Donnerstag, 4. Februar 2010

Auf die Insel!

Als man feststellte, dass sie fast nur noch verwaltungsinterne Vorgänge bearbeiteten, begann man, alle Beamte und Fachangestellte der Verwaltungen auf eine südlich gelegene Insel zu verbringen. Dort sollten sie für den Rest ihrer Tage sich selbst überlassen bleiben und das tun, was sie am besten können: sich selbst verwalten!
Im Lande selber beschloss man, den Dienst am Bürger den kundenorientierten Dienstleistern zu überlassen, was im allgemeinen sehr gut angenommen wurde. Wenn ein Arbeitsloser zum Beispiel in Arbeit vermittelt wurde, schickte man ihm nun zusätzlich einen Blumenstrauß samt Grußkarte.
Man freute sich ganz ehrlich, dass die Menschen aus dem "Bezug" heraus fielen. Früher wurden die "Bittsteller" sang- und klanglos aus dem System gestrichen. Neue kamen hinzu, und sie waren außer arbeitslos vor allem eines: lästig!
So ging es den BürgerInnen mit sämtlichen Ämtern und Verwaltungen. Doch nun war alles gut. Sie fühlten sich endlich ernst genommen und mussten für jeden Antrag nur noch drei statt der üblichen 10 Durchschläge einreichen. Es war jetzt alles so viel einfacher.
Doch nach einiger Zeit hörte man von den BewohnerInnen der "Verwaltungsinsel" nichts mehr! Hatten sie es tatsächlich geschafft, zu gedeihen und sich fortzupflanzen? Waren sie endlich vollkommen unabhängig und benötigten keinerlei Unterstützung mehr? Noch vor wenigen Monaten wurde die Regierung von Anträgen auf Entwicklungshilfe geradezu bombardiert.
Man versuchte, Kontakt zu knüpfen, wollte schließlich Geschäfte mit dem endlich prosperierenden Eiland machen. Doch auf derlei Anfragen gab es keinerlei Reaktion. Also schickte die Regierung ein Erkundungsteam auf die "Verwaltungsinsel", um nach dem Rechten zu sehen.
Als das Team dort ankam, war es nicht schlecht erstaunt: Die Häuser waren zerfallen, in ihnen befand sich kein Leben mehr. Auf den Schreibtischen lagen Unmengen von unbearbeiteten Anträgen, Ablehnungen und Widersprüchen. Sämtliche Topfblumen waren verwelkt. An den Tischen saßen mumifizierte Leichen, die bunte Gießkännchen in ihren Händen hielten.
Sofort wurden Experten hinzu gerufen. Sie sollten erforschen, was denn in der Zwischenzeit passiert sei. Die einfache Antwort war schnell gefunden: Die BewohnerInnen hatten sich gegenseitig zu Tode verwaltet! Die Experten erklärten es der Regierung exemplarisch an einem Beispiel: 
Eine beantragte Dose Thunfisch verursachte einmal solch einen Verwaltungsaufwand, dass hinterher keiner mehr die Kraft hatte, sie zu öffnen, als sie endlich am Bestimmungsort angekommen war. Bei näherer Ansicht des Aktenverlaufs unter Zuhilfenahme forensischer Spurensicherung stellte sich folgendes heraus: Selbst wenn der Antrag 1554c (Bestellung einer Dose Thunfisch) samt Folgeantrag 1554d (öffnen der Dose Thunfisch) positiv entschieden worden wäre (die zuständigen Behörden mahnten wiederholt Formfehler in der Antragstellung an), wäre der Antragsteller trotzdem verhungert. Dies lag ganz besonders an folgendem Umstand:
Eine Verwaltungsfachangestellte wurde aufgrund ihres mehrfach abgelehnten Antrags auf eine höhere Gehaltseinstufung dermaßen brüskiert, dass sie aus Trotz den Antrag 234a (Antrag auf Zuteilung und Zustellung eines Dosenöffners) unter ihrem Schreibtisch verschwinden ließ. Der Antragsteller war übrigens nicht zwangsläufig derselbe, der ihre Gehaltserhöhung rechtsgültig abgelehnt hatte. Doch hatte sich die Abneigung der Verwaltungsfachangestellten gegenüber ihren KollegInnen so sehr manifestiert, dass sie ihren Dienst prophylaktisch in jeder Sache verweigerte.
Solche und ähnliche Geschichten passierten nun tausendfach auf der "Verwaltungsinsel", so dass am Ende alle Abläufe einer geregelten Gesellschaft ins Stocken gerieten. Die Regierung sah ein, dass es so kommen musste: Es ist niemals gut, domestizierte Wesen einfach in der freien Wildbahn auszusetzen, ohne sie in die Gefahren ihrer ureigensten Natur einzuweisen.
Die Insel ist übrigens für Jahrzehnte unbewohnbar, da einsetzende Regenfälle die im Laufe der Zeit entstandene Papierwüste in eine unwirtliche und nicht zu bewirtschaftende Pappmaschee- Landschaft verwandelt hatten.
Heute überlegt die Regierung übrigens ernsthaft, ob sie nicht die letzten Arbeitgeber auf ein anderes einsames Eiland verbringen soll. Sie könnten sich dort so wunderbar gegenseitig ausbeuten und ihre Erträge in taumelnde Höhen treiben. Die BürgerInnen des Landes wären hocherfreut: Das Leben würde dadurch so viel leichter und die Arbeit brächte vielleicht endlich wieder etwas Freude.

HEK 29. Juli 2007