Dienstag, 22. Februar 2011

Moralist, nicht integer: revisited!

Nachdem die Bisswunde an meinem Arm endlich verheilt war, hatte ich mir überlegt, nun doch nicht mehr durch den Stadtpark zu gehen. Es war einfach zu gefährlich. Da mir aber das Fahren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln bekanntermaßen verboten wurde, aus Gründe, die nur aus einem großen Missverständnis resultierten, war ich geradezu zur Bewegungslosigkeit verdammt.

Da entschloss ich mich einfach dazu, die kleine Stadt zu verlassen und mein Glück in der großen Stadt zu suchen. Vieles würde anders sein: In der großen Stadt gäbe es zwar gewiss auch Hunde und Herrchen und ebenfalls öffentliche Verkehrsmittel, doch würde ich Letztere benutzen dürfen und das Zählwerk meiner selbst verschuldeten Vergehen auf Null zurückstellen können.

Die große Stadt hieß mich herzlich willkommen. Zumindest widerfuhr mir bei meiner Einbürgerung keine schlimmere Sache. Allmählich fasste ich Fuß und traute mich endlich, die U-Bahn des öffentlichen Nahverkehrs zu benutzen. Das war nun bitter nötig, da ich meinen Lebensunterhalt sichern musste. In der großen Stadt kann man jedoch nicht einfach zum Amt gehen, sondern muss, in Ermangelung eines KFZ, dorthin fahren. Ich musste meine Scheu und allen Argwohn ablegen.

Also versuchte ich recht freundlich drein zu schauen und es allen recht zu machen. Wer mir entgegen kam, dem wich ich aus. Und wer eine kleine Spende wollte, dem gab ich etwas von meinen spärlichen Mitteln. Man will ja kein Unmensch sein. Wobei ich die sogenannte kleine Spende relativ hoch fand. Aber in einer großen Stadt braucht man auch große Spenden. Dies erschien mir logisch und fair.

Am Ende bekam ich jedoch nie eine Zeitung wie versprochen. Trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass man für 48 Stufen und 20 Meter so viel Zeit in Kauf nehmen muss. Dem Himmel sei Dank, dass ich, geprägt von meinen einschlägigen Erfahrungen mit Verspätungen, genügend Zeit eingerechnet hatte. Sollte alles nach Plan laufen, wäre ich eine Stunde vor meinem Termin beim Amt.

Wie es sich zeigte, tat ich gut daran. Denn IN die U-Bahn zu kommen, schien mir schwieriger, als HINAUS. In gebührendem Abstand platzierte ich mich also vor der Fahrgasttür. Die Leute strömten hinaus, und ungeduldigere Menschen schoben sich vor mich und drängten hinein. Am Ende war kein Platz mehr für mich. Ansonsten hätten die Fahrgäste aufrücken müssen. Aber wer bin ich, so etwas zu fordern? Ich wohne ja erst seit kurzem in der Stadt und habe noch nicht die vollen Rechte wie zum Beispiel jemand, der schon lange in der großen Stadt lebt oder gar in ihr geboren ist.

Dieser Umstand stellte sich jedoch als großes Glück heraus, da ich in der Aufregung, ausgelöst durch meine erste U-Bahn-Fahrt in der großen Stadt, von den vielen Menschen, denen ich auswich oder etwas Kleingeld gab und dem Gebaren der Fahrgäste, völlig vergessen hatte, einen Fahrschein zu lösen. Dies holte ich nach, musste mich aber zuerst einer fremd sprechenden Gruppe hintanstellen und danach noch ein paar besonders eilige Menschen vorlassen. Am Ende gelang es mir jedoch, bei einem freundlichen Menschen eine Fahrkarte zu erstehen, die freundlicherweise schon gestempelt war.

Dann gelang es mir endlich, in die U-Bahn einzusteigen. Zunächst musste ich eine ganze Weile stehen, doch das machte mir nichts. Ich lächelte den einen oder anderen Fahrgast an und grüßte ihn freundlich. Das scheint in der großen Stadt nicht üblich zu sein, denn die Leute grüßten nicht zurück. Sie lächelten auch gar nicht und drehten sogar ihren Kopf zur Seite. Womöglich hatte ich etwas Unangenehmes im Gesicht kleben, vielleicht hatte ich auch Mundgeruch. Sofort tastete ich mein Gesicht ab, konnte jedoch nichts finden. Dann hielt ich mir die Hand vor den Mund und atmete hinein. Ich konnte nichts Derbes riechen. Aber den eigenen Gestank kann man bekanntlich selber gar nicht riechen.

Um die Menschen in meiner näheren Umgebung nicht zu belästigen, versuchte ich die Luft lange einzuhalten und so selten wie möglich zu atmen. Dabei wurde mir schwindlig. Ich hätte mich am Liebsten hinsetzen wollen, so schwindlig war mir, doch das ging ja nicht, weil die äußeren Sitzplätze schon alle besetzt waren. Auf die Fensterplätze wollte ich mich erst gar nicht schummeln, die Leute hätte sonst ihre bequeme Sitzposition wegen mir aufgeben müssen. Zudem wollte ich sie nicht mit meinem Mundgeruch belästigen. Es war mir alles sehr unangenehm.

Dann endlich hätte ich umsteigen können, doch leider bin ich nicht rechtzeitig aus der U-Bahn heraus gekommen. Da lernte ich, dass dies beinahe genauso schwer war wie HEREIN zu kommen. Andererseits gelang den übrigen Fahrgästen beides in vollem Umfang. Wahrscheinlich lag dies daran, dass ich neu war und mich noch nicht so gut in der großen Stadt und den dortigen Sitten auskannte. Das war selbstverständlich mein Fehler: Was gehe ich auch immer so unvorbereitet aus dem Haus? Ich hätte es schließlich wissen müssen: Man soll sich die Sitten und Gebräuche derer, die man besucht, vorher aneignen!

An der nächsten Haltestelle gelang mir erfreulicher Weise der Ausstieg. Ich ging zum gegenüber liegenden Bahnsteig, um bei nächster Gelegenheit zurück zu fahren. Da standen schon viele Leute, die alle warteten. Ich war jedenfalls sehr vergnügt, da ich es bereits beim zweiten Versuch geschafft hatte, aus der Bahn zu steigen, so dass ich meinen Mundgeruch und den Schmutz in meinem Gesicht völlig vergessen hatte. In dieser Hochstimmung nahm ich ein kleines Mädchen wahr, höchstens zehn Jahre alt, alleine und mit Ranzen auf dem Rücken.

Ich ging zu ihm hin und grüßte es freundlich. Ich hatte dem Mädchen lediglich sagen wollen, dass ich es sehr mutig von ihr fände, ganz alleine mit der U-Bahn zu fahren. Ich fand das wirklich großartig, wie jemand so Junges mit etwas so Kompliziertem einfach zurecht kommt, wenn Erwachsene wie ich schon Probleme damit haben. Doch das Mädchen schaute mich nur erschrocken an und lief dann mit einem schrillen Quieken, ich kann es nicht anders sagen, weg. Da fiel mir ein, dass ich ja so argen Mundgeruch hatte und auch schmutzig im Gesicht war. Ich wäre auch schreiend  davon gelaufen, wenn mich so jemand angesprochen hätte.

Gleich darauf kamen allerdings ein paar Frauen und Männer auf mich zu und fragten harsch, was ich denn von dem kleinen Mädchen gewollt habe. Ich entgegnete ihnen, dass ich gar nichts von ihr wollte und dass ich kleine Mädchen eben gerne mag und deswegen nett zu ihnen bin. Das schien den Leuten nicht zu gefallen, und ich war etwas verwundert, dass man in dieser Stadt offenbar keine kleinen Mädchen mag. Da sagte ich der mittlerweile aufgebrachten Menge, dass es da, wo ich herkämme, ganz normal sei, kleine Mädchen zu mögen. Und da mir langsam dämmerte, was die Leute vor mir wirklich bewegte, fügte ich hinzu, dass man dort ebenfalls kleine Jungens möge. Es sei selbstverständlich, wenn Freunde und Verwandschaft ihre Kinder vorbei brächten und sie dann dort auch alleine ließen. Das mache doch den Kindern genauso viel Spaß wie den Erwachsenen.

Ich verstand dann nicht so richtig, warum die Leute mich plötzlich so beschimpften. Sie sagten Sachen zu mir, die ich hier nicht wiedergeben möchte. Wohl aber möchte ich darauf hinweisen, dass mir ein besonders grober Mensch die Faust derart auf die Nase geschlagen hat, dass sie mir blutete. Und eine Dame schlug mir fortwährend ihre Tasche auf den Rücken. Ich wusste nicht wie mir geschah, ahnte aber, dass es besser wäre, die Flucht zu ergreifen. Dem Himmel sei Dank fuhr im selben Moment der Zug ein. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig in einen der hinteren Wagen absetzen, bevor die zuerst erstarrte und mir dann schleunigst hinterher eilende Menge nachfolgen konnte. Wütend trommelten sie an die Fahrgasttür, mit den immer selben Schimpfworten auf ihren Lippen, keifend, geifernd, hochrot erzürnt.

Erleichtert atmete ich auf. Um bei den übrigen Fahrgästen, die mich schon argwöhnisch beäugten, Wohlwollen zu erlangen, lächelt ich sogleich freundlich. Doch diese erschauerten nur vor mir und wichen aus. Um mich herum wurde getuschelt und einige Leute schienen mich mit Unbehagen zu betrachten. Aber immerhin hielten sie Abstand zu mir, und so konnte ich einfach dastehen, ohne sie mit meinem Blut zu bekleckern. Da bemerkte ich, wie sich mir zwei Personen von der Seite näherten. Als sie bei mir ankamen, fragten sie nach meinem Fahrschein, den ich ihnen augenblicklich zeigte. Man soll ja wegen mir keine Zeit verschwenden müssen. So dachte ich jedenfalls.