-08:002010-06-08T06:03:21.434-07:00Außer KontrolleAls sie Mara abholten herrschte tiefe Nacht. Goetz wurde von einem heftigen Hämmern an der Wohnungstür wach. Wie ferngesteuert verließ er das warme Bett und öffnete sie einen Spalt. Alsdann wurde die Tür weit aufgestoßen, und eine Mannschaft gepanzerter Männer stürmte in die Wohnung. <br />
Einer der Uniformierten fragte Goetz barsch nach Maras Verbleib, worauf der ihm mit einer Armdeutung gehorsam den Weg ins gemeinsame Schlafzimmer wies. Zivilcourage war Goetzens Sache nicht. Mara saß aufrecht im Bett, mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen, die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. <br />
Man befahl ihr, sofort das Bett zu verlassen. Sicherheitshalber richteten sich großkalibrige Waffen auf sie, als sie Folge leistete, denn sie hätte ja ebenfalls bewaffnet sein können. Mara war nackt und unbewaffnet. Die Polizisten ließen die Waffen wieder sinken. <br />
Goetz fragte sich, was wohl geschehen wäre, hätte Mara einen Bombengürtel unter der Bettdecke getragen, den Zündring bereits zwischen Daumen und Zeigefinger. Er stellte sich vor, wie eine Explosion das Schlafzimmer verwüstete. Ein greller Blitz, ohrenbetäubender Lärm, Splitter und Daunen stöben durch den Raum, eine gewaltige Druckwelle schöbe alles hinfort, gefolgt von eine furchtbaren Stille. Alle Anwesenden lägen tot oder schwerverletzt am Boden, vielleicht streckte sich die ein oder andere Hand hilfesuchend in die Luft. <br />
Mara durfte sich etwas überziehen und das Notwendigste zusammen packen. Hilflos blickte sie den vollends überforderten Goetz an. Dem ging wie immer alles viel zu schnell, so dass sein Verstand dem Geschehen nicht so richtig folgen konnte. Noch bevor ihm einfiel, was er hätte tun oder sagen können, fiel die Wohnungstür ins Schloss und Mara und die Männer waren weg. <br />
Goetz stand noch einige Zeit mit offenem Mund im Flur herum, dann schloss er ihn und legte sich wieder ins Bett. Allerdings konnte er überhaupt nicht einschlafen, was wohl an der ganzen Aufregung lag. Dann roch er an Maras Kissen und fiel dann endlich doch noch in tiefen Schlaf. Maras Geruch beruhigte Goetz schon immer.<br />
<br />
Verstört folgte Mara den Männern die Treppen hinunter. Sie versuchte sich zu erklären, was da vor sich ging, konnte aber keine Erklärung dafür finden. An der Straße fand sie einen Mannschaftswagen geparkt, man hielt ihr eine Tür auf und schob sie hinein. Im Inneren des Wagens wurde sie auf eine Pritsche festgeschnallt, jemand spritzte ihr ein Narkotikum. Ihr Bewußtsein erlosch augenblicklich.<br />
Als sie aufwachte, befand sie sich immer noch festgezurrt auf einer Pritsche, an der Hand eine Kanüle, von dort ein Schlauch, der in einen Infusionstropf mündete. Sie schien sich in einem Krankenhaus zu befinden, die weisen Kacheln wiesen jedenfalls darauf hin. Mara betrachtete die Decke, sah das Licht einer kalt flackernden Neonröhre. Abermals versuchte, sie das Geschehene zu erfassen. Hatte sie etwas verbrochen? Stand sie unwissentlich in Kontakt mit vom Verfassungschutz beobachteten Menschen? Hatte sie sich mit einem gefährlichen Erreger infiziert? War sie eine Gefahr für andere?<br />
Es gab keinerlei Anhaltspunkt, und damit ergab auch nichts einen Sinn. Mara geriet in Panik und begann, laut um Hilfe zu schreien. Ein Pfleger kam durch die Schwingtür gestürmt. Kein Problem, kein Problem, alles ist gut. Seine Stimme sollte beruhigend wirken, erreichte jedoch das Gegenteil. Mara schrie um so verzweifelter: Nichts war gut, alles war ein Problem, wo war sie? Was hatte man mit ihr vor? Der Pfleger hantierte am Infusionsbeutel, wechselte diesen aus. Kein Problem, ganz ruhig, gar kein Problem, kein... mehr konnte Mara nicht mehr verstehen, abermals fiel sie in tiefen Schlaf. <br />
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Der Wecker klingelte bereits zum zweiten Mal, als Goetz endlich erwachte. Er würde heute zu spät zur Arbeit kommen. Wie gewohnt drehte er sich zu Maras Seite, um sie zu küssen, doch Mara war ja fort. Enttäuscht verließ Goetz das Bett und ging ins Bad, urinierte im Stehen und putzte sich die Zähne. Gestern Abend, erinnerte er sich, habe ich vergessen, die Zähne zu putzen. Wie es Mara wohl geht? Goetz nahm eine Dusche, zog sich an und ging ohne Kaffee getrunken zu haben aus dem Haus. Kaffee zu kochen war immer Maras Aufgabe gewesen. Er würde sich nun angewöhnen müssen, dies selber zu tun. Er rechnete nicht damit, dass Mara bald zu ihm zurückkehren würde. Goetz vermisste sie bereits.<br />
<br />
Maras Fahrt zu ihrem Bestimmungsort sollte lange dauern. Als sie wieder wach wurde, war es ihre erste Empfindung gewesen, dass sie die Klimazone gewechselt hatte. Grün in allen Tönen zog an ihr vorbei, und es herrschte eine feuchte Hitze. Sie richtete sich mühsam auf, was erschwert wurde durch die holprige Fahrt in einem Jeep. Der Fahrer schaute sie missmutig durch den Rückspiegel an, sagte aber kein Wort. <br />
Als sie sich wieder etwas gefasst hatte, versuchte sie ihn ohne Erfolg in ein Gespräch zu verwickeln. Sie versuchte ein paar Worte Spanisch, die ihr noch einfielen, dann Englisch und Französisch. Dann gab sie es auf. Der äußerst fette Fahrer schwitzte einfach vor sich hin, wischte sich ab und an das Gesicht mit einem schmutzigen Tuch und blieb stumm. Mara ordnete ihn der ethnischen Gruppe der Indios zu, mochte vielleicht ein Abkömmling spanisch-indianischer Verbindungen sein. Er stank wie ein verwestes Tier. <br />
Mara wähnte sich irgendwo in Südamerika, um den Äquator herum vermutlich. Doch sicher war sie sich nicht. Sie musste geflogen sein, hatte aber keinerlei Erinnerung daran. Wie lange war es nun schon her, seit man sie aus ihrer Wohnung geholt hatte? <br />
Die klebrig ockerne Straße stieß gerade wie ein Pfeil durch die üppig grüne Vegetation, klaffte darinnen wie eine eiternde Wunde. Mara war überaus erschöpft, sie schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Es gelang ihr nicht, und so döste sie vor sich hin, immer wieder aufgeschreckt durch tiefe Schlaglöcher. <br />
In einem kleinen Dorf machten sie eine Rast, der Fahrer tankte den Jeep auf, dazu noch ein paar Kanister, die er im hinteren Wagenraum bei Mara verstaute. Er besorgte Mara einen Happen zu essen, und obwohl sie keinen rechten Appetit hatte, nahm sie die Mahlzeit an und aß. Allmählich versammelten sich Kinder um den Jeep herum. Neugierig starrten sie Mara an. Als sie ihnen endlich ein schüchternes Hallo schenkte, gingen die Kinder stumm davon, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Der Fahrer ließ den Wagen an, und sie fuhren davon.<br />
Es dunkelte allmählich, und sie hielten für eine Rast mitten im Urwald an. Der Fahrer fuhr zum stark abschüssigen Wegrand, ganz so als handelte es sich um einen Haltestreifen, und parkte in einer bedenklichen Schieflage. Er blickte zum Himmel, dann kramte er eine Plane aus der Ladefläche und spannte sie über den Jeep. Ein paar Minuten später fing es stark an zu regnen. Der Regen lockerte den Boden bald dermaßen auf, dass sich der Jeep noch mehr den Hang hinunter neigte. Dann schienen sie einigermaßen stabil zu stehen. Mara traute sich dennoch kaum, sich zu bewegen, aus Furcht, sie könne den Wagen doch noch zum Kippen bringen. Der Fahrer, der es sich am Steuer gemütlich gemacht hatte, schnarchte bereits. Mara getraute sich nicht einzuschlafen.<br />
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Goetz kam zu spät zur Arbeit. Keiner bemerkte es, und er konnte ungestört seine Aufgaben erledigen. Er hatte sich vorgenommen, gleich nach Feierabend zur Polizei zu gehen und sich nach Mara zu erkundigen. Mehr fiel ihm nicht ein, abermals fühlte er sich hilflos und in seinem freien Gedankenfluss blockiert. Er verfluchte diesen Zustand, der ihn immer dann überfiel, wenn er gefordert war. Am Besten für ihn war es, wenn alles seinen geregelten Gang ging. Kreativität war seine Sache nicht. <br />
Ja, Mara P., wohnhaft in der Straße soundso, Postleitzahl und so weiter. Sie war abgeholt worden, vermutlich von Polizisten. Können Sie mir helfen? Ich weiß nicht, wo man sie hingebracht hat. Der wachhabende Polizist tippte etwas in den Computer, betrachtete wortlos seinen Bildschirm, schaute kurz auf und ging ebenso wortlos davon. Goetz wartete ein paar Minuten. Der Polizist kam nicht wieder. Nun, er hatte es wenigstens versucht. <br />
Goetz verließ das Polizeipräsidium. Es hatte zu regnen begonnen. Er wurde nass. Er bekam Hunger. Zuhause gäbe es nichts zu Essen. Mara hatte sich immer um das Essen gekümmert. Goetz würde Essen gehen müssen. Es war sehr schwierig: Sollte er zum Chinesen gehen, oder zum Italiener? Er konnte sich nicht recht entscheiden und beschloss, einfach das nächstbeste Restaurant zu besuchen. Der Zufall führte ihn zum Griechen, wo er etwas Gyros zu sich nahm. Es schmeckte ihm nicht besonders. Im Hintergrund lief der Fernseher. Sport. Goetz vermisste Mara immer mehr.<br />
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Mit Beginn der Morgendämmerung wurde der Fahrer wach. Mara hatte bis dahin nicht geschlafen. Der Regen hatte aufgehört. Stattdessen lag dichter Nebel über den Resten der Straße, über der Vegetation. Sie streckte sich und bekam eine Prise Eigenduft ab. Nun roch sie beinahe genauso betörend wie ihr Fahrer, der sich mit dem Ärmel den verkrusteten Speichel aus den Mundwinkeln wischte. Er setzte sich auf und drehte den Zündschlüssel. Die Fahrt ging weiter. <br />
Mara verspürte heftigen Harndrang, verkniff ihn sich aber. Sie hatte sich während der Nacht ohnehin schon eingenässt, da sie sich nicht getraut hatte, den Wagen im strömenden Regen zu verlassen. Was sind da noch ein paar Tropfen Urin mehr? <br />
Mara ließ sich gehen, und es war ihr egal. Alles war ihr egal. Man sprach nicht mit ihr, man teilte ihr nicht mit, was mit ihr geschehen sollte. Sie dachte an Goetz und stellte sich vor, wie er alle Hebel in Bewegung setzte, um sie wieder nach Hause zu holen. Dann wurde sie wieder realistischer und erinnerte sich an Goetzens Generalhilflosigkeit und Lethargie. Sie begann hemmungslos zu schluchzen. Niemand würde sie je wieder nach Hause bringen. Niemals würde sie erfahren, wo sie sich befand und wo sie hingebracht werden sollte. So sah es aus! Mara hatte ein ernsthaftes Problem.<br />
Gegen Mittag, die Schwüle war kaum auszuhalten, wurde der Urwald allmählich etwas lichter, bis sie eine von der Natur wieder zurück geholte Plantage durchfuhren. An ihrem Ende war eine riesige, baufällige Villa zu erkennen. Große Teile davon waren überwuchert. Sie machte keinen besonders guten Eindruck. Der Jeep folgte einem Weg um einen sich außer Betrieb befindlichen, riesenhaften Springbrunnen. Vor dem Haupteingang bremste er ab. Der Fahrer stieg auf die Ladefläche, um Maras Gepäck hinaus auf die Treppe zu werfen. Mara kletterte mit schwachen Beinen aus dem Jeep und klaubte ihre Sachen vom Boden zusammen. Die Räder des Jeeps drehten kurz durch, dann fuhr er davon. Sie schaute ihm fassungslos hinterher, bis aus ihm ein Punkt wurde und er sich endlich ganz auflöste. <br />
Aus dem Inneren der Villa vernahm sie leise Musik. Es schien sich um einen alten Marsch zu handeln, und die Tonqualität ließ eher auf ein Grammophon als auf ein modernes Gerät schließen. Mara entschloss sich dazu, dies als ein gutes Zeichen zu werten. Immerhin schien die Villa bewohnt, und auch wenn erwartungsgemäß niemand der dort befindlichen Menschen mit ihr auch nur ein Wort wechseln würde, so war stumme Gesellschaft immer noch besser als gar keine. <br />
Beinahe hätte sie an die Türe geklopft, doch sie hatte die leise Ahnung, dass man sie ohnehin nicht hereinbitten würde, also ließ sie das. Die Türe war zudem nicht verschlossen, und als sie sie öffnete, gab sie einen fürchterlichen Laut von sich, ganz so als sei sie mit dem Genital eines Gefolterten verbunden. <br />
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Zuhause schaltete Goetz den Fernseher an. Er rubbelte sich den Kopf mit einem Handtuch trocken, während er missmutig einen schlechten Spielfilm erdulden musste. Er ließ das Handtuch zu Boden und sich in den Sessel fallen, ergriff die Fernbedienung und zappte sich durch das Programm. Eine Dokumentation über seltene Tiere auf irgendeiner Inselgruppe. Eine Spielshow mit teils infantilen Fragen. Eine Casting- oder Talentshow, Nachrichten. Goetz mochte keine Nachrichten. Sie verunsicherten ihn sehr. Wie bei einer Soap war es: Einmal eine Folge verpasst, und er würde nicht mehr folgen können. Einmal nicht aufgepasst, und er würde gar nicht mehr verstehen, um was es in den Nachrichten überhaupt ging. <br />
Er stellte den Fernseher wieder ab. Ohne Programmheft war Fernsehen ein hoffnungsloses Unterfangen. Im Kühlschrank gab es noch ein Bier. Mara musste es noch kurz vor ihrer Abreise gekauft haben. Morgen würde er neues Bier kaufen müssen. Mara war ja nicht da. Das Auffüllen des Kühlschrankes war immer ihre Aufgabe gewesen. Ebenso der Kauf eines Fernsehmagazins. <br />
Goetzens Aufgabe war es stets gewesen, dankbar zu sein. Seine neue, unfreiwillige Rolle fiel ihm schwer. Er hätte sich viel lieber ganz allmählich an die Sache herangetastet, statt urplötzlich auf sich selbst gestellt zu sein. Man hätte ihm Mara nicht einfach so entziehen dürfen. Dies stellte eine besondere soziale Härte dar, gegen die man eigentlich klagen müsste. Eigentlich. Goetz ging zu Bett und überlegte, wie er diesen Zustand beenden könnte. <br />
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Ganz so, als würden sich Menschengruppen durch die Flure der Villa bewegen, brandeten Stimmen und Gelächter auf und ebbten wieder ab. Mara konnte sie nicht orten. Anfangs hatte sie noch versucht, ihnen nachzugehen, den Ursprung der Geräusche ausfindig zu machen. Ohne Erfolg. Die Villa wirkte von Innen um einiges größer, als ihre Außenansicht zunächst hätte vermuten lassen. Es gab riesige Durchgangszimmer - das Interieur und abgeblätterte Farbe deutete auf gewesenen Reichtum hin – endlose Flure und eine Vielzahl von Treppen, die zu immer weiteren Fluren führten, an deren Seiten sich wiederum Durchgangszimmer befanden. <br />
Mehr als einmal hatte sich Mara verlaufen, konnte weder ihren Ausgangspunkt noch ins Freie finden. Es war daher angebracht, sich auf ihren Exkursionen jede Treppe, jede Abzweigung zu merken. Aber selbst dann war es noch schwer genug, nicht die Orientierung zu verlieren, zumal Räume und Flure sich überall stark ähnelten. <br />
Bald gab sie es auf, nach den Menschen zu suchen. Sie nutzte die Zeit, sich nach draußen in den verwilderten Garten zu begeben, dort die Steinskulpturen zu betrachten oder ausgedehnte Spaziergänge an der Straße entlang zu unternehmen. In der Hoffnung, doch noch auf Spuren irgendeiner lebendigen Zivilisation zu stoßen, kehrte sie bei Anbruch des Abends immer wieder enttäuscht um. <br />
Mara war isoliert, abgeschnitten von der Gemeinschaft. Ihre nächsten Freunde wurden Orchideen und Frösche, unter beiden gab es riesige Exemplare. Sie begann sie zu untersuchen und zu zeichnen. Sobald es dämmerte, ging sie in die Villa zurück, wo bereits das Abendessen angerichtet war. Die ihr vorgesetzten Speisen waren überwiegend vegetarisch, die seltenen Fleischbeilagen erinnerten sie an ihre neuen Freunde, die Frösche. <br />
Mara hatte keine Ahnung, wer ihr die Speisen zubereitete noch wer sie brachte. Einmal verbrachte sie den ganzen Tag im Haus, um wenigstens dieses Geheimnis zu ergründen, doch dann war sie kurz eingenickt und als sie die Augen wieder öffnete, fand sie in ihrer unmittelbaren Nähe stets einen gedeckten Tisch.<br />
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Goetz gewöhnte sich bald daran, für sich selbst zu sorgen. Er erledigte Einkäufe, kochte, und nachdem ihn ein Besuch im Badezimmer immer mehr Überwindung kostete, raffte er sich dazu auf, es gründlich zu reinigen. Es ging erstaunlich schnell, was ihn ermutigte, und bald darauf waren auch Küche, Wohn- und Schlafzimmer aufgeräumt. <br />
Er zog das Bett ab, betätigte die Waschmaschine, und damit war mit ihrem fortgewaschenen Geruch auch die letzte Erinnerung an Mara verschwunden. Kein Kissen mehr, in das er seine Nase voller Sehnsucht hätte hineindrücken können. Goetz lebte nun gänzlich alleine in der für ihn eigentlich viel zu großen Wohnung. Doch er genoss es, endlich Platz zu haben. Er hörte wieder öfter Musik und las dabei Bücher, die sich schon seit Jahren ungelesen im Buchregal aufreihten – ein stilles Mahnmal Goetzens Faulheit und Desinteresse. Der Fernseher blieb kalt. <br />
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Wie jeden Morgen wurde Mara von sanften Sonnenstrahlen geweckt, wie sie zuerst ihre Stirn küssten und dann die Nase neckten. Sie warf sich einen Morgenmantel über – wozu eigentlich? - und setzte sich an den gedeckten Tisch. Tischlein deck Dich! An dieses Märchen musste sie jedesmal unwillkürlich denken.<br />
Mara erledigte beinahe vergnügt ihre Morgentoilette und begab sich nach draußen. Es würde heute sehr heiß werden, deswegen nahm sie eine Decke mit und legte sich in den Garten, ganz in der Nähe des riesigen, umrankten Springbrunnens. Nach einer Weile fand sie es albern, angekleidet in der Sonne zu liegen, und sie legte ihre Kleidung samt Unterwäsche ab. Sie fläzte sich auf der ausgebreiteten Decke und döste bald darauf weg. <br />
Nach einer Weile stieg ihr ein seltsam vertrauter Geruch in die Nase, etwas säuerlich vielleicht, dazu die Note eines nahegelegenen Wildgeheges und der Geruch des Alters. Als sie die Augen aufschlug, stand über ihr ein faltiger Hautsack von Mensch, beinahe kahlköpfig. Ein alter, nackter Mann mit erigiertem Penis. Er gickerte, als sie ihn erschrocken ansah, und hüpfte sonderbar leichtfüßig davon, zurück in die Villa. <br />
Eilig raffte Mara ihre Sachen zusammen und kleidete sich im Gehen wieder an, den Alten atemlos verfolgend. Doch schon an der Haustüre verlor sich jede Spur. Sie beruhigte sich allmählich wieder, bekam einen klaren Kopf. Sie war nicht mehr alleine. Mara würde Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müssen.<br />
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Goetz fand eine Bar, die er nun regelmäßig besuchte. Es herrschte dort eine angenehme Geschäftigkeit, es lief keine Musik, und die Gespräche der Gäste waren verhalten, ein beruhigendes auf- und abwogen von Geräuschen, wellenförmig. Noch mehr Gefallen aber als an der Atmosphäre fand Goetz an der Bedienung hinter dem Tresen. Pablo war hochgewachsen, mit dichtem, dunklen Haupthaar, feinen Gesichtszügen und dabei wirkte er gänzlich unaffektiert. Er war tadellos in seinem Verhalten, stets freundlich und verbindlich seinen Gästen gegenüber. <br />
Als sich Goetz beim ersten Besuch an den Tresen setzte, fühlte er sich sofort wohl. Von nun an sonnte er sich regelmäßig in der wohlfeilen Aura des Spaniers. Dabei stieg in ihm ein heftiges Verlangen auf, dass er so noch nie einem Mann gegenüber verspürt hatte. Goetz war erschrocken darüber, aber auch neugierig geworden. <br />
Nun saß er schmachtend, fasziniert, aber auch irritiert auf seinem Barhocker, trank stumm seine Drinks, zahlte endlich und ging nach Hause. Seltsam aufgekratzt war er, fand keinen Schlaf und dachte nach. <br />
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Als Mara dieses Mal aufwachte, war da keine sie neckende Sonne, sondern vielmehr ein Schatten, der sich über ihre erwartungsfrohe Stirne legte. Dies erweckte ein Mißtrauen in ihr, und als sie endlich die Augen öffnete, entfuhr ihr ein Schrei: An ihrem Bett hatten sich zwei Gestalten versammelt, die im Gegenlicht schemenhaft wirkten. Als sie sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatte, erkannte sie zwei alte, knitterige Wesen, beide nackt. Es handelte sich um den selben Mann, der ihr am Vortag im Garten begegnet war, und eine fette Frau mit tief hängenden Brüsten und einer lichten, grauen Scham. Beide starrten sie Mara neugierig nach vorne geneigt an. Die Alte fasste Mara zwischen die Beine und roch dann an ihren Händen, lachte triumphierend auf, als hätte sie den Jungbrunnen gefunden. Dann rannten die beiden aus dem Zimmer, vorne die Alte, und hinter ihr der Alte, der ihr lachend einen Klaps auf die Hinterbacke verabreichte. Sie kreischte auf vor Vergnügen, und dann waren sie fort. <br />
Mara saß erschrocken in ihrem Bett, neben ihr auf dem Boden lag ihre Decke. Sie war sich sicher, in der Nacht ihre Zimmertüre verschlossen zu haben. <br />
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In einer weiteren, schlaflosen Nacht ging Goetz noch einmal vor die Türe, hinaus auf die Straße. Dann lernte er den schönen Paul kennen und nahm ihn mit zu sich. In seinen Armen konnte Goetz endlich schlafen. Am nächsten Morgen war der schöne Paul verschwunden, doch das machte ihm nichts. Er duschte, zog sich an und ging gutgelaunt zur Arbeit.<br />
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Mara gewöhnte sich allmählich an die morgendlichen Besucher. Sie hatte es längst aufgegeben, nächtens ihre Türe und die Fenster zu verschließen. Irgendwie fanden die Alten doch immer einen Weg zu ihr hinein. Ganz so, als sei sie ein ganz besonderer Fall, kamen andere Alte hinzu, um Mara zu betrachten, blieben dann wieder weg, nur um am nächsten Morgen wieder andere mitzubringen. Sie sprachen kein Wort, starrten Mara nur an, geschmückt nur durch ihre klebrig- glänzenden Schwänze und feuchte Mösen, bis diese aufwachte vom säuerlichen Geruch abgestandenem Geschlechtsverkehrs. Keiner fasste Mara mehr an, und sobald sie aufwachte, zogen sich die Alten langsam zurück und verließen nach und nach ihr Zimmer.<br />
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So ging es nun Nacht für Nacht, Goetz war schlaflos, ging auf die Jagd und weidete seine Beute zu Hause aus, geriet zuerst in Extase und dann in tiefen Schlaf. Doch das Gefühl, dass sich dabei einstellte, war flüchtig wie ein billiges Parfüm. Es hielt nur die Nacht und einen Morgen. Am Mittag schon fühlte Goetz nichts mehr, und am Abend kam die Entzugserscheinungen. In der Bar suchte er Linderung, bekam sie aber nicht. Alles Schmachten zu Pablo, dem Wirt, half nicht, es stellte sich nur rasende Begierde ein. <br />
Goetz hatte doch so viel Liebe zu geben, er wollte sie am liebsten der ganzen Welt schenken, oder Pablo. Doch weder die Welt noch Pablo, das spürte Goetz,schienen bereit für seine Liebe.<br />
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Plötzlich war die Villa, die vorher noch so verlassen schien, voller Leben. Sobald Mara ihr Zimmer verließ, huschten die Schatten der Alten durch die Flure, in die Zimmer hinein, aus den Zimmern heraus. Für ihr Alter, schienen diese Leute ziemlich aktiv. <br />
Wo immer sie sich auch umschaute, fand sie kopulierende Alte vor, denen keine noch so ausgefallene Sexualpraktik ausgefallen genug erschien. Sie waren ganz offensichtlich pansexuell.<br />
Mara fand sich fasziniert und abgestoßen zugleich. Sie hätte ebenso ihre Freunde, die Orchideen und Frösche im Garten besuchen können, doch die interessierten sie nicht mehr. Hier war etwas, dem sie auf den Grund gehen konnte.<br />
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Vom langen Abdul hatte er die Adresse bekommen. Seinen Namen hatte Abdul nicht seiner Körpergröße wegen, wie Goetz leidvoll, lustvoll am eigenen Leib zu spüren bekam. <br />
In der warmen Feuchte des Bäderbetriebes fand Goetz vorwiegend kreatürliche Männer jeden Alters vor. Sie waren allesamt stark behaart und kräftig, ganz und gar nicht Goetzens Linie. Doch er wollte dieses Mal einfach den Worten des langen Abduls vertrauen. Der schwärmte in den höchsten Tönen von den dortigen Ereignissen. <br />
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Je weiter sich Mara an ihre neuen Studienobjekte heranwagte, desto mehr wurde sie mit einbezogen, das war ihr bewußt. Es war eine gefährliche Promotion, die sie hier schrieb. Sie musste nur die Spielregeln herausfinden, sich daran halten, und nichts würde ihr passieren. Eine der Spielregeln hatte sie bereits herausgefunden: Abstand wahren! Sie durfte zuschauen, aber nicht zu nahe herantreten. Die Alten genossen ihre Blicke, ließen Mara aber in Ruhe. Ab und an hüpfte einer der Alten an ihr vorbei und lupfte kurz ihr Kleid, doch weiter ging es nie.<br />
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Niemand sprach ein Wort, und als sie sich gemeinsam in die Dampfsauna setzten, zehn nackte Männer jenseits jeglicher körperlichen Ästhetik, und er natürlich, Goetz. Er war dankbar, dass der Dampf deren Physiognomie bis zur Schemenhaftigkeit bedeckte. <br />
Goetz beobachtete, wie einer der Männer sein Gesicht in den Schoß eines anderen legte. Schon sehr bald darauf spürte er, wie zwei starke Hände seinen Kopf sanft umfassten und nach hinten drehten, und er seinerseits in den warmen, gepfählten Schoß seines Hintermannes gezogen wurde. Noch während er sich in einer drehenden Bewegung seines Körpers nach hinten beugte, drang in ihn weitere Wärme lustvoll schmerzhaft ein, und er fühlte sich dabei, als höbe er ab vor Leichtigkeit und Wonne. <br />
Goetz war im Himmel angelangt, und die Engel pusteten ihn von nun an von einer Wolke zu anderen, wie eine Feder so leicht schwebte er dahin, willfährig, missbraucht, wonnebeflügelt und bar jeden Kontrollvermögens.<br />
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Doch dann kam Mara einem kopulierenden Paar zu nahe. Sie selbst verspürte schon seit Tagen eine immense Lust, die sie versucht hatte, selbst zu befrieden. Was ihr jedoch misslang, da sie sich stets beobachtet vorkam. Nicht aus freiem Willen, vielmehr unbewusst, in einem Moment tiefer sexueller Ergriffenheit, fasste sie einer alten, schrumpeligen Vettel, welche sich gerade auf einem klapprigen Dürren befand, an die Schulter. Jemanden spüren, jemanden fühlen. Es war eine Offenbarung. Mara hatte schon so lange niemanden mehr berührt.<br />
Die anderen Alten im Raum, die um die kopulierenden Paare standen und sich selbst eine Pause gönnten, stimmten in einen leisen Chor ein. Sie kamen näher. Mara war nun eingekreist von den Alten, die ihre Hände nach ihr ausstreckten und auf sie zugingen. <br />
In Mara stieg Panik auf. Man musste ihre Annäherung wohl als Einladung missverstanden haben. Nun war sie umgeben von einer Dunstwolke aus Milchsäure, Essig, altem Schweiß und Kot. Mara schrie laut auf, was die Alten erschrocken zurückweichen ließ. Sie ergriff diese Gelegenheit zur Flucht, und noch während sie sich einen Weg durch die Alten hindurch bahnte, versuchten diese, sie festzuhalten. Mara schaffte es zur Türe hinaus und lief entsetzt durch die Gänge. Die Alten folgten ihr langsam, doch egal, wo Mara anhielt, um zu verschnaufen, kamen sie bereits herbeigeströmt. Kaum stieß sie eine Türe zu einem Raum auf, waren darinnen schon die Alten, von der anderen Seite des Zimmers herkommend – eine zähe, klebrige Masse, die sich nicht abschütteln ließ. <br />
Mara flüchtete eine Treppe hinunter, aber selbst dort schoben sie sich von unten die Stufen hinauf. Es war zwecklos, sie würde ihnen nicht entkommen können. Sie fiel auf die Knie und schlug ihre Hände vor das Gesicht. Erschrocken nahm sie wahr, dass diese alt und fleckig waren. Als Mara an sich hinab blickte, sah sie ihre Brüste schlaff an ihrem Körper herunterhängen und ihre Arme rapide altern.<br />
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HEK 21.12.2009holz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-6163341384230902916.post-58520580319259768802009-12-22T08:11:00.000-08:002009-12-22T08:11:43.394-08:00Moralist! Fortgesetzt!Es war dann so, dass ich zu einem ordentlichen Bußgeld verdonnert wurde, da ich ja die Straßenbahn so ganz ohne gültigen Fahrschein genutzt und dann auch noch den Kontrolleuren erbitterten Widerstand geleistet hatte. Man wies mich darauf hin, dass mich eine zweite solche Verfehlung zur unerwünschten Person machen würde und ich niemals wieder eine Straßenbahn ortsintern würde benutzen dürfen. <br />
<br />
Um dem vorzubeugen, entschloss ich mich dazu, erst gar keine ortsinterne Straßenbahn mehr zu benutzen. Erstens würde man mich darin sofort wieder erkennen und mit dem Finger auf mich zeigen. Das wäre mir unangenehm gewesen. Zweitens hatte ich Furcht, aus ähnlich moralisch zweifelhaften Gründen wie kürzlich, denselben Faux Pas wieder zu begehen. Und damit wäre ich für die Gemeinde einfach nicht mehr zu ertragen gewesen, ich hätte den Wohnort wechseln müssen, und mit dem üblen Leumund im Nacken wäre auch dort ein Neustart beinahe unmöglich gewesen. <br />
<br />
Deswegen entschied ich mich dazu, notwendige Wege einfach zu Fuß zu gehen. Damit war allen gedient: Dem örtlichen Nahverkehrsbetrieb, der Bevölkerung und natürlich mir selbst. Der Versuchung zu widerstehen hieß letztendlich, die Versuchung zu umgehen. Ich war ein trockener Schwarzfahrer, den eine einfache Bahnfahrt hätte rückfällig machen können.<br />
<br />
Als ich dann wieder einmal einen wichtigen Termin in der Stadt hatte, machte ich mich auf den Weg. Anfangs ging es auch gut voran. Doch dann, ich nahm eine Abkürzung durch den Park, stand ich abermals vor einer ernsten Situation: Während ich da so nichtsahnend vor mich hin lief, beinahe heiter, stand da ein großer schwarzer Hund vor mir und wollte mich gar nicht vorbei lassen. Schon überlegte ich, ob ich nicht einen Schlenker über den Rasen machen sollte, um die Blockade zu umgehen. Doch leider war das Betreten des Rasens verboten, und ich wollte mich nicht schon wieder mit Ordnungskräften jedweder Art anlegen.<br />
<br />
Besser schien es tatsächlich, sich der Bedrohung zu stellen, sogar konstruktiv mit ihr umzugehen. Ich hielt Ausschau nach dem Halter des Hundes. Ein paar Meter entfernt sah ich den einzigen Menschen weit und breit. In seiner Rechten baumelte eine Hundeleine, in seiner Linken hielt er ein Mobilfunktelefon. Er unterhielt sich angeregt und war wohl gerade nicht ansprechbar. Also wartete ich ein paar Minuten. Ich war mir aber auch nicht richtig sicher, ob der Hund dem Mann tatsächlich gehörte. Vielleicht handelte es sich ja um einen neuen Modespaß, eine Hundeleine um das Handgelenk geschlungen zu tragen. Heutzutage war ja alles möglich. <br />
<br />
Dann wurde ich jedoch ungeduldig, ich hatte ja einen wichtigen Termin einzuhalten. Deshalb rief ich dem Mann zaghaft zu, ob es denn sein Hund sei, der mir den Weg verwehrte, und wenn ja, ob es denn bitte möglich sei, seinen Hund zu sich zu holen, damit ich passieren könne. Doch der Mann reagierte zunächst überhaupt nicht. Dann rief ich, mit zitternder Stimme zwar, etwas lauter. Der Mann verdrehte die Augen, hielt das Mobilfunkmikrofon mit der Hundeleinenhand zu und entgegnete mir, ich solle doch an dem Hund vorbei laufen, er würde mir schon nichts tun. Ich war mir nicht wirklich sicher, ob ich einem fremden Mann ungeprüft Glauben schenken durfte, und blieb zunächst einfach stehen. Ich wiederholte mein Anliegen ängstlich, doch der Mann war wieder in sein Telefongespräch vertieft und schien mich nicht zu hören. <br />
<br />
So stand ich nun eine ganze Weile, und nichts bewegte sich. Ich hatte nun doch wirklich keine Zeit mehr, und so keimte in mir der Gedanke, die Alternative mit dem Umweg über den Rasen unter Umgehung der verbotenen Betretung desselben zu ergreifen. Leider tat ich dies dann so hektisch, dass der Hund wohl erschrocken war und nach meiner Hand schnappte, wobei ich diese panisch zurückzog und dem Hund mit der daran befindlichen Tasche versehentlich auf die Schnauze schlug. Er missinterpretierte dies als Angriff, sprang mich an und warf mich zu Boden, woraufhin er sich in meinem Arm fest biss. <br />
<br />
Endlich kam auch der Hundehalter hinzu und schimpfte mit mir: Was ich denn hier mit seinem Hund veranstalte? Ob ich denn nichts anderes zu tun hätte, als seinen lieben Freund zu ärgern und zu nötigen? Darauf hatte ich, wohl auch wegen des Schmerzes in meinem Arm und der ganzen Panik, die mich anheim fiel, nichts weiter zu entgegnen. Der Hundehalter beendete sein Telefongespräch wütend, und mir tat alles sofort leid. Immer machte ich alles verkehrt. <br />
<br />
Ich bat ihn trotzdem, den Hund doch bitte von mir fort zu nehmen, was dem Hundehalter allerdings nicht ganz leicht fiel, da der sich ziemlich an meinem Arm fest gebissen hatte, einerseits, und andererseits, weil es ihm wohl ganz gut gefiel, wie sein Hund mit seinem Peiniger umging. Aber letztendlich wollte er wahrscheinlich verhindern, dass das Tier durch ein allzu ruppiges Fortziehen in seinem Beißverhalten traumatisiert würde. <br />
<br />
Als es ihm endlich doch noch gelang, das Tier von mir zu befreien, bemaß er mich eines strafenden Blickes. So was hätte er nun noch nicht erlebt. So etwas dämliches. Ob ich denn nicht um die Natur des Tieres wisse? Ob ich denn nicht etwas aufpassen könne? Sofort entschuldigte ich mich bei dem Mann. Es täte mir leid, dass er sein Telefongespräch wegen meiner Person habe beenden müssen. Ich selbst habe aus purem Egoismus, bloß weil ich nicht zu spät zu meinem Termin habe kommen wollen, den Hund samt seinem Halter in eine unzumutbare Situation gebracht. Warum musste ich auch durch den Park gehen, wo ich doch wusste, dass man dort gerne seinen Hund von der Leine ließe? Was habe ich mir nur dabei gedacht?<br />
<br />
Jeder wisse doch, dass Hunde Angst und Unsicherheit wittern. Allein meine Unfähigkeit, diese Gefühle zu verbergen und stattdessen dominantes Verhalten zu zeigen, woraufhin der Hund bestimmt gekuscht hätte, hatte mir dieses Unglück eingebracht. Ihn, den Hundehalter, treffe ganz gewiss keine Schuld. Allein mein unangebrachtes Verhalten sei dafür verantwortlich. Es wäre mir überaus unangenehm, würde er, der Hundehalter, meiner Tollpatschigkeit wegen Schuldgefühle davontragen. Gar nicht zu sprechen von dem psychischen Schaden, den der Hund bestimmt erlitten habe. Wie ich dies bloß wieder gutmachen könne?<br />
<br />
Mir blieb nur eines: Mit meinem gesunden Arm zog ich die Brieftasche aus meinem Mantel. Der Hundehalter blickte sich verstohlen um, dann nahm er mir die ganze Brieftasche weg und verschwand, nicht aber ohne mich vorher noch einmal als Tierquäler zu beschimpfen und zu konstatieren, wie recht mir geschehe, und überhaupt: hoffentlich müsse mir der Arm amputiert werden. Ich fand, sein Ärger war durchaus gerechtfertigt. Ich würde wohl in Zukunft noch besser aufpassen müssen. Solche Fehler durften mir einfach nicht mehr passieren. <br />
<br />
Hernach fiel mir ein, dass ich ja noch etwas zu erledigen hatte. Doch zuerst musste ich mich noch etwas herrichten. Ich konnte unmöglich verspätet und mit blutendem Arm zu meinem Termin erscheinen. Was sollten die Leute von mir denken? Man hatte ja ohnehin schon ein wachsames Auge auf mich geworfen. Da musste ich mich wohl oder übel doppelt, nein dreifach anstrengen, um mich wieder akkreditieren zu können. Ich zog also ein Taschentuch aus meiner Brusttasche und versuchte die selbstverschuldete Wunde notdürftig zu versorgen. <br />
<br />
In jenem Moment aber trat ein Polizist auf mich zu und sprach mich an. Was ich denn hier machen würde? Ob mir klar sei, dass ich mich in unerlaubter Weise auf der Wiese aufhalte? Hier stünde doch klar und deutlich „Betreten Verboten!“. Ob mich die öffentliche Ordnung denn gar nicht interessiere? Er wolle bitteschön einmal meinen Ausweis sehen. Da ich keinen vorzeigen konnte, bezichtigte er mich der Landstreicherei und sprach einen Platzverweis aus. Dieses Mal hätte ich aber noch Glück gehabt, rief er mir hinterher. Beim nächsten Mal müsste ich einen ordentlichen Batzen Bußgeld entrichten. Mit solchem Gesocks wie mir habe er aber auch noch ganz andere Pläne, falls ich wisse, was er meine.holz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-6163341384230902916.post-37971874237774761052009-11-09T10:14:00.001-08:002009-11-09T10:16:21.625-08:00Kontrollbegabt.<blockquote><span style="font-size: x-small;">Kronos schenkte der Welt die Zeit. Zeus, sein Sohn, entmannte ihn SPÄTER. Selber Schuld!</span><br />
</blockquote>Einen Frieden finden<br />
wenn es mal wieder länger dauert<br />
und die Musik Gedanken stillt<br />
an der Zitzen der Zeit<br />
<br />
Komplikationen schnaufen im Rhythmus<br />
ich, die Galeere, die Ruder<br />
am Ruder die Hand, an der Hand der Arm<br />
und am Arm der Körper beugt<br />
<br />
sich schwer nach Vorne und zurück<br />
Reaktion statt Aktion<br />
Das ist nicht gut. Nein, gar nicht gut<br />
Einen Frieden finden in den Gezeiten<br />
<br />
Auf dass der Rhythmus meinig wird<br />
und ich steu're das Boot<br />
in den sich'ren Hafen kontrollbegabt <br />
Beherrscher der Zeitholz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-6163341384230902916.post-74795405113312924392009-11-09T10:05:00.000-08:002010-01-28T07:30:36.921-08:00In den Tag hinein.Darf ich mich zu Ihnen setzen? Bort, der sich bis eben noch am Tresen festhalten musste, damit er nicht gänzlich vom Barhocker fallen konnte, setzt das besoffenste Lächeln auf, das man sich nur vorstellen kann. <br />
<div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Bort ist ein Mann von beachtlicher Höhe. Und auch wenn es ihm innerlich an Tiefe mangelt, macht er dies wett durch stets korrekte und gut sitzende Kleidung. Selbst jetzt, da er sich volltrunken in einer Bar befindet, kann man ihm eine gewisse Attraktivität nicht absprechen.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Leider, das muss man so sagen, fühlten sich die Frauen durch Bort zuerst zwar angesprochen, doch wandten sich die meisten nach kurzer Zeit wieder ab: Er ist kein guter Plauderer, und auch das Zuhören fällt ihm schwer.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Langsam, beinahe vorsichtig dreht er den Kopf in jene Richtung, aus der er die weibliche Stimme vernommen hat und stellt dann folgendes fest: Es spricht tatsächlich jemand zu ihm, und es ist eine Frau, in jenem verlorenen Alter zwischen 30 und 40 Jahren, genauso wie er, Bort, zumindest fühlt er sich in diesem Alter so verloren, da ihm bewußt ist, dass es ihm an Perspektive mangelt, er die Unbefangenheit der Jugend schon lange abgelegt hat und sich dennoch nicht erwachsen genug fühlt, um das zu tun was man in seinem Alter eigentlich tut oder nach landläufiger Meinung tun sollte. Eher meint er zunehmend die Kontrolle über seinen schlaksigen Körper zu verlieren und versucht dem entgegenzuwirken, indem er elegante, maßgeschneiderte Anzüge aufträgt.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Bort grinst nun blöde, und als er dem Anliegen der Frau entsprechen will, nickt er ihr nur zu, wobei ihm der Kopf abzufallen scheint. Im Moment der Bewußtwerdung seines lächerlichen Zustandes hat er starke Zweifel daran, ob sie sein Einverständnis wahr nimmt und sich tatsächlich zu ihm setzt. Doch sie scheint sich daran nicht zu stören und nimmt Platz. Bort sieht: Dunkle, leicht gewellte, lange Haare, slawische Gesichtszüge mit den entsprechend weit auseinander stehenden Augen. Zu ihrem Gesicht trägt sie ein schlichtes, schwarzes, hochgeschlossenes Abendkleid, das ihr Dekolletee verbirgt und vielleicht gerade deshalb einen schönen Busen offenbart. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Sie lächelt ihn freundlich an und wartet eine Weile, die Augen fragend, wartend, auf irgendetwas, was Bort zu ihr sagen könnte. Was Borts Naturell entsprechend nicht passieren wird, da sein fieberhaft nach einem gesprächseinleitenden Satz suchendes Hirn blutet und seinen Verstand lähmt, seinen Mund in botoxhafter Weise offen stehen lässt. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Wenn Bort früher tatsächlich einmal in der Lage war, eine Frau aus zwar freien Stücken, aber nicht ganz freiem, weil geilem Willen anzusprechen, fehlte ihm am Ende jene notwendige Eloquenz, in ein profundes Gesprächsthema überzuleiten, wenn er zuvor irgendeine Banalität zum Besten gab, um überhaupt einmal zu eröffnen. Wie beim Schachspiel gelang es ihm nicht, die nötigen Züge zu tun, um zu gewinnen, obwohl er sich am Anfang stets gut schlug, sich sogar im Vorteil wähnte, aber dann aus lauter Ratlosigkeit eine Figur des Gegners nach der anderen weg schlug, bis das Spiel dadurch langweilig wurde, weil er die Situation zum Schluss nicht ausspielen konnte: Der König entwand sich immer wieder seinem Zugriff. Bort ist definitiv kein Fallensteller. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Mit Freunden hingegen gelang ihm die munterste Konversation, einmal angeregt war er kaum zu stoppen, ein Quell origineller Gedanken und Assoziationen. Dem anderen Geschlecht aber, zum Behufe der Partnerwahl, gegenüber versiegte dieser Fundus geistreicher Bonmots augenblicklich, da sich sein vegetatives Nervensystem auf Fluchtmodus einstellte. Hatte er dann auf ganzer Linie versagt und sich niedergeschlagen auf den Heimweg begeben, sprudelte die Quelle wieder und all die guten Dinge, die es zuvor zu sagen galt, wirbelten nutzlos, weil verspätet, in seinem Hirn umher. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Doch diese Frau, sie spricht nun zu ihm. Trotz seiner entfernten Gedanken und Unaufmerksamkeit genießt er ihre Anwesenheit, das weiche Timbre ihrer Stimme dringt in den Emotionen verarbeitenden Teil seiner Hirnwindungen. Daraufhin fühlt sich Bort geborgen. Zwar dämpft der Alkohol seine Wahrnehmung wie einst das Wasser in der Fruchtblase: warm und wohlig war's, das Herz, Blut pumpend pochend und die Außengeräusche waren gefiltert durch die Membran des Mutterbauches, erst nach der Geburt sollte Bort die Schrecken hochfrequenter Töne erfahren, welche den Bässen zwar erst Tiefe gaben, aber Bort ist nun einmal kein Mensch, der Fallhöhen zu schätzen weiß.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Vielleicht gerade weil er zeitlebens diese Mutterbaucherfahrung vermisst hat, sich in machen Zeiten in ihn zurückwünschte und wahrscheinlich deshalb die vaginale Nähe bei B. so intensiv gesucht hat – er wäre am liebsten ganz in ihr verschwunden statt nur mit seinem Teil – verbringt er sein Leben nun in dieser einen Bar, mit ihrem gedämpften Lichtern und Farben und Geräuschen. Er lebt sein Leben auf diesem Barhocker, haust hier, denkt, trinkt, trauert, erinnert. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
<blockquote>Wie er B. kennenlernte, oder besser: sie ihn! <br />
</blockquote></div><blockquote><div style="margin-bottom: 0cm;">Wie sie eben nicht vor ihm zurück schrak, nachdem sie ihn erlebt hatte. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Wie sie eben doch eine Tiefe in ihm ergründen konnte oder sie ihm diese wenigstens nicht absprach.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Wie sie verliebt, vernarrt ineinander, die Kurzwarenabteilung im Kaufhaus durcheinander brachten, nur so zum Spaß.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Wie sie zusammen gezogen sind und auch noch den 100sten Abend lachend miteinander verbrachten.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Wie sie beide ihre Gerüche verströmten und in Leidenschaft sich selbst vergaßen.<br />
</div></blockquote><div style="margin-bottom: 0cm;">Bort bestellt sich und seiner neuen Bekanntschaft noch ein Bier und einen trockenen Sekt. Sie prosten sich zu, stoßen an, und das, obwohl Glas und Flöte arge Feinde sind. Sie trinken auf ihr gemeinsames Wohl. Borts Kopf wird allmählich klarer, er kann nun wieder freihändig sitzen. Seine Hände braucht er nun zum Trinken, Rauchen, Erzählen. Die Zigarette hat er von der Frau. Sie macht ihn unbeschwert und schwebend, und er spricht von sich, von den Dingen, die er tut wenn er nicht von ihnen träumt, und von den Dingen, die er bereut, wenn er sie nicht tut. Sie hört ihm zu, lächelt an den richtigen Stellen – wenn Bort zum Beispiel amüsant wird – und zeigt krause Stirn, wenn Bort philosophisch wird. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Bort war glücklich mit B. Ihre Freunde störten sich vor allem an dieser gewissen Glückseligkeit, welche sich bei Verliebten nun mal einstellte. Obwohl sich die beiden allergrößte Mühe gaben, sich so natürlich wie möglich zu geben. Doch was ist natürlicher als ein Verhalten in Verliebtheit? Ihrer beider, früherer Normalität war schließlich einer neuen gewichen, sie waren verändert, hatten tief in ihrem Inneren versteckte Eigenschaften aus der Isolationshaft entlassen, ihre Persönlichkeiten aus der Eindimensionalität gerettet.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Als sie nicht mehr da war, hat er es zu Hause nicht mehr ausgehalten. In der gemeinsamen Wohnung erinnerte ihn alles an sie. Er hatte sich zunächst nicht getraut, die Bettwäsche zu waschen, weil ihr Duft noch darinnen war, doch gerade der Geruch war es, der ihm so arg zusetzte und seine Sehnsucht nur noch verstärkte. Doch er konnte sie nicht einfach auslöschen. Dann fand er, obwohl ihre persönlichen Dinge alle fort waren, doch immer wieder kleinste Gegenstände:<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><blockquote>Unter dem Bett eine Haarspange <br />
<br />
</blockquote><blockquote>Einen ihrer Schlüpfer in der Kommode<br />
</blockquote></div><blockquote><div style="margin-bottom: 0cm;">Ein von ihr im gemeinsamen Urlaub gekauftes Essbesteck, welches den Weg von der oberen Schublade in die unterste gefunden hatte und sich in einem Emailletopf wiederfand<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Eine Schallplatte in seiner Sammlung<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Ein Parfümfläschchen unter dem Sofa<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Haare in der Bürste<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Briefe, Notizen, welche sie ihm im Laufe der Zeit schrieb<br />
</div></blockquote><div style="margin-bottom: 0cm;">Und viele andere kleine Dinge, die großen Schmerz zu verursachen in der Lage sind. Die den Verlust spürbar machen. Er würde diesen Verlust nur überwinden können, wenn er alles hinter sich lassen würde. Deswegen ist er einfach gegangen, um fortan in einer Bar zu leben, in der sie beide niemals zuvor gewesen sind. Doch weil B. selbst dort ständig anwesend war, in seinen Gedanken, trinkt er. Nicht um zu vergessen, auch nicht um den Schmerz zu überwinden. Er weiß einfach nicht, was er sonst tun soll. Er trinkt auf B. und auf sein Leben mit ihr. Das Trinken ist ihm ein Akt reiner Festlichkeit geworden.<br />
</div><blockquote><div style="margin-bottom: 0cm;">Hab' keine Angst, ich bin Dir nah.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Ein Lächeln, zärtlich. Ein Kuss, gehaucht.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Die Bar, an der Decke ein Lichtermeer.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Der Barmann ganz real, ein authentisches Klischee.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Im Licht des Tresens funkelt das Glas der Flaschen.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Im Spiegel dahinter ein verlorener Mensch und der bin ich.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Die Geräusche gedämpft, eine Musik so halbwahr wie der Mond. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Die Tür nach Draußen, eine Verheißung.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Dass jemand kommen kann.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Dass jemand gehen kann.<br />
</div></blockquote><div style="margin-bottom: 0cm;">Gekommen ist jene Frau, mit der Bort nun spricht. Und während sie beide rauchen und erzählen, trinken, hat sie die Knie übereinander geschlagen, den Ellbogen am Tresen abgestellt, ihre Hand hält Zigarette und Kopf zugleich. Er hat immer wieder diesen einen Traum. Ob er ihn ihr erzählen darf. Sie stimmt zu. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
In diesem Traum gelingt es mir beinahe zu fliegen. Dieses Gefühl dabei, es scheint mir ganz vertraut, real zu sein. In manch wachem Zustand glaube ich dann, ich könnte das. Doch muss es ein Traum gewesen sein. Wie ich laufe und mit meinen Füßen immer größere Schritte mache, bis ich den Boden fast nur mit den Fußspitzen berühre und aus Schritten Sprünge werden, immer und immer größer. Fast als sei die Schwerkraft vermindert, verlasse ich den Boden zwar nicht ganz, doch verbringe ich nun mehr Zeit in der Luft. Es ist kein Schweben, vielmehr ein schwereloses Hüpfen, ein Gefühl der Leichtigkeit auf schwierigem Gelände. Und wie in einem Traum Gerüche und Geschmäcker vertraut scheinen und ganz real scheinen, kann man sie, zurück in der Realität, jedoch nie eindeutig zuordnen. So will es auch mit dieser Form der Leichtigkeit sein. Ich scheine dies alles tatsächlich schon einmal erlebt zu haben, kenne aber weder das wann und das wo. Kann mich einfach nicht erinnern. Wie ein Astronaut in einem Filmstudio bin ich, im Schutzanzug zwar, doch geknechtet von der irdischen Physik.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Bort stockt. Er kramt sich umständlich eine Zigarette aus der Jackentasche, will sie sich anzünden. Sie sagt: Ich habe auch Träume, Deinen nicht ganz unähnlich. Doch das Feuerzeug entgleitet ihm aus besoffener Hand und fällt zu Boden. Ungeschickt und schwindlig steigt er vom Hocker, kniet, sucht und findet. Er erhebt sich wieder. Verlegen lächelt er die Frau an, während er sich aufrichtet. Doch da ist keine Frau mehr. Er setzt sich auf seinen Hocker und wartet. Bort trinkt aus und bestellt sich ein weiteres Bier, trinkt es mit einem Zug aus, bestellt gleich ein neues, trinkt langsamer. Es kommt niemand mehr. Er bezahlt und tritt zum ersten Mal, seit wie langer Zeit eigentlich, zur Tür hinaus und atmet frische Morgenluft. Bort zieht die Jacke zusammen und geht los, zuerst langsam und dann immer schneller, auf Zehenspitzen in den Tag hinein.<br />
</div>holz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-6163341384230902916.post-41792546348697378602009-10-01T11:35:00.000-07:002009-10-03T04:26:33.589-07:00Die Croissant- AffäreAls es P eines Morgens gut mit S meinte, da brachte er ihm zum gemeinsamen Frühstück nebst gemeinen Körnerbrötchen auch ein Schoko-Croissant mit. Der war gerade für ein paar Tage zu Besuch in der Stadt. Aus unerfindlichen Gründen, so S, musste P wohl gedacht haben, dass er, S, diese Geste der Freundschaft begrüßen würde, was er aber, S, diesbezüglich nur sehr uneigentlich tat. Für S stand ein Schoko-Croissant symbolisch für eine durch und durch verkommene Gesellschaft, welche Stil mit Dekadenz nur allzu gerne verwechselt. <br />
<div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">S grauste es geradezu vor der aufdringlichen Schokoladenfüllung in den ohnehin schon vor Fett triefenden Croissants. Dieser harte Schmelz von erstarrtem Zartbitter, der sich nur ungut mit dem feinen Blätterteig in seinem Mund vermengen mochte, hatte in ihm einmal eine solche Übelkeit verursacht, dass es ihn nun jedesmal schüttelte, wenn er das fiese Backwerk auch nur aus der Ferne sah. S bevorzugte ganz klar das einfache Butter-Croissant, und wenn es schon gefüllt sein musste, dann bitte mit Marzipan! Die weiche Konsistenz des Mandelextrakts hatte gar nichts Erschreckendes an sich, und das war gut.<br />
</div><br />
<div style="margin-bottom: 0cm;">Nun wollte S aber auch nicht undankbar P gegenüber erscheinen. Er durfte sich seinen Ekel im Moment der morgendlichen Überrumpelung nicht anmerken lassen. P meinte es (siehe oben) einfach nur gut und wollte ihm eine Freude machen. Das durfte man auf keinen Fall vergessen! Also blieb S höflich und unterband den Würgreflex so gut es ging, hustete einmal kurz, ganz so als sei er erkältet, und verkündete mit freudigster Miene, er wolle den Schoko-Croissant später verspeisen, wenn er unterwegs sei in der Stadt und einmal eine Rast brauchte. Nun aber sei es ihm mehr nach etwas Herzhaftem. Also griff S zu einem Körnerbrötchen, schnitt es auf und belegte es mit etwas Salami. Das war gerade noch gut gegangen, dachte S selig kauend vor sich hin.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Als er etwas später in die Stadt ging, vergaß er das fiese Backwerk bald. Erst, als er sich etwas unter einer Weide ausruhen wollte und er in seiner Tasche nach einem Getränk suchte, fand er die fettfleckige Papiertüte mitsamt Inhalt. Er stieß sie angewidert zurück in die Tiefen seiner MessengerBag, trank einen Schluck und schickte sich an, das elende Croissant los zu werden. Er hätte es ja auch einfach wegwerfen können, aber das brachte S einfach nicht fertig. Es war die verfluchte Erziehung gewesen und was sie aus ihm gemacht hatte.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
<blockquote><b>Eine erhellende Anekdote zu S' Verhältnis zu Lebensmitteln</b><br />
</blockquote></div><blockquote><div style="margin-bottom: 0cm;">Als Kind einer Familie mit Nachkriegserfahrung musste S seinen Teller immer vollständig aufessen. Tagsüber war das nicht so schlimm, die Mutter drückte gerne mal ein Auge zu und verstaute das nicht fertig gegessene Essen im Kühlschrank. Spätestens zum Abendbrot aber, wenn der Vater von der Arbeit zurück war, wurde das übrige Mittagessen aufgewärmt, das S dann vertilgen musste. Damit aber nicht genug forderte der Vater, S möge auch noch eine Butterstulle essen. Nach dem Krieg wären die Zeiten so hart gewesen, das man hätte froh sein können um jeden zusätzlichen Bissen. Außerdem sehe er es nicht ein, das S sein Mittagessen in den Abend hinein verschob und deshalb das Abendbrot verschmähte.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">S musste also so lange am Esstisch sitzen bleiben, bis er auch seine Butterstulle gegessen hatte. Irgendwann einmal saß er aber so lange verzweifelt und satt vor seinem Teller, dass es dem Vater zuviel wurde und er lieber Sport schauen wollte. Diese Gelegenheit ergriff S, um seine Butterstulle hinter die Küchenzeile zu stecken. Nach einer viertel Stunde ging er ins elterliche Wohnzimmer und verkündete, er habe sein Abendbrot nun gegessen. Der Vater brummte zufrieden.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Diesen Trick behielt S dann ein halbes Jahr bei, vielleicht sogar noch etwas länger: Er wartete, bis es dem Vater zu lange wurde, stopfte sein Brot hinter die Küchenzeile und wartete eine angemessene Zeit ab, um seinen Gehorsam pflichtschuldigst zu melden. Alle waren zufrieden, bis die Eltern entschieden, dass eine neue Küche her müsse. S war nicht eingeweiht, aber als er eines Tages aus der Schule zurückkam, war die neue Küche eingebaut. Die Mutter starrte ihn feindselig an, sagte aber nichts. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Als die Mutter nämlich während des Abbaus der alten Küche die Menge an verwesten Butterstullen dahinter sah, war ihr Ärger groß. Das war selbst ihr zuviel, wenn Lebensmittel einfach fortgeworfen wurden. Als der Vater abends nach Hause kam, erzählte sie es ihm sofort, woraufhin der Vater bitterböse wurde und S ordentlich den Hintern versohlte. Fortan bleib der Vater so lange am Tisch sitzen, bis S sein Abendbrot verspeist hatte, und noch dazu drängte er auf ein baldiges Aufessen, denn die Sportschau wartete nicht. So kann man es also erklären, dass S bis heute keine Lebensmittel wegzuwerfen vermochte. <br />
</div></blockquote><div style="margin-bottom: 0cm;">Und deswegen versuchte S an jenem verhängnisvollen Tag, sein Schoko-Croissant einfach zu verschenken. Er dachte da an die vielen Menschen, denen es mangels Broterwerb nicht gelang, selbst für ein Mahl zu sorgen. Doch verschmähten selbst diese Leute das fiese Backwerk und wollten lieber etwas Kleingeld. S konnte das gut verstehen, und nach ein paar Versuchen gab er sein Ansinnen auf. Einfache Passanten hingegen schauten nur misstrauisch zurück, wenn S ihnen sein Croissant feil bot. Also steckte er die fettfleckige Papiertüte wieder ein und fühlte sich ein wenig hilflos. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Als S sich später mit Freunden zum Bier traf, und einige darunter sogar hungrig waren, sah er seine Chance. Doch auch diese winkten nur ab und bestellten lieber eine Pizza um die Ecke. Sie wollten nicht unhöflich sein und schätzten seine Geste, doch sei ihnen im Moment mehr nach etwas Herzhaftem. Verdrießlich fand S sich damit ab, dass er das fiese Backwerk bis zum jüngsten Tag in seiner Tasche herumtragen musste. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als die Tasche mitsamt ihres unappetitlichen Inhalts irgendwo zu lagern, am Besten wohl im heimischen Keller. Jedenfalls so lange, bis das Croissant zu Staub zerfallen wäre. Wie lange das wohl dauern mochte?<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;"><br />
Es wurde dennoch ein fröhlicher Abend, mit viel Bier und entspanntem Gelächter. S hätte das Croissant wohl vollkommen vergessen, wenn nicht P viel später dazu gestoßen wäre und verkündet hätte, dass er etwas hungrig sei. Die heitere Runde verwies P seltsam erleichtert auf jenes ominöse Schoko-Croissant, das S in seiner Tasche mit sich führe und jedem anböte, der nicht bei drei auf den Bäumen sei. <br />
</div>holz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-6163341384230902916.post-68606883598892594442009-09-16T13:08:00.000-07:002009-10-03T04:23:37.821-07:00Moralist, nicht integerIch schäme mich zutiefst! Mir ist große Schande widerfahren, und alles ist ganz alleine meine Schuld. Dabei empfinde ich mich als einen gründlichen, ordentlichen Menschen. Ich trage alle Termine in mein Filofax ein, Geburtstage wie Geschäftstermine, sogar Sperrmülltermine. Ich halte mich stets an Verabredungen und bin dabei grundehrlich: Niemals würde es mir in den Sinn kommen, jemanden zu betrügen oder zu übervorteilen. Manche Menschen halten mich deswegen für sehr naiv und außerdem auch altmodisch. Ich glaube nicht, dass gewisse Tugenden zu besitzen irgendwie altmodisch sein kann.<br />
<div style="margin-bottom: 0cm;">An diesem einen Tag im März überkamen mich allerdings starke Zweifel an meiner Integrität. Es fing damit an, dass der Fahrscheinautomat an meiner Bahnhaltestelle nicht funktionierte. Das Display reagierte auf keinerlei Eingaben, so sehr ich es auch probierte. In dem Bewußtsein, dass meine Bahn nun schon bald kommen würde, musste ich mir schnell Gewissheit über mein zukünftiges Handeln machen. Denn ich hatte an diesem Morgen einen dringenden Termin, den ich auf keinen Fall verspätet wahrnehmen durfte. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Es gab daher die Überlegung, trotz nicht vorhandenem Fahrschein in die Bahn einzusteigen. Doch wäre dies nicht Diebstahl? Nicht umsonst heißt es in den allgemeinen Geschäftsbedingungen des Verkehrsbetriebes, dass das Fahren ohne gültigen Fahrausweis mit einem erhöhten Beförderungsentgelt von sechzig Euro geahndet wird. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Umgehen beziehungsweise zeitlich begrenzen könnte ich den Diebstahl dadurch, wenn ich an der nächsten Haltestelle aussteigen würde und mir dort den erhofften Fahrschein löste. Bis dies aber geschehen war, wäre die Bahn längst weiter gefahren und ich müsste auf die nächste warten. Dadurch würde ich mich aber um zehn Minuten verspäten und gewonnen wäre gar nichts.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Andererseits konnte es ja nicht mir angelastet werden, wenn der Fahrscheinautomat defekt ist und ich daher keinen Fahrschein lösen kann. Probater wäre es allerdings, die Verkehrsbetriebe zu informieren und zu warten, bis der Fahrscheinautomat wieder seine Arbeit aufnimmt. Doch auch dies würde zu einer unkalkulierbaren Verspätung meinerseits führen und ist deswegen nur probat im Sinne des Verkehrsbetriebs, aber keineswegs in meinem.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Eine Alternative wäre es, zur nächsten Haltestelle zu laufen und dort den Fahrschein zu erwerben. Doch auch dann würde ich die bald herannahende Bahn knapp verpassen und das Problem der Verspätung bestünde weiterhin. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Die Bahn fuhr währenddessen ein, also musste ich schnell reagieren. Ich sprang dann einfach auf, und als ich das tat, beschloss ich den Fahrschein eben am Ende meiner Fahrt an der Zielhaltestelle zu lösen, sie zu entwerten und gleich fortzuwerfen, damit sie nicht in Hände eines Zahlungsunwilligen fallen konnte. Dies schien mir adäquat, denn ich würde den Verkehrsbetrieb ja nicht bestehlen, sondern einfach einen Kredit bei ihm aufnehmen. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Um meinen guten Willen und meine Ehrlichkeit zu demonstrieren, nahm ich keinen Platz in der Bahn, sondern blieb im Mittelgang stehen und hielt mich an einer der zahlreichen Handschlaufen fest. Denn wer noch nicht bezahlt hat, dem steht auch kein voller Service zur Verfügung, dessen bin ich mir voll bewusst. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Natürlich weiß ich, dass die Haltevorrichtungen und Schließmechanismen im Personenbeförderungswesen hochgradig verseucht sind mit Bakterien aller Art. Dies war eben der Preis, den ich für meinen nicht in beiderseitigen Einvernehmen, also eigenmächtig abgeschlossenen Vertrag, mit dem Verkehrsbetrieb zu zahlen hatte. Ich würde deshalb sofort nach Beendigung der Fahrt Hygienetücher im der Zielhaltestelle nahe gelegenen Drogeriemarkt kaufen müssen. Mit etwas Glück würde dieser Akt des Konsums nur circa zwei Minuten dauern, auf dass ich mich nicht allzu sehr verspäten würde. Eine angemessene Entschuldigung für diesen zeitlichen Fehltritt fiel mir sobald zwar nicht ein. Ich würde deshalb einfach vorschlagen müssen, dass ich für jede verspätete Minute eine unbezahlte Überstunde machen würde. Ich finde, das bin ich ihnen schuldig, denn sie können ja am allerwenigsten etwas dafür, dass der Fahrscheinautomat nicht funktionierte und ich deswegen gezwungen war, die mit Bakterien verseuchten Haltegriffe des Fahrzeugs zu ergreifen, dies nur meiner Integrität willens, und ich daraufhin auch noch Hygienetücher benötige, um meine Hände zu reinigen, bevor ich jemandem die Hand schüttele. Das ziemt sich nicht, ich hoffe sie haben dafür Verständnis und weisen mich nicht ab.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Aber wahrscheinlich würden sie dann sagen, ganz recht, es sei allein meine Schuld, wenn ich zu spät käme. Denn ich hätte auch schon eine Bahn früher nehmen können, und wenn ich dann nämlich gemerkt hätte, dass der Fahrscheinautomat nicht funktionierte, dann hätte ich genügend Zeit gehabt zum nächsten zu gehen und dort einen Fahrschein zu lösen. Ich hätte einfach die übernächste Bahn genommen und wäre trotzdem pünktlich bei meinem Termin gewesen. Außerdem hätte ich auch keine Hygienetücher im Drogeriemarkt kaufen müssen, da ich aufgrund meines reinen Gewissens ruhig einen Sitzplatz hätte nehmen können, am Besten mit den Händen in den Manteltaschen, und keinerlei Kontaminierung wäre möglich gewesen. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Meine Güte, sie hätten damit tatsächlich recht gehabt. Und da fing ich doch ganz selbstverständlich an, über meine Integrität und meine sogenannte Gründlichkeit nachzudenken. Wenn ich es mir recht überlegte, hatten meine Bemühungen, es allen recht zu machen, alle Beteiligten nur geschädigt: Ich saß ohne Fahrschein in der Bahn. Dem Verkehrsbetrieb entging dadurch zwar nur ein minimaler Betrag, aber stellen Sie sich einmal vor, jeder würde das so machen. Da spielt es auch keine Rolle, wenn ich bereit bin, den Fahrtpreis an der Zielhaltestelle zu zahlen. Noch dazu mussten Menschen auf mich warten, einige Lebenszeit wegen meiner Unzuverlässigkeit verschwenden. Und ich selbst schade damit natürlich meinem Ansehen: Wer lässt sich schon gerne mit einem Dieb und Betrüger ein? Sie vielleicht? Sehen Sie!<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">In diesen Überlegungen gefangen, bemerkte ich zu meinem Leidwesen, dass die Bahn sich gerade von meiner Zielhaltestelle entfernte. Ich hatte es versäumt, auszusteigen. Nun versuchte ich den Zugführer dazu zu überreden, mich doch noch hinaus zu lassen. Denn ich käme deswegen sicher noch weitere fünf Minuten zu spät zu meinem Termin, nicht dass ich zuvor noch in einen Drogeriemarkt müsse, da ich die Haltevorrichtungen der Bahn berührt hatte. Doch der Zugführer verneinte nur, das ginge nun mal nicht, und schloss das Fenster zum Passagierraum beinahe zornig. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Wie sollte ich diese zusätzliche Verspätung nun wieder erklären? Dafür gab es eigentlich gar keine Entschuldigung mehr. Es würde mir auch nicht helfen, zu beteuern, dass so etwas bei mir noch niemals vorgefallen sei. Man würde es mir schlicht und einfach nicht glauben.<br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Nun hätte ich beinahe die Folgehaltestelle auch noch verpasst, doch gelang es mir gerade noch rechtzeitig, die Bahn zu verlassen. Mit schnellen Schritten verließ ich die Haltestelle, um vielleicht doch noch etwas Zeit gut zu machen. Doch dann bauten sich zwei Herren mit Dienstausweis vor mir auf und fragten mich, wo ich denn so schnell hinwolle. Ob ich denn einen Fahrschein hätte? Man hätte mich eben beobachtet, wie ich ganz schnell aus der Bahn entschwunden sei und mich aus dem Staub machen wollte. Dies sei allerdings verdächtig, meinte der kleinere der Kontrolleure. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Und da fiel mir ein, dass ich ja eigentlich vorgehabt hatte, einen Fahrschein an der Zielhaltestelle zu lösen, zu entwerten und wegzuwerfen. In meiner Zerstreutheit hatte ich das ganz vergessen. Wahrheitsgemäß erläuterte ich den Kontrolleuren, dass ich keinen Fahrschein hätte, da der Fahrscheinautomat an der Starthaltestelle defekt gewesen sei, so dass es mir unmöglich gewesen sei, einen Fahrschein zu lösen und dass ich mir eben genau deshalb keinen Sitzplatz genommen hätte, weil ich beim Verkehrsbetrieb ja quasi einen Kredit aufgenommen hätte und ich es unverschämt gefunden hätte, mich dann auch noch zu setzen und ich eigentlich auch vorgehabt hatte, besagten Fahrschein am Ende der Fahrt zu lösen, dies aber aufgrund meiner Eile nun doch vergessen hätte, es nun aber jederzeit, trotz meines Terminproblems, zwei oder drei Minuten mehr oder weniger würden jetzt ja auch nichts mehr ausmachen, noch nachholen könne, bitteschön. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Nun, ich hätte wohl warten müssen, bis der Automat repariert gewesen sei, so der größere der Kontrolleure. Oder ich hätte zur nächsten Haltestelle laufen müssen, in der Hoffnung, dort einen funktionstüchtigen Fahrscheinautomaten anzutreffen. Keinesfalls aber sei es legitim, einfach ohne Fahrschein ein Fahrzeug der Verkehrsbetriebe zu betreten, denn dies hätte nun einmal ein erhöhtes Beförderungsentgelt zur Folge, wird man denn kontrolliert. Außerdem sei ja gar nicht bewiesen, dass ich keinen Sitzplatz beansprucht hätte, argwöhnte der kleinere Kontrolleur. Und die Ausrede, ich hätte nach der Fahrt einen Fahrschein lösen wollen, hat sich ja wohl kaum bestätigt, nachdem ich ja nun ohne angetroffen wurde. Verzwickt sei die Lage, doch nicht für sie, die Kontrolleure. Denn es sei klar, dass ich bis auf weiteres sechzig Euro zu entrichten hätte. Wolle ich Einspruch erheben, solle ich das gerne tun, doch die Chancen auf Erfolg stünden gering bei dieser Sachlage. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Ich hätte das erhöhte Beförderungsentgelt sehr gerne sofort bezahlt, schon alleine um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, denn allmählich wurden aus sieben acht, aus acht neun Minuten und wer weiß wie lange die Sache noch gedauert hätte. Leider offenbarte mir ein Blick in die Geldbörse nur einen dort angelegten Betrag von neunzehn Euro und vierundreissig Cent. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Dann müssten sie eben leider einen Bußgeldbescheid ausstellen, und dazu benötigten sie meine Personalien. Aufgrund des Zeitdrucks verließ mich jede Geduld und ich geriet in Panik. Wie lange würde das wohl noch dauern? Ich hatte doch einen Termin einzuhalten, und jetzt schon würde ich mich um zehn Minuten verspäten. Wie sollte ich dies jemals erklären? Ich versuchte, den beiden Kontrolleuren zu entkommen, indem ich mich zwischen ihnen durchzwängte und einfach los rannte. Doch die beiden waren schneller und warfen mich schon wenige Sekunden später zu Boden. Der kleinere der Kontrolleure setzte sein Knie auf meinen Brustkorb, während der größere die Polizei anrief. <br />
</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Ganz allmählich versammelten sich Passanten um uns herum, einige zeigten mit den Fingern auf mich. Sie tuschelten alle, wollten die Sensation ergründen. Einer fragte, was denn passiert sei, woraufhin ihm der größere der Kontrolleure entgegnete: Schwarzfahrer! Und schon wurden mir böse Blicke seitens der Passanten zuteil, einige unter ihnen zischten böse: So eine Schande!<br />
</div>holz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.com2tag:blogger.com,1999:blog-6163341384230902916.post-54729203641573587162009-08-18T06:27:00.000-07:002011-06-01T06:25:58.074-07:00Terminal2Es war vorhersehbar gewesen. Gerade verließen wir unser Haus an der Küste, das wir von unserem Arbeitgeber gestellt bekommen hatten. Der Bus, der uns zum Flughafen bringen sollte, war komfortabel, Air-Condition Inside, wie ein Aufkleber uns verheißen hatte, was auch einfach nur bedeuten konnte, dass die Fenster sich öffnen ließen. Dieses Mal hatten wir Glück, es handelte sich um einen tatsächlich gut gekühlten Bus mit sehr viel Beinfreiheit. Draußen waberte derweil eine tropische Hitze, die unseren Augen Tricks spielte und die Kleidung innerhalb von Sekunden durchschwitzen ließ. <br />
<div style="margin-bottom: 0cm;">So war es die letzten Monate gewesen. In der Tat war dieses Wetter unerträglich: klebrig, feucht, heiß, faulig. Stinkendes Brackwasser ließ Milliarden von Stechmücken heranreifen und uns angreifen. Im Land herrschte ein eklatanter Mangel an Autan, und Moskitonetze waren ebenfalls ständig vergriffen. Stiche juckten erbärmlich und entzündeten sich durch die ewige Kratzerei. Wir waren übersäht von unschönen, nässenden und eiternden Exzemen. Bis dahin verloren meine Frau und ich mehrere Liter Blut, so scherzten wir uns jedenfalls den unangenehmen Zustand beiseite. </div><div style="margin-bottom: 0cm;">Im Büro war es dank einer funktionierenden, laut pochenden Klimaanlage gerade erträglich genug, so dass ich den Aufenthalt dort dem Haus vorzog, in dem ein Kühlschrank offenbar verzichtbarer Luxus gewesen war. Ein Deckenventilator wälzte die heiße Luft lediglich um und verschaffte uns keine Linderung. Was Wunder, dass meine Frau die Tage bis spät in die Nacht alleine im Haus verbrachte, weil ich Überstunden machte. Arbeit war hier eine willkommene Abwechslung. Meiner Frau setzte dies allerdings sehr zu, die Hitze und das Alleinsein. Und so waren wir beide sehr froh, als meine Tätigkeit hier enden sollte und der Heimflug endlich anstand, zurück ins kalte Deutschland. Heizung, Kühlschrank, nordisches Klima. </div><div style="margin-bottom: 0cm;">Die Fahrt zum Flughafen indes sollte laut Reisebüro über mehrere Stunden dauern, also präparierte ich mich mit Arbeitsmaterialien. Der Bericht musste geschrieben werden. Im Bus beschrieb ich Postits, die ich zwecks Übersicht ans Busfenster kleben wollte, was aber misslang, da die Klebestreifen sich wohl mit Feuchtigkeit vollgesogen und ihre Klebefähigkeit dadurch verloren hatten. Es war geradezu lächerlich, dass ein klebrig-feuchtes Klima ausgerechnet Klebstoff zu neutralisieren in der Lage war. </div><div style="margin-bottom: 0cm;">Auf einer Rast sprach mich einer der Mitfahrer an. Er redete freundlich auf mich ein, allein ich verstand nicht, was er mir zu sagen hatte. Die Landessprache hielt ich nicht für nötig zu erlernen, Englisch verstand er wiederum nicht, was ihn dazu veranlasste, französisch mit mir zu sprechen. Was soll ich sagen, der zweite Bildungsweg beinhaltet keine zweite Fremdsprache. Daraufhin versuchte er mir sein Anliegen mit Händen und Füßen zu verdeutlichen. Auch dies Misslang. Am Ende kritzelte er etwas mit einem Stock in den staubigen Boden. </div><div class="separator" style="clear: both; text-align: center;"></div><div style="margin-bottom: 0cm; text-align: center;"></div><div style="margin-bottom: 0cm;"></div><div style="margin-bottom: 0cm;">Dies verstand ich ebenso wenig. Allmählich verlor ich die Geduld, doch da beschied uns der Busfahrer, dass die Reise nun weiter ginge. </div><div style="margin-bottom: 0cm;">Ob es sich nun um Polizei oder um Militär handelte, die den Bus etwas später kontrollieren sollte, war in diesem chaotischen Land nicht nur unwesentlich, sondern auch gar nicht ausmachbar. Doch als Gäste besaßen wir einen Sonderstatus, eine Immunität vor Strafverfolgung und Willkür. Beides schien ebenfalls völlig ununterscheidbar, doch schützte es uns bisher davor, Opfer irgendeiner fehlgeleiteten Justiz zu werden. </div><div style="margin-bottom: 0cm;">In der Vergangenheit dieses heißen, schmutzigen Landes hatte es diverse Regimewechsel gegeben, die wie üblich aus Glaubensfragen hervorgingen. Mal herrschten jene mit dem Glaubensbekenntnis zum Kapitalismus, mal jene mit dem Bekenntnis zum Islam. Beides waren sie Seelenheil und Wohlstand versprechende Religionen, deren Kämpfer stets grausam und unbarmherzig waren und die weder das eine noch das andere einhalten konnten oder wollten. Das letzte Regime hatte deutsche Ingenieure für den Wiederaufbau des Landes bestellt, das aktuelle wies sie nun wieder aus dem Land und machte sich daran, ebensolche Ingenieure aus den muslimischen Nachbarländern zu rekrutieren. Und das sollte mir nur recht und billig sein, konnte ich doch mit meiner Frau nach Hause.</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Der Polizist/ Milizionär, der unser Gepäck durchsuchte, hob ein Päckchen in die Höhe und rief nach seinen Kollegen. Ich weiß bis heute noch nicht, was darinnen war, denn das verriet man uns selbstverständlich nicht in dem darauf folgenden, stundenlangen Verhör in einem örtlichen, baufälligen Gebäude. Soviel stand aber für die Polizisten/Milizionäre fest: Jemand musste uns beauftragt haben, eben jenes Päckchen mit dem Flugzeug ins Ausland zu schmuggeln. Doch nach der Injektion einer Droge schien alles darauf hinzudeuten, dass wir tatsächlich von nichts wussten, höchstens eine Ahnung hatten, wer es uns hatte zukommen lassen.</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Unsere Mitfahrer waren offenbar ebenfalls in dieses Gebäude verbracht worden und hatten offenbar die gleichen Verhöre hinter sich, wie an deren desolaten Zustand unschwer zu erkennen war. Einige darunter, überwiegend Europäer, waren sehr ungehalten über diese Behandlung, und beschimpften die Polizisten/Milizionäre, weswegen sie einige Blessuren davontrugen. Seltsam kalt blickten die Wachleute in die Menge, während sie auf sie einprügelte. </div><div style="margin-bottom: 0cm;">Der Offizier, der mich zuvor verhört hatte und nun mit uns im Raum war, begleitete mich in einen separaten Raum, in dem einige Mitfahrer in einer Reihe aufgestellt waren. Unter ihnen war auch derjenige, der mich auf der Rast angesprochen hatte. Ich deutete auf ihn, weil man von mir verlangte, alle anzuzeigen, mit denen ich auf der Fahrt Kontakt hatte. Freilich teilte ich dem Offizier mit, dass ich nicht wisse, ob er es war, der mir das Päckchen zugesteckt hatte. Noch während ich dies erklärte, fiel ein Schuss und der Mann sackte tödlich getroffen zu Boden. Dann wurde mir schwarz vor Augen.</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Als ich schweißdurchnässt aufwachte, befand ich mich in einem Bus älterer Bauweise. Ich geriet sofort in Panik, weil ich dachte, ich würde nun in ein Gefängnis transportiert. Dann bemerkte ich meine Frau neben mir, die mich beruhigte. Sie sei die ganze Zeit wach gewesen und hätte mitbekommen, dass wir nun endlich zum Flughafen führen. Unsere Papiere und unsere Gepäckstücke wurden uns wieder ausgehändigt, nur der ursprüngliche Bus sei zur Beweisaufnahme konfisziert worden, was immer das heißen solle. Zudem hätten wir nun beide ein lebenslängliches Einreiseverbot. Ich sagte noch, dass ich darauf scheißen würde, bevor ich erschöpft, aber beruhigt in einen weiteren, tiefen Schlaf fiel.</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Endlich erreichten wir den internationalen Flughafen und sahen den Terminal, weiß strahlend wie eine Verheißung. Die asphaltierten Landebahnen glühten in der Hitze und ein Geruch von Teer stieg in meine Nase. Die nationalen Flaggen hingen müde von den Fahnenmasten und symbolisierten nur mehr ein ermattetes Land. Das ohrenbetäubende Geräusch startender Flugzeuge störte die wabernde Ruhe des Mittags. Sogar die allgegenwärtigen Zikaden waren es müde, Laut zu geben. Es fiel mir auf, dass keine Flugzeuge landeten. Immer nur flogen sie davon, doch keines schien ankommen zu wollen. </div><div style="margin-bottom: 0cm;">Sonderbarerweise umfuhr unser alter Bus den Terminal weiträumig, änderte dann aprupt die Richtung, woraufhin wir uns eine ganze Weile auf einer Piste befanden. Der Terminal wurde zusehends kleiner, bis er ganz aus unserem Sichtfeld entschwand. Am Ende der Piste befand sich eine provisorisch zusammengenagelte Schranke und ein kleines Wärterhaus. Dahinter lag ein weites Gelände, umzäunt von einem Stacheldraht. Wir hielten an. Der Busfahrer bedachte die hervortretenden Wachen mit schnarrenden Worten. Die Wachen hoben die Schranke an und winkten den Bus herein. Wir fuhren weiter.</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Von da an war der Weg unbefestigt, der Bus holperte über Schlaglöcher in verbrannter Erde. Staubwolken folgten uns. Endlich kamen wir an einer Baracke an, baufällig stand sie in der Einöde. Mit weißer Farbe stand darauf „Terminal 2“ geschrieben. Wir stiegen aus und streckten unsere Glieder. Irgendwie hatten wir nichts anderes erwartet nach den Vorkommnissen an diesem Tag. Gerne hätten meine Frau und ich etwas getrunken, leider war der Getränkeautomat außer Betrieb. Einige Passagiere versuchten es dennoch, hoben fluchend Sand aus dem Ausgabeschacht. Daraufhin schauten wir uns etwas um, vertraten uns die Beine. Wir entdeckten dabei eine Sandpiste. </div><div style="margin-bottom: 0cm;">Nahendes Motorengeräusch kündigte eine Maschine an. Sie setze am anderen Ende der Piste auf und kam stolpernd und hustend näher, wie ein alter, kranker Mann. Es handelter sich dabei um eine zweimotorige Dornier, die bei näherer Betrachtung bestenfalls als klapprig zu bezeichnen war. Ein Fenster im Passagierbereich war eingeschlagen, und als die Besatzung die Maschine verlassen wollte, klemmte die Tür zunächst, bis sie sich mit einem Ruck öffnete und hernach schief in den Scharnieren hing. Dennoch war ja der Beweis erbracht, dass dieses Teil flugtauglich war, und die Aussicht, nach Hause zu kommen ließ es uns als das schönste Flugzeug dieser Welt erscheinen. </div><div style="margin-bottom: 0cm;">Die anderen schnatterten und blökten wie Vieh, als sie das Gerät erblickten, waren weitaus weniger zuversichtlich. Wie um sich abzulenken vor drohendem Ungemach tauschten sie sich aus mit vielen Geschichten über Erlebtes, über Länder, Sitten, über Kunst und Siechtum. Als dann plötzlich ein Kleintransporter einfuhr, neben den zwei uniformierten Fahrern eine aufgeregte Frau, wahrscheinlich eine Britin, war die Überraschung groß. Sie teilte uns mit, dass im Terminal 1 eine wichtige Übertragung eines Fußballspiels gezeigt werde und lud uns höflich dazu ein, mit ihr zu kommen. Mich selbst interessiert der Sport nicht sehr, und ein Blick auf die an der Baracke angebrachte Zeittafel wies darauf hin, dass unsere Maschine wohl bald starten würde. Doch einige Passagiere, darunter meine Frau, ließen sich in Erwartung dieser willkommenen Abwechslung davon nicht beirren und stiegen auf die Ladefläche des Transporters. Sie hinterließen eine Staubwolke zur Erinnerung.</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Ich setze mich in einen Schatten und wartete darauf, einzuchecken. Der Durst war mittlerweile unerträglich geworden, und beinahe beneidete ich meine Frau, die nun wahrscheinlich bei gut gekühlten Getränken diese banale Spiel betrachtete. Die Hitze flimmerte mir vor Augen, und die Exzeme begannen wieder zu jucken und zu nässen. Mein Tuch war mittlerweile unbrauchbar geworden, es war feucht und voller Dreck. Ich warf es weg, es lag wie ein Fremdkörper im heißen Staub. Dann dämmerte ich weg. Mir träumte von saftigen Wiesen und kalten, klaren Bächen. Meine Frau reichte mir Gebäck zum Tee, und wir waren beide nackt. Plötzlich wurde der Bach trübe von brauner Erde, bis das Wasser ganz versiegte und an seiner Stelle Sand floss. Ich schaute meiner Frau in die Augen, doch da waren keine Augen mehr, nur dunkle Löcher, aus denen derselbe Sand rieselte wie im Bach. Sie sagte etwas, doch ich konnte es nicht verstehen, da das herannahende Pferdegetrappel zu laut war. Dann ergoss sich aus ihrem Mund Schlamm und ich wurde wach.</div><div style="margin-bottom: 0cm;">Die Reiterinnen waren gekleidet in lange Gewänder und in ihre Gesichter verhüllende Kopfbedeckungen. Es war nicht die landesübliche Bedu-Tracht, viel moderner, fast futuristisch mutete die Kleidung an, wie von Gaultier entworfen. Die Anführerin unter den fünf Frauen war in ein leuchtendes, elegantes Weiß gewandet, ihre Kopfbedeckung verbarg ihr vornehmes Gesicht nur halbseitig. Ihre Begleiterinnen hatten zum Teil gehäkelte Masken mit herausgearbeiteten Nasen. Sie sattelten ihre Pferde ab, versorgten sie und banden sie fest. Dabei schaute mich die Anführerin beiläufig an, ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung. In diesem Moment starteten die Motoren des Flugzeugs und wir wurden aufgefordert, einzusteigen. Die Augen der Frau waren Fallen.</div><div style="margin-bottom: 0cm;">HEK 18.02.2009</div>holz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-6163341384230902916.post-28322961014380345972009-08-18T06:21:00.000-07:002009-08-18T06:39:38.815-07:00Am Ende eines KorridorsAls ich es dann endlich schaffte, einen neuen Job zu bekommen, war ich überglücklich. Mein alter Arbeitgeber war ein richtiges Schwein, er grabschte nach jedem, der noch einen letzten letzten Rest von Ehrgefühl hatte, und schuf unter den Angestellten ein Klima von Mißgunst und unwürdiger Abgeklärtheit. Ich möchte nicht mehr darüber sagen. <p style="margin-bottom: 0cm;">Nun aber war ich in einem kleinen, familiären Betrieb gelandet, und ich fühlte mich sofort wohl. Schon nach wenigen Wochen gelang es mir, Freundschaften unter den KollegInnen zu schließen. Die zwar mit viel Arbeit ausgefüllten Stunden vergingen schnell, ein Plausch war allemal möglich. Die Kundschaft, mit der ich zu tun hatte, erwies sich als sehr angenehm, mehr als ich mir erhofft hatte. Selbst die Dienstfahrten innerhalb der Stadt waren mir eine willkommene Abwechslung, konnte ich mir doch ausreichend Zeit dafür nehmen.</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Dabei wurde mein Einsatz für die Firma stets gelobt, schnell hatte ich bei meinem Vorgesetzten einen Stein im Brett. Völlig neidlos befeuerten mich meine KollegInnen, die ja auch allesamt einmal hier angefangen hatten und ähnliche Erfahrungen gemacht haben mussten. In ihren entspannten Gesichtern und ihrer lockeren Körperhaltung erkannte ich meine eigene Zukunft. Genau so wollte ich schließlich einmal aus dem Berufsleben ausscheiden: Entspannt und neugierig auf meinen Lebensabend. Keineswegs aber gehetzt und über den Tod hinaus gedemütigt, was mir eine andere, vergangene Zukunft prophezeite.</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">....................................................................................................</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Alles sollte anders werden. Man traf sich mit den KollegInnen zu freundschaftlichen Zusammenkünften, kochte gemeinsam und lachte viel. Der Betrieb florierte unterdessen, wuchs trotz der freundschaftlichen Laxheit stetig und erzielte enorme Gewinne. Insgeheim durften wir uns alle auf eine kleine Gehaltserhöhung freuen, und nach einem Jahr Betriebszugehörigkeit stand mir ein komfortabler Bürostuhl zu, der dreh- und sogar höhenverstellbar ist und sogar fünf Räder untendran hatte. </p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Diese kleine Schrulligkeit, dem Personal nach und nach Gemütlichkeiten zukommen zu lassen, entsprach meinem Vorgesetzten sehr, der sich schließlich ebenfalls in seinem Leben alles erarbeiten musste, Stück für Stück. Er zählte bereits 32 Lenze, so pflegte er beim gemeinsamen Dinner gerne zu schwadronieren, bevor er überhaupt seinen ersten Schreibtisch bekommen habe. Und es dauerte weitere fünf Jahre, bis er Ansprüche auf den dazu passenden Bürostuhl erworben hatte. Bis dahin erledigte er seine Arbeiten auf dem Fußboden kauernd, denn das lange Stehen fiel im schon von Kindesbeinen an schwer. „Aber Opi erzählt mal wieder vom Krieg“ prustete er dann los und überliess das Gespräch wieder seinen Angestellten, die sich ganz vortrefflich alleine unterhalten konnten.</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">.......................................................................................................</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Unser Vorgesetzter war nun schon längst im Rentenalter, doch blieb es unvorstellbar, dass er uns jemals verlassen würde. In seine offen gezeigte Heiterkeit mischte sich in den letzten Monaten jedoch eine Verwundbarkeit, ja sogar eine Art von Traurigkeit, die sich in seine krause Stirn eintrug. </p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Dann kam ein Gerücht auf: Der Betrieb habe die oberste Gewinnmarge überschritten und müsse nun expandieren oder vor die Hunde gehen, raunte eine Kollegin. Ein anderer Behauptete das glatte Gegenteil. Der Gewinn sei fortgebrochen und nun suche man nach einem Investor, das habe ihm der Vorgesetzte in einer nachlässigen Minute jedenfalls erzählt. Bei genauerem Nachfragen stellte sich jedoch heraus, dass der Kollege nur gelauscht hatte und sich mit einem Mal nicht mehr so recht sicher war, was er nun gehört habe und was nicht. </p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Wie dem auch sei, aufgrund dieser mehr als vagen Aussagen geriet das Betreibsklima etwas aus den Fugen. Jeder machte sich Sorgen um sich selbst, das Gemeinwohl litt sehr darunter. Der Vorgesetzte wurde Tritt auf Schritt beobachtet, jede seiner Bewegungen analysiert und gewogen. Allein, sie ließen keinerlei Rückschlüsse zu. </p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Doch alles blieb beim Alten, es ließen sich keine Anzeichen für eine Änderung feststellen, die Gerüchte verblichen wie alte Fotografien, bis sie gänzlich in sich zusammen fielen und in Vergessenheit gerieten. Allmählich entspannte sich die Belegschaft wieder. Es wurde gescherzt und gelacht, und alles war wieder wie früher, ging seinen gewohnten Gang. </p> <p style="margin-bottom: 0cm;">............................................................................................................</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Im Nachhinein waren die Zeichen für den Wandel unübersehbar. Der Vorgesetzte ließ sich kaum noch blicken, und wenn doch, dann war seine Sorgenstirn noch krauser als sonst. Auch sein Lachen über die Scherze der Angestellten klang hohl, und seine eigenen Witzigkeiten waren durchdrungen von einem seltsamen Schmerz. Es war zu leicht gewesen, das alles auf sein fortschreitendes Alter zu schieben. Da kämen halt die kleinen Zipperlein und eine Altersgrantigkeit, meinten die KollegInnen nicht nur einmal. </p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Andere glaubten zu wissen, dass seine Verrentung bevorstand und er nicht damit klar käme. Denn was sei er denn ohne seine Firma, ohne seine Angestellten? Doch all diese Vermutungen bestätigten nur unsere eigene Blindheit und verdeutlichte unsere überstarke Angst davor, das Unvermeidbare zu erkennen.</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Dann trat unser Vorgesetzter eines Tages an, verkündete knapp die Übernahme unseres Betriebes durch ein anderes Unternehmen und seinen Weggang. Er teilte uns sein Bedauern mit, aber am Ende sei es nicht mehr anders gegangen. Wie sich herausstellen sollte, war das Unternehmen, dass von nun an die Geschäfte unseres Betriebes leiten sollte, jenes, aus dem ich zuvor ausgeschieden war. Nun ja, dachte ich, solange alles beim Alten bliebe bei uns, dann wollte ich mich nicht sorgen. </p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Unser Vorgesetzter verabschiedete sich und verliess uns in schleppendem Gang, aals sei es sein Weg zum Schaffott und wir seine letzten Zeugen. Keiner sprach mehr ein Wort, alle blickten betreten zu der Seite, auf der sich schon unsere neue Zukunft auftat, als dort einige schwarzgekleidete Herren ihre Aktenkoffer öffneten.</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">.................................................................................................................</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Nichts blieb, wie es war: Unser gemütlicher Betrieb musste umgehend verlassen werden, man verfrachtete uns wie Vieh in das mir verhasste Firmengebäude des Unternehmens. Nun aber waren dort die Decken viel niedriger als zuvor, die Büros waren zudem viel kleiner, als ich es in Erinnerung hatte. Wie uns später erklärt wurde, hatte die Unternehmensleitung es veranlasst, einige Zwischenetagen einbauen zu lassen, damit die neue Belegschaft aufgenommen werden konnte. </p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Die kleinen Parzellen, in denen wir nun arbeiten mussten, waren stickig und heiß. Die marode Klimaanlage, die direkt über unseren Köpfen angebracht war, schlug einen metallischen Rhythmus, dem Paukenschlag auf einer Galeere gleich. Wie Ruderer stempelten wir im Takt Papierberge ab. </p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Die Stammarbeiter im Betrieb hassten uns sofort, weil sie wegen uns in eine ähnliche Situation geraten waren. Auch ihre Decken waren nun niedriger und ihre Büros kleiner. Es bereitete ihnen keine Befriedigung, dass wir geringer entlohnt wurden als sie. Wir waren ihre Feinde.</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Auch unter uns verschlechterte sich das Klima zusehends. Erstmals seit langem bemerkte ich wieder denselben Neid und diesselbe Missgunst unter den KollegInnen, wovor ich einst geflüchtet war. Mir schnürte sich die Kehle zu, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Es war überdeutlich, dass ich sofort würde kündigen müssen. Meine glückliche Zukunft, die ich mir noch vor wenigen Wochen so farbenfroh ausmalte, war plötzlich überschattet von Furcht.</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">.......................................................................................................................</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Am nächsten Tag ging ich gleich hinauf zur Chefetage, um mit der Sekretärin einen Termin zu vereinbaren. Sie beschied mir, ich könne gleich hier oben bleiben, der Chef nehme sich so bald wie möglich Zeit für mich. Allerdings müsse ich die Zeit, die ich hier verbrächte, nacharbeiten. Ihre Augen schauten streng unter der Brille durch, als sie dies sagte. </p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Das mache mir nichts, denn es sei wichtig, antwortete ich und setze mich auf den mir zugewiesenen Stuhl. Ich wartete daraufhin Stunde um Stunde. Ich sah die Sonne untergehen und die Sterne funkeln, und dann verschwanden die Sterne und die Sonne ging wieder auf. Es kam sodann der Morgen und der Mittag, dann die Nacht, und erst am dritten Tag wurde ich in das Büro des Chefs hineingebeten. </p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Sie möchten also kündigen, wie ich höre?</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Der Chef hatte keinen Sinn für Nettigkeiten. Nie gehabt. </p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Sie wissen, dass das nicht so einfach für Sie sein wird wie beim letzten Mal? Offenbar erinnerte er sich an mich. Ich antwortete ihm, ich sei bereit, alles zu tun, nur um seine Firma verlassen zu können, zur Not verzichtete ich auch auf mein Gehalt für die letzten Wochen. </p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Das wird nicht reichen, und das wissen Sie! Die Übernahme Ihres Betriebes hat uns viel Geld gekostet. Wir müssen daher eine Ablösesumme von 50.000 Euro von Ihnen verlangen.</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Soviel Geld habe ich aber nicht.</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Ich schluckte schwer, schmeckte Blut in meinem Speichel.</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Dann bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als die Summe bei uns abzuarbeiten! Sie können es sich überlegen. Gehen Sie jetzt zurück an die Arbeit.</p> <p style="margin-bottom: 0cm;">Als ich die Tür hinter mir schloss, stand ich vor einem langen Korridor, dessen Ende ich nicht mehr erblicken konnte.</p>holz e. von baldhttp://www.blogger.com/profile/01886693804256436029noreply@blogger.com0