Bender erschrak. Gerade hatte er sich die Bilder der Konfirmation seiner Tochter angeschaut, als er sich auf einem Bild inmitten der Gäste erkannte. Das heißt, zuerst erkannte er sich nicht. Schließlich war die Person von hinten fotographiert, umgeben von Kolleginnen und Kollegen, was Bender erstaunt hatte. Wer mochte die Person mit der lichten Stelle am Hinterkopf wohl sein, die sich da angeregt mit Frau Griese von der Personalverwaltung unterhält? Erst Benders Frau konnte für Aufklärung sorgen: Hennek, das bist doch Du!
Es überraschte Bender nicht sehr, dass
er sich selbst von hinten fotografiert nicht erkannt hatte. Das würde
wahrscheinlich jedem passieren, insofern man wie er eine unauffällige
Frisur sowie ausschließlich neutrale Kleidung trägt. Auch hatte er
sich nie besonders mit seiner Statur beschäftigt. Er war eben nicht
besonders groß und leicht untersetzt. Wie viele Männer in seinem
Alter war Bender vollkommen unauffällig. Das machte ihn
verwechselbar. Irritiert hat ihn vor allem die lichte Stelle am
Hinterkopf. Die war ihm selbst an sich selbst nie aufgefallen. Das
teilte er Marie abends im Bett mit.
Es ist ja nicht so, dass ich eine
Glatze besonders schlimm fände, begann er seinen Monolog. Marie
schmunzelte verächtlich. Eine Glatze, dafür kann man ja nichts. Es
passiert vielen, dass ihnen ab einem gewissen Alter die Haare
ausfallen. Ich aber habe davon gar nichts bemerkt. Normalerweise
merkt man es doch beim Duschen, wenn die Haare ausfallen. Oder
spätestens beim Kämmen, und wenn dann nicht, dann bleiben sie
vielleicht am Kragen oder auf der Schulter hängen. Am Jackett oder
sonstwo. Marie gähnte.
Bender hob erneut an: Nun, man schaut
sich ja auch selten von hinten an. Neulich, in der Anprobe, habe ich
einen jungen Mann gesehen, der nachgeschaut hat, ob die Hosen am
Hintern gut sitzen. Ich fand das gewöhnungsbedürftig, soviel
Eitelkeit. Aber auch er hat sich nur auf den Hintern geglotzt, nicht
auf den Hinterkopf. Inwiefern ist also ein Mann in der Lage, bei sich
selbst Haarausfall am Hinterkopf zu diagnostizieren? Er schubbste
Marie leicht mit dem Ellbogen an, die daraufhin erwachte, sich
pflichtschuldigst aufsetzte und benommen fragte: Waa-as? Ich habe
Dich gefragt, inwiefern ein Mann in der Lage ist, bei sich selbst
Haarausfall am Hinterkopf zu entdecken, wiederholte Bender.
Och Hennek, ich bin müde. Lass mich
schlafen! Doch Bender gab nicht auf. Ich sage Dir, wie ein Mann
seinen beginnenden Haarausfall entdecken könnte: Seine direkte
Umgebung zum Beispiel könnte ihn darauf hinweisen. Sie könnte
sagen: Schau, Hennek, da hinten an Deinem Kopf ist eine kahle Stelle,
das sieht doof aus, mach was dagegen. Es könnten Freunde sein, die
mir das sagen. Es könnte mit großer Wahrscheinlichkeit mein Friseur
sein. Aber wenn die alle nichts sagen, dann müsste mich wenigstens
meine Frau über den Zustand meiner Haarpracht informieren. Und
dann?, wollte die gelangweilte Marie wissen. Was hättest Du mit
dieser Information angefangen?
Ich hätte mir womöglich die Haare
ganz kurz geschnitten. Auf keinen Fall hätte ich probiert, die kahle
Stelle mit anderem Haar zu verwurschteln. Ich wäre ehrlich mit
meinem Haarausfall umgegangen. Aber so sehe ich doch völlig
lächerlich aus. Mein Kopf sieht von hinten aus, als hätte man ihn
geplättet. Wie eine Flunder. Wie ein abgenutzter Flokati. Mit so
einem Hinterkopf macht man sich überall lächerlich. Der Chef schaut
einen an und sagt: Sieh an, der Bender, ein patenter Kerl eigentlich.
Aber jetzt tut er so als habe er keine Glatze. Das zeugt nicht von
Haltung. Den kann ich nicht befördern. Oder die Kollegen: Die machen
sich womöglich über mich lustig, wenn ich den Raum verlasse.
Im Nachhinein wurde Bender vieles klar.
Er fühlte sich tatsächlich bei der letzten Beförderung übergangen.
Hinzu kam: Neuerdings waren die Kollegen immer so seltsam gut
gelaunt, sie lachten viel und verstummten dann, wenn er den Raum
betrat. Nachdem er wieder ging, setzten sie ihre Gespräche oft
gutgelaunt fort. Klopfte ihm nicht der kahlrasierte Müller einmal
sogar gönnerhaft auf die Schulter? Gab es vielleicht ein Komplott
gegen ihn? Und war sein Friseur zu Anfang der letzten Sitzungen nicht
gesprächig wie immer, wurde aber dann plötzlich still und
konzentriert, sobald er sich um Benders Hinterkopf kümmerte? Und
schließlich seine Frau, Marie: Sie schliefen kaum noch miteinander.
Ekelte sie sich vielleicht vor seiner Glatze? Vermutete sie, dass mit
dem allmählichen Verlust der Haarpracht auch die Manneskraft
abhanden käme, wie weiland Samson?
Am meisten verärgert war Bender über
die Tatsache, dass ihn niemand auf sein Malheur hingewiesen hatte.
Als zögen alle einen Vorteil daraus, solange er nur in Unkenntnis
darüber bliebe. Als schöpften sie Kraft aus dem Verlust seiner
Haare. Genau so musste es gewesen sein. Da half auch nicht, dass
Marie beteuerte, sie habe gedacht, er wüsste bescheid über den
Zustand seines Hinterkopfes. Sie habe das Thema nur aus Rücksicht
auf ihn nicht angesprochen, schließlich wolle sie ihn nicht
verletzen. Daher habe sie so getan, als sei nichts gewesen. Und das
mit seinen Kollegen, bitteschön: Das bilde er sich ein und zeige
nur, wie recht sie hatte bezüglich seiner Empfindlichkeit.
Bender verließ das eheliche Bett im
Streit, zog sich an und machte sich auf den Weg in die nächstbeste
Bar. Zuerst steuerte er in die Kneipe um die Ecke, fand aber die
desolaten Gestalten an der Theke nicht anziehend. Deshalb vermaß er
den Kiez, in dem er seit 15 Jahren lebte und niemals ausging, neu.
Zum ersten Mal sah er, was sich dort überhaupt ereignete. In die
ehedem karge, graue Schlafstadt war allmählich eine Lebendigkeit
eingekehrt, die ihm zuvor entgangen war. Wollten ihn alte Freunde in
Berlin einmal besuchen, um dort etwas zu erleben, wiegelte er oft ab:
In seinem Kiez sei absolute tote Hose, da gäbe es gar nichts, und
sie sollten sich lieber ein Gästezimmer in einem der Szenekieze
nehmen. Bender hatte sie allesamt versehentlich angelogen: Er lebte
längst in einem Szenekiez. Es war ihm nur bei all der Arbeit und dem
Familienleben nicht aufgefallen.
Da war sein Spätkauf, in dem er
allmorgentlich seinen Coffee to go holte, bevor er dann im Innern der
U-Bahn verschwand und erst nach 20 Minuten wieder aus dem Boden
auftauchte. Dort verbrachte er den Tag mit Verwaltungstätigkeiten.
Dann verschwand er unter der Erde, tauchte wieder auf und holte sich
am selben Spätkauf eine Zeitung, bevor er sich nach Hause begab. Um
dort zuerst die Zeitung zu lesen und beiläufig Stefan, seinem
ältesten Sohn, und Melanie, seiner konfirmierten Tochter, zuzunicken
und ihnen ggf. etwas zuzugrummeln. Dann kochte Marie was, und alle
aßen still, während der Fernsehapparat das Esszimmer erleuchtete.
Wochenends gab es anfangs noch Ausflüge. Doch wegen des jugendlichen
Desinteresses an allem seitens der Kinder unterließ man später auch
das und war froh, wenn sie lange (jedoch nicht zu lange) aus dem Haus
gingen und man seine Ruhe hatte.
Kurz: Benders geregeltes Leben gab es
nicht her, abends um die Häuser zu ziehen und mit Freunden die
Neuerungen innerhalb des eigenen Kiezes zu bestaunen. Zumal sich die
Freundschaften auf den Kollegenkreis beschränkten und bei genauerer
Betrachtung auch das keine richtigen Freundschaften waren, sondern
eher vielleicht Bekanntschaften? Menschen eben, die man zu
Konfirmationen einlud und mit denen man sich mehr oder minder
freiwillig ins Restaurant verabredete. Und nun wagte sich Bender zum
ersten Mal seit Jahren über die selbst gesetzten Grenzen seines
Kiezes hinweg und spürte das pulsierende Leben und das Flimmern der
Jugend. Wie muss es Alice gegangen sein, als sie der elterlichen
Strenge durch den Spiegel floh.
Bar an Bar säumte die Straße. Bender
neidete das vorwiegend junge Publikum, das dort eng beisammen saß
oder flanierte, oft ineinander gehakt und laut lachend, mit
alkoholischen Getränken in der Hand, die selbstbewusst an- und
dann mit ausladenden Gesten wieder abgesetzt wurden. Dieser Elan
begeisterte ihn. Diese jungen Menschen hatten noch keine
Vorstellung von der Ernsthaftigkeit des Lebens. Leid und Kummer
kannten sie kaum, und falls doch, war die Halbwertszeit nur kurz. Sie
prahlten und protzten mit ihrer kaum erwachten Sexualität und ihren
unerforschten Körpern, frei von allen Makeln des Alters und der
Vergänglichkeit.
Bender schaute an sich herunter und
fühlte sich unendlich alt. Gleichsam wähnte er sich betrogen und
beraubt seiner eigenen Jugend, die er plötzlich für
verplempert hielt. Verplempert mit Gedanken an den Beruf und die
Familie, vergeudet mit der Tristesse des Alltags. Schlafen, Arbeiten,
Essen. Der Rhythmus eines Biedermannes. Und während all dieser Zeit
verliert er unbemerkt seine Haare, und was noch schlimmer ist: Die
eigene Frau verliert das Interesse an ihm. Und wie ist es hier, in
dieser atmenden, schwitzenden Welt der Jugend? Freilich, auch die
jungen Leute sind vorwiegend an sich selbst interessiert. Doch
brauchen sie stets einander, um sich selbst erkennen zu können. Die
Altersgenossen sind der Spiegel, und das macht sie zu echten,
interessierten und mitteilsamen Freunden. Wie er seine eigenen Kinder
doch um ihre Jugend beneidete, und wie sehr er verstehen konnte, dass
sie die familiäre Enge nicht oft genug verlassen konnten.
Und da stand Bender nun inmitten des
Chaos und des Lärms und war fassungslos bis glücklich. Es machte
ihm nichts aus, wenn er hie und da einmal angerempelt wurde, er
wollte nur dieses Flair einatmen und ein Teil des Ganzen werden. He,
Opa, aus dem Weg! Was iss'n mit Dir? Bender schaute irritiert auf. Er
blickte auf ein hübsches Mädchen, vielleicht Anfang zwanzig, bei
ihr vier nicht minder hübsche Begleiterinnen. Willste 'n Schluck?
Bender nickte und setzte die Flasche an. Klebrigsüßes mit einem
Schuss Alkohol rann ihm die Kehle herunter. Er wischte sich den Mund
und gab die Flasche zurück. Was ist das?, wollte er wissen. Wodka
RedBull, mit Zeug drin!, lachte das Mädchen und ging weiter. Mach's
gut, Opa! Und pass' auf Dich auf!, rief ein anderes. Alle fünf
lachten lauthals.
Bender ging kopfschüttelnd, aber
erheitert, weiter. Er hatte sich dazu entschieden, sich in einer der
stilvolleren Bars zu betrinken. Er war einigermaßen überrascht, wie
sehr ihn der Schluck aus der Flasche betrunken gemacht hat. Nur
wenige Minuten später kam der erste Schwindel, und er begann die
Umgebung allmählich in seltsamen Farben zu betrachten und hatte auch
den leisen Verdacht, Dinge zu sehen, die es im Grunde gar nicht gab.
Höllisches Zeug, dachte er und wollte mehr davon. Als er endlich
eine angenehme und doch belebte Bar fand, kehrte er ein. Es hatte ich
eigentlich nicht viel geändert seit damals, als er nach Berlin kam.
Immer noch spielten Lichtprojektionen eine große Rolle, und die
Musik hatte sich in den letzten zwanzig Jahren nicht wesentlich
geändert. Die Einrichtung war immer noch improvisiert, cordbezogene
Cocktailsessel standen nebst Plastikstühlen und abgeranzten
Nierentischchen. Selbst das Personal gab sich ähnlich
desinteressiert wie damals.
Er bestellte einen Wodka RedBull und
wunderte sich, wie wenig dieser Drink dem vorangegangenen in der
Wirkung ähnelte. Möglicherweise war die Mischung zu schwach. Also
bat er der Barkeeper, doch etwas mehr Zeug in den Drink zu mischen.
Ey Alter, was hast'n Du für'n Problem. Was für Zeug? Bender gab
sich hartnäckig: Na Zeug eben. Wenn Du's nicht weißt, woher soll
ich's dann wissen? Der Barkeeper grummelte etwas in den Lärm hinein:
Wenn du meinst. Macht aber 20 Euro extra! Bender nickte, und da legte
der Barkeeper ein Tütchen mit einer Pille darinnen auf die Theke,
hieb mit einem Hammer darauf ein und überreichte es Bender mit den
Worten: Wohl bekomm's! Bender zahlte und rührte die pulverisierte
Masse in seinen Drink.
Er fühlte sich herrlich. Bender saß
in einem bequemen Sessel und betrachtete selig grinsend das Treiben
um sich herum. Die Bässe wummerten angenehm in der Magengegend, und
die hübschen Gesichter der Mädchen wärmten sein Herz. Es war ihm
nicht unangenehm, dass er ganz offensichtlich als Kuriosum
wahrgenommen wurden. Besser, ein Dirty Ol' Man als niemand zu sein,
dachte er zufrieden. Unter seinesgleichen war Bender unauffällig und
farblos. Hier unter den Jungen, Bunten und Schrillen war er ein Exot.
Nur manchmal schienen ihm die Farben etwas zu schrilll, und die
Gesichter der Mädchen verzerrten sich ab und an zu Fratzen. Aber
dann verwandelten sie sich zu Vögeln, die meisten in Fasane und
Paradiesvögel, andere in Krähen und nur wenige in Puten. Das war
lustig und auch ein wenig beängstigend.
Bender verspürte plötzlichen
Harndrang. Da begab er sich zur Toilette und stellte sich an ein
Pissoir. Mit einer Hand musste er sich an der Wand festhalten,
während er mit der anderen versuchte, den Reißverschluss zu öffnen.
Es gelang. Als sich jedoch ein junger Mann zu ihm stellte und sein
Ding aus der Hose holte, da war das kein Penis, sondern ein winzig
kleiner Hund, der ihn mit einem großen Auge anstarrte und ankläffte.
Bender zog sich erschrocken zurück und suchte panisch Zuflucht in
einer freien Kabine. Er schloss ab, drehte sich um und hob die
Klobrille an. Er entleerte sich, während er angestrengt versuchte,
das Gleichgewicht zu halten. Alles drehte sich, als er seinem Urin
hinterher sah. Dann wurde es Nacht um Bender.
Als er wieder erwachte, fand er sich
völlig verkrümmt am Boden liegend, wieder. Ein Fuß schaute zur
Kabinentür heraus, sein Kopf lag schräg und eingeknickt an der
gekachelten Wand. Der Unterkiefer hing im rechten Winkel zum Boden,
er sabberte aus dem linken Mundwinkel. Eine Hand hing in der
Schüssel, die andere lag unter seinem Körper in etwas Feuchtem.
Benders Penis hing schlaff aus der Hose. Um ihn herum hatte sich ein
großer, nasser Fleck gebildet. Alles tat ihm weh. Er richtete sich
langsam auf, indem er sich an allem abstützte, was in greifbarer
Nähe war. Dann säuberte er sich notdürftig mit Toilettenpapier,
verstauten seinen Penis in der Hose, zog den Reißverschluss zu und
verließ so souverän wie möglich die Kabine.
Bender begab sich zum Waschbecken und
wusch sich die Hände. Um sich zu erfrischen, benetzte er sein
Gesicht mit Wasser. Da bemerkte er, dass er großen Durst hatte. Er
war völlig augetrocknet. Daher trank er ein paar kräftige Schlucke
aus der Leitung. Der Durst wurde jedoch nicht besser. Erst nach
mehrmaligem Trinken stellte er fest, dass das trockene, raue Gefühl in
seinem Rachen nicht vom Durst stammt. Irgendetwas hing in seinem
Schlund und behinderte ihn beim Schlucken. Bender griff mit den
Fingern in die Mundhöhle und versuchte den Gegenstand zu greifen.
Nach einigen Fehlversuchen wurde ihm klar, dass ihm ein Haar halb in
der Speiseröhre, halb im Mundinnenraum steckte. Er versuchte es
erneut. Und dieses Mal gelang es ihm endlich, das glitschige Haar zu
ergreifen.
Bender hatte Angst, dass es reißt,
bevor er es völlig entfernt hatte. Er zog deshalb sehr sachte daran
und spürte endlich, wie sich tief in der Speiseröhre etwas wie ein
Faden spannte und langsam nach oben glitt. Also zog Bender weiter und
weiter. Das Haar ragte schon so weit aus seinem Mund heraus, dass er
nachfassen musste. Es schien kein Ende zu nehmen. Dann, nach einigen
Dezimetern, verstärkte sich das Gefühl im Rachen, und am
ursprünglichen Haar hingen weitere Haare, verknotet ineinander und
verwoben miteinander. Bender zog mittlerweile panisch weiter und
weiter. Seine Eingeweide schienen wie betäubt von der schabenden
Bewegung, die er in Gang gesetzt hatte. Meter für Meter zog er den
stinkenden, mit Talg versetzten und allmählich dicker werdenden Zopf
aus seinem Schlund.
HEK 2012
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