An diesem einen Tag im März überkamen mich allerdings starke Zweifel an meiner Integrität. Es fing damit an, dass der Fahrscheinautomat an meiner Bahnhaltestelle nicht funktionierte. Das Display reagierte auf keinerlei Eingaben, so sehr ich es auch probierte. In dem Bewußtsein, dass meine Bahn nun schon bald kommen würde, musste ich mir schnell Gewissheit über mein zukünftiges Handeln machen. Denn ich hatte an diesem Morgen einen dringenden Termin, den ich auf keinen Fall verspätet wahrnehmen durfte.
Es gab daher die Überlegung, trotz nicht vorhandenem Fahrschein in die Bahn einzusteigen. Doch wäre dies nicht Diebstahl? Nicht umsonst heißt es in den allgemeinen Geschäftsbedingungen des Verkehrsbetriebes, dass das Fahren ohne gültigen Fahrausweis mit einem erhöhten Beförderungsentgelt von sechzig Euro geahndet wird.
Umgehen beziehungsweise zeitlich begrenzen könnte ich den Diebstahl dadurch, wenn ich an der nächsten Haltestelle aussteigen würde und mir dort den erhofften Fahrschein löste. Bis dies aber geschehen war, wäre die Bahn längst weiter gefahren und ich müsste auf die nächste warten. Dadurch würde ich mich aber um zehn Minuten verspäten und gewonnen wäre gar nichts.
Andererseits konnte es ja nicht mir angelastet werden, wenn der Fahrscheinautomat defekt ist und ich daher keinen Fahrschein lösen kann. Probater wäre es allerdings, die Verkehrsbetriebe zu informieren und zu warten, bis der Fahrscheinautomat wieder seine Arbeit aufnimmt. Doch auch dies würde zu einer unkalkulierbaren Verspätung meinerseits führen und ist deswegen nur probat im Sinne des Verkehrsbetriebs, aber keineswegs in meinem.
Eine Alternative wäre es, zur nächsten Haltestelle zu laufen und dort den Fahrschein zu erwerben. Doch auch dann würde ich die bald herannahende Bahn knapp verpassen und das Problem der Verspätung bestünde weiterhin.
Die Bahn fuhr währenddessen ein, also musste ich schnell reagieren. Ich sprang dann einfach auf, und als ich das tat, beschloss ich den Fahrschein eben am Ende meiner Fahrt an der Zielhaltestelle zu lösen, sie zu entwerten und gleich fortzuwerfen, damit sie nicht in Hände eines Zahlungsunwilligen fallen konnte. Dies schien mir adäquat, denn ich würde den Verkehrsbetrieb ja nicht bestehlen, sondern einfach einen Kredit bei ihm aufnehmen.
Um meinen guten Willen und meine Ehrlichkeit zu demonstrieren, nahm ich keinen Platz in der Bahn, sondern blieb im Mittelgang stehen und hielt mich an einer der zahlreichen Handschlaufen fest. Denn wer noch nicht bezahlt hat, dem steht auch kein voller Service zur Verfügung, dessen bin ich mir voll bewusst.
Natürlich weiß ich, dass die Haltevorrichtungen und Schließmechanismen im Personenbeförderungswesen hochgradig verseucht sind mit Bakterien aller Art. Dies war eben der Preis, den ich für meinen nicht in beiderseitigen Einvernehmen, also eigenmächtig abgeschlossenen Vertrag, mit dem Verkehrsbetrieb zu zahlen hatte. Ich würde deshalb sofort nach Beendigung der Fahrt Hygienetücher im der Zielhaltestelle nahe gelegenen Drogeriemarkt kaufen müssen. Mit etwas Glück würde dieser Akt des Konsums nur circa zwei Minuten dauern, auf dass ich mich nicht allzu sehr verspäten würde. Eine angemessene Entschuldigung für diesen zeitlichen Fehltritt fiel mir sobald zwar nicht ein. Ich würde deshalb einfach vorschlagen müssen, dass ich für jede verspätete Minute eine unbezahlte Überstunde machen würde. Ich finde, das bin ich ihnen schuldig, denn sie können ja am allerwenigsten etwas dafür, dass der Fahrscheinautomat nicht funktionierte und ich deswegen gezwungen war, die mit Bakterien verseuchten Haltegriffe des Fahrzeugs zu ergreifen, dies nur meiner Integrität willens, und ich daraufhin auch noch Hygienetücher benötige, um meine Hände zu reinigen, bevor ich jemandem die Hand schüttele. Das ziemt sich nicht, ich hoffe sie haben dafür Verständnis und weisen mich nicht ab.
Aber wahrscheinlich würden sie dann sagen, ganz recht, es sei allein meine Schuld, wenn ich zu spät käme. Denn ich hätte auch schon eine Bahn früher nehmen können, und wenn ich dann nämlich gemerkt hätte, dass der Fahrscheinautomat nicht funktionierte, dann hätte ich genügend Zeit gehabt zum nächsten zu gehen und dort einen Fahrschein zu lösen. Ich hätte einfach die übernächste Bahn genommen und wäre trotzdem pünktlich bei meinem Termin gewesen. Außerdem hätte ich auch keine Hygienetücher im Drogeriemarkt kaufen müssen, da ich aufgrund meines reinen Gewissens ruhig einen Sitzplatz hätte nehmen können, am Besten mit den Händen in den Manteltaschen, und keinerlei Kontaminierung wäre möglich gewesen.
Meine Güte, sie hätten damit tatsächlich recht gehabt. Und da fing ich doch ganz selbstverständlich an, über meine Integrität und meine sogenannte Gründlichkeit nachzudenken. Wenn ich es mir recht überlegte, hatten meine Bemühungen, es allen recht zu machen, alle Beteiligten nur geschädigt: Ich saß ohne Fahrschein in der Bahn. Dem Verkehrsbetrieb entging dadurch zwar nur ein minimaler Betrag, aber stellen Sie sich einmal vor, jeder würde das so machen. Da spielt es auch keine Rolle, wenn ich bereit bin, den Fahrtpreis an der Zielhaltestelle zu zahlen. Noch dazu mussten Menschen auf mich warten, einige Lebenszeit wegen meiner Unzuverlässigkeit verschwenden. Und ich selbst schade damit natürlich meinem Ansehen: Wer lässt sich schon gerne mit einem Dieb und Betrüger ein? Sie vielleicht? Sehen Sie!
In diesen Überlegungen gefangen, bemerkte ich zu meinem Leidwesen, dass die Bahn sich gerade von meiner Zielhaltestelle entfernte. Ich hatte es versäumt, auszusteigen. Nun versuchte ich den Zugführer dazu zu überreden, mich doch noch hinaus zu lassen. Denn ich käme deswegen sicher noch weitere fünf Minuten zu spät zu meinem Termin, nicht dass ich zuvor noch in einen Drogeriemarkt müsse, da ich die Haltevorrichtungen der Bahn berührt hatte. Doch der Zugführer verneinte nur, das ginge nun mal nicht, und schloss das Fenster zum Passagierraum beinahe zornig.
Wie sollte ich diese zusätzliche Verspätung nun wieder erklären? Dafür gab es eigentlich gar keine Entschuldigung mehr. Es würde mir auch nicht helfen, zu beteuern, dass so etwas bei mir noch niemals vorgefallen sei. Man würde es mir schlicht und einfach nicht glauben.
Nun hätte ich beinahe die Folgehaltestelle auch noch verpasst, doch gelang es mir gerade noch rechtzeitig, die Bahn zu verlassen. Mit schnellen Schritten verließ ich die Haltestelle, um vielleicht doch noch etwas Zeit gut zu machen. Doch dann bauten sich zwei Herren mit Dienstausweis vor mir auf und fragten mich, wo ich denn so schnell hinwolle. Ob ich denn einen Fahrschein hätte? Man hätte mich eben beobachtet, wie ich ganz schnell aus der Bahn entschwunden sei und mich aus dem Staub machen wollte. Dies sei allerdings verdächtig, meinte der kleinere der Kontrolleure.
Und da fiel mir ein, dass ich ja eigentlich vorgehabt hatte, einen Fahrschein an der Zielhaltestelle zu lösen, zu entwerten und wegzuwerfen. In meiner Zerstreutheit hatte ich das ganz vergessen. Wahrheitsgemäß erläuterte ich den Kontrolleuren, dass ich keinen Fahrschein hätte, da der Fahrscheinautomat an der Starthaltestelle defekt gewesen sei, so dass es mir unmöglich gewesen sei, einen Fahrschein zu lösen und dass ich mir eben genau deshalb keinen Sitzplatz genommen hätte, weil ich beim Verkehrsbetrieb ja quasi einen Kredit aufgenommen hätte und ich es unverschämt gefunden hätte, mich dann auch noch zu setzen und ich eigentlich auch vorgehabt hatte, besagten Fahrschein am Ende der Fahrt zu lösen, dies aber aufgrund meiner Eile nun doch vergessen hätte, es nun aber jederzeit, trotz meines Terminproblems, zwei oder drei Minuten mehr oder weniger würden jetzt ja auch nichts mehr ausmachen, noch nachholen könne, bitteschön.
Nun, ich hätte wohl warten müssen, bis der Automat repariert gewesen sei, so der größere der Kontrolleure. Oder ich hätte zur nächsten Haltestelle laufen müssen, in der Hoffnung, dort einen funktionstüchtigen Fahrscheinautomaten anzutreffen. Keinesfalls aber sei es legitim, einfach ohne Fahrschein ein Fahrzeug der Verkehrsbetriebe zu betreten, denn dies hätte nun einmal ein erhöhtes Beförderungsentgelt zur Folge, wird man denn kontrolliert. Außerdem sei ja gar nicht bewiesen, dass ich keinen Sitzplatz beansprucht hätte, argwöhnte der kleinere Kontrolleur. Und die Ausrede, ich hätte nach der Fahrt einen Fahrschein lösen wollen, hat sich ja wohl kaum bestätigt, nachdem ich ja nun ohne angetroffen wurde. Verzwickt sei die Lage, doch nicht für sie, die Kontrolleure. Denn es sei klar, dass ich bis auf weiteres sechzig Euro zu entrichten hätte. Wolle ich Einspruch erheben, solle ich das gerne tun, doch die Chancen auf Erfolg stünden gering bei dieser Sachlage.
Ich hätte das erhöhte Beförderungsentgelt sehr gerne sofort bezahlt, schon alleine um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, denn allmählich wurden aus sieben acht, aus acht neun Minuten und wer weiß wie lange die Sache noch gedauert hätte. Leider offenbarte mir ein Blick in die Geldbörse nur einen dort angelegten Betrag von neunzehn Euro und vierundreissig Cent.
Dann müssten sie eben leider einen Bußgeldbescheid ausstellen, und dazu benötigten sie meine Personalien. Aufgrund des Zeitdrucks verließ mich jede Geduld und ich geriet in Panik. Wie lange würde das wohl noch dauern? Ich hatte doch einen Termin einzuhalten, und jetzt schon würde ich mich um zehn Minuten verspäten. Wie sollte ich dies jemals erklären? Ich versuchte, den beiden Kontrolleuren zu entkommen, indem ich mich zwischen ihnen durchzwängte und einfach los rannte. Doch die beiden waren schneller und warfen mich schon wenige Sekunden später zu Boden. Der kleinere der Kontrolleure setzte sein Knie auf meinen Brustkorb, während der größere die Polizei anrief.
Ganz allmählich versammelten sich Passanten um uns herum, einige zeigten mit den Fingern auf mich. Sie tuschelten alle, wollten die Sensation ergründen. Einer fragte, was denn passiert sei, woraufhin ihm der größere der Kontrolleure entgegnete: Schwarzfahrer! Und schon wurden mir böse Blicke seitens der Passanten zuteil, einige unter ihnen zischten böse: So eine Schande!