Sonntag, 17. Oktober 2010

Blockaden

Holz E. von Bald

Es hatte mit einer Schreibblockade zu tun. Seit Monaten nun brachte ich nichts mehr zu Papier. Nicht, dass ich keine Ideen mehr gehabt hätte. Davon gab es genug. Sie schienen mir sogar relevant zu sein. Doch irgend etwas hinderte mich daran, sie aufzuschreiben. Ich weiß nicht, was es war. Es hatte mit einer Schreibblockade zu tun. Seit Monaten nun brachte ich nichts mehr zu Papier. Nicht, dass ich keine Ideen mehr gehabt hätte. Davon gab es viele. Einige schienen sogar relevant zu sein. Doch irgend etwas hinderte mich daran, sie aufzuschreiben. Es hat wohl mit einer Schreibblockade zu tun. Seit Monaten bringst Du nun nichts mehr zu Papier, sagte mein wohlmeinender Freund. Es ist nicht so, dass ich keine Ideen mehr habe, entgegnete ich. Davon habe ich viele. Darunter sogar einige relevante.

Doch irgend etwas hindert Dich daran, sie aufzuschreiben. Aber ich kann Dir weiter helfen, sagte mein sich für gewöhnlich direkt vor meinen Augen materialisierender, aber immer wohlmeinender Freund. Er gab mir den Rat, einen Motivator aufzusuchen. Er wird Dir helfen, so wie er schon mir geholfen hatte und vielen anderen zuvor, die den Kopf voller Ideen hatten und nicht weiter wussten, sie zu nutzen. Er schrieb eine Adresse auf und hielt mir den Zettel hin. Daraufhin verließ er meine Wohnung durch die ihm ebenfalls gefällige Art des Sich-Einfach-In-Der Luft-Auflösens. Darüber wie immer irritiert, hielt ich den Zettel in der Hand und dachte: Er muss sich unbedingt eine andere Form des Kommens und Gehens überlegen, sonst drehe ich noch durch. Eines Tages.

Später rief ich den Motivator namens Bertollo unter der angegebenen Nummer an und machte mit einer Sprechstundenhilfe namens Belinda einen Termin aus. Da Sie privat versichert sind, spielt es keine Rolle, wann und ob Sie kommen, sagte Belinda, die es sich zwischendurch anders überlegte und nun lieber Carla heißen wollte. Gut, sagte ich, dann komme ich gleich morgen. Gegen zwei Uhr am Mittag, wäre das recht, Carla? Belinda. Ich heiße Belinda. Vierzehn Uhr, morgen. Bänkelstraße 17. Ist recht. Wiederschaun. (Klack)

Am nächsten Tag setzte ich mich auf mein Moped, eine alte, senfgelbe Simson mit abgeschlagenen Blinkerärmchen und zerritztem Sitzpolster. Ich startete das Relikt und fuhr damit los, etliche Rauchzeichen hinterlassend, um nachfolgenden Menschen anzuzeigen: Hier stand einmal ein Moped. Hustend und keuchend ist es nun fortgefahren. So what? Eventuell gefundene Blinkerärmchen bitte in den Briefkasten werfen oder einem vorbeiziehenden Nazi auf die Schädeldecke hauen. Vielen Dank!

Die Praxis des Motivators befand sich im äußersten Norden der Stadt, also hatte ich eine weite Reise vor mir. Zwischendurch rastete ich und tankte die Simson auf. Ich selber machte noch ein paar gymnastische Übungen und aß einen Schokoriegel. Dann fuhr ich weiter. Als ich endlich im äußersten Norden der Stadt angekommen war, es also beinahe geschafft hatte, konnten mich weder der Stadtplan noch der mitgeführte Kompass zur Praxis in der Bänkelstraße führen. Die Nadel drehte sich wie verrückt im Kreis und die Karte war verkehrt, egal wie ich sie hielt. Also fragte ich Passanten nach dem Weg, doch die zuckten nur kurz mit der Schulter und setzten munter pfeifend ihren Weg fort.

In heller Aufregung fuhr ich mit der Simson hin und her, doch ich konnte die Praxis einfach nicht finden. Mit einem Blick auf die Uhr entschied ich nun, wieder nach Hause zu fahren. Den Termin hatte ich ja bereits verpasst. Also fuhr ich geradezu wieder nach dem Süden der Stadt. Ich musste mich jedoch verirrt haben. Denn vor meinen Augen tat sich ein großer See auf. Ich stand vor der Frage, in welche Richtung ich ihn umfahren müsste, um wieder zur ursprünglichen Route zurück zu finden. Ich entschied mich für den Osten, doch nach einer halben Stunde Fahrt hatte ich den See nicht umrundet und eher das Gefühl, als entfernte ich mich immer mehr von meinem Ziel, statt ihm näher zu kommen. Dann fuhr ich zurück nach Westen und darüber hinaus, bis ich in einer Sackgasse Halt machen musste. So kam ich nicht weiter, soviel stand fest.

Ich schaute mich um. Ich befand mich in einer engen, menschenleeren Straße, alter Pflasterstein. Um mich herum waren schmucklose, mehrgeschossige Häuser etwa aus der Wende vom 19ten zum 20ten Jahrhundert. Der Putz war schon vor langer Zeit abgebröckelt und legte Ziegelsteine frei, die mittlerweile völlig verrußt waren. Steinerne Treppen, umwehrt von Eisengeländern, wuchsen von der Straße hinauf zu wuchtigen Hauseingängen, die Türen aus massivem Holz, abgeblätterter Lack. Die Fenster der Häuser, wie in früheren Zeiten doppelt gerahmt und verglast. Blumentöpfe voller Geranien setzten grelle Farbtupfer auf die grauen Wände. Über die Straße hinweg behängte Wäscheleinen.

Ich stellte den Motor ab. Irgendwie musste ich einen Weg nach Süden finden, zur Not durch die Häuser hindurch. Ich stieg die Treppe des mir den Weg versperrenden Hauses hinauf und trat ein. So sehr ich auch suchte: Es gab keinen Hinterausgang. Als ich enttäuscht wieder hinaus wollte, ging ich versehentlich durch ein Wohnzimmer, in dem sich gerade ein junges Paar stritt. Es ging um die üblichen Probleme. Erst wollte ich vermitteln, doch dann überlegte ich es mir anders und schlich mich aus der Szene. Dieser Streit ging mich nichts an.

Zurück im Treppenhaus und voller Neugierde, die ich mir heute nicht mehr erklären kann, stieg ich die Treppe hinauf und schaute mir Stockwerk für Stockwerk an, beobachtete die Menschen in ihren Wohnungen, staunte, lachte und weinte, als ich ein schönes Mädchen tot in der Badewanne vorfand, das Wasser darinnen blutrot verfärbt. Ein junger Mann saß lächelnd daneben und hielt ihre blutleere Hand in den seinen.

Erschüttert von diesem zärtlichen Bild wechselte ich in eine andere Wohnung und fand eine Familie beim Kaffeekränzchen vor, als der Vater dem Kleinsten gerade mit dem schweren Küchenmesser die Hand abschnitt. Wahrscheinlich hatte er nach einem Stück Kuchen gegriffen, ohne artig zu fragen. Reumütig blickte der Kleine seinen Vater an, wissend um des Vaters Pein: Den stärksten Schmerz fühlt stets das Elternteil, das straft.

Andächtig verließ ich auch diese Szene und fand andernorts einen Kindergeburtstag vor, ausgelassen lachende Kinder in Kostümen, die den gefesselten, am Boden liegenden Clown, freudig boxten und kniffen. Dessen Hilferufe erfreuten auch die Erwachsenen, die auf ihren Stühlen saßen und begeistert in die Hände klatschten. Ich nahm ein Stück Geburtstagstorte und schmierte es dem Clown ins Gesicht. Und immer wieder rief er um Hilfe, zum Totlachen das Ganze. Wann hatte ich zuletzt einen solchen Spaß?

Erhitzt vor lauter Lebensfreude ging ich hinaus auf die Terrasse. Ein junger, südländisch ausschauender Mensch, kam auf mich zu und fragte nach Feuer. Ich gab ihm welches. Wir rauchten beide andächtig und betrachteten den großen See in der bereits untergehenden Sonne. Er meinte, das Licht sei nun besonders gut. Ob ich denn etwas dagegen hätte, wenn er mich photographierte. Ich verneinte und fragte, was ich tun solle. Einfach ich selbst sein solle ich, das genüge. Ich wusste gar nicht, wie das geht: ich selbst sein. Doch dem jungen Mann schien zu gefallen, was ich tat.

Er photographierte und photographierte, kam mir dabei immer näher. Mich interessieren die Muster, mich interessieren Details, nuschelte er in die Kamera hinein, während er immerfort das Objektiv justierte. Bis er endlich nur noch wenige Zentimeter von meinem Jackett entfernt war und dessen Musterung schoss. Als er sich nach etwas mehr als einer viertel Stunde wieder etwas entfernte und endlich damit aufhörte, sich für meine Muster und Details zu interessieren, dankte er mir überschwänglich. Er küsste mich auf den Mund und verschwand in der Wohnung.

So blieb ich noch eine Weile auf der Stelle stehen und dachte an nichts. Ein wunderbares Gefühl überkam mich dabei. Dann wandt ich mich wieder dem herrlichen Panorama zu und bedachte den aufkommenden Nebel mit einem stillen Gruß. Dessen Arme erhörten mich bald und griffen zärtlich nach mir. Sie ließen mich schlussendlich ganz verschwinden in seiner köstlichen, diffusen Konsistenz. Ich schloss die Augen und ließ es geschehen.

HEK 17.10.2010

Donnerstag, 4. Februar 2010

Auf die Insel!

Als man feststellte, dass sie fast nur noch verwaltungsinterne Vorgänge bearbeiteten, begann man, alle Beamte und Fachangestellte der Verwaltungen auf eine südlich gelegene Insel zu verbringen. Dort sollten sie für den Rest ihrer Tage sich selbst überlassen bleiben und das tun, was sie am besten können: sich selbst verwalten!
Im Lande selber beschloss man, den Dienst am Bürger den kundenorientierten Dienstleistern zu überlassen, was im allgemeinen sehr gut angenommen wurde. Wenn ein Arbeitsloser zum Beispiel in Arbeit vermittelt wurde, schickte man ihm nun zusätzlich einen Blumenstrauß samt Grußkarte.
Man freute sich ganz ehrlich, dass die Menschen aus dem "Bezug" heraus fielen. Früher wurden die "Bittsteller" sang- und klanglos aus dem System gestrichen. Neue kamen hinzu, und sie waren außer arbeitslos vor allem eines: lästig!
So ging es den BürgerInnen mit sämtlichen Ämtern und Verwaltungen. Doch nun war alles gut. Sie fühlten sich endlich ernst genommen und mussten für jeden Antrag nur noch drei statt der üblichen 10 Durchschläge einreichen. Es war jetzt alles so viel einfacher.
Doch nach einiger Zeit hörte man von den BewohnerInnen der "Verwaltungsinsel" nichts mehr! Hatten sie es tatsächlich geschafft, zu gedeihen und sich fortzupflanzen? Waren sie endlich vollkommen unabhängig und benötigten keinerlei Unterstützung mehr? Noch vor wenigen Monaten wurde die Regierung von Anträgen auf Entwicklungshilfe geradezu bombardiert.
Man versuchte, Kontakt zu knüpfen, wollte schließlich Geschäfte mit dem endlich prosperierenden Eiland machen. Doch auf derlei Anfragen gab es keinerlei Reaktion. Also schickte die Regierung ein Erkundungsteam auf die "Verwaltungsinsel", um nach dem Rechten zu sehen.
Als das Team dort ankam, war es nicht schlecht erstaunt: Die Häuser waren zerfallen, in ihnen befand sich kein Leben mehr. Auf den Schreibtischen lagen Unmengen von unbearbeiteten Anträgen, Ablehnungen und Widersprüchen. Sämtliche Topfblumen waren verwelkt. An den Tischen saßen mumifizierte Leichen, die bunte Gießkännchen in ihren Händen hielten.
Sofort wurden Experten hinzu gerufen. Sie sollten erforschen, was denn in der Zwischenzeit passiert sei. Die einfache Antwort war schnell gefunden: Die BewohnerInnen hatten sich gegenseitig zu Tode verwaltet! Die Experten erklärten es der Regierung exemplarisch an einem Beispiel: 
Eine beantragte Dose Thunfisch verursachte einmal solch einen Verwaltungsaufwand, dass hinterher keiner mehr die Kraft hatte, sie zu öffnen, als sie endlich am Bestimmungsort angekommen war. Bei näherer Ansicht des Aktenverlaufs unter Zuhilfenahme forensischer Spurensicherung stellte sich folgendes heraus: Selbst wenn der Antrag 1554c (Bestellung einer Dose Thunfisch) samt Folgeantrag 1554d (öffnen der Dose Thunfisch) positiv entschieden worden wäre (die zuständigen Behörden mahnten wiederholt Formfehler in der Antragstellung an), wäre der Antragsteller trotzdem verhungert. Dies lag ganz besonders an folgendem Umstand:
Eine Verwaltungsfachangestellte wurde aufgrund ihres mehrfach abgelehnten Antrags auf eine höhere Gehaltseinstufung dermaßen brüskiert, dass sie aus Trotz den Antrag 234a (Antrag auf Zuteilung und Zustellung eines Dosenöffners) unter ihrem Schreibtisch verschwinden ließ. Der Antragsteller war übrigens nicht zwangsläufig derselbe, der ihre Gehaltserhöhung rechtsgültig abgelehnt hatte. Doch hatte sich die Abneigung der Verwaltungsfachangestellten gegenüber ihren KollegInnen so sehr manifestiert, dass sie ihren Dienst prophylaktisch in jeder Sache verweigerte.
Solche und ähnliche Geschichten passierten nun tausendfach auf der "Verwaltungsinsel", so dass am Ende alle Abläufe einer geregelten Gesellschaft ins Stocken gerieten. Die Regierung sah ein, dass es so kommen musste: Es ist niemals gut, domestizierte Wesen einfach in der freien Wildbahn auszusetzen, ohne sie in die Gefahren ihrer ureigensten Natur einzuweisen.
Die Insel ist übrigens für Jahrzehnte unbewohnbar, da einsetzende Regenfälle die im Laufe der Zeit entstandene Papierwüste in eine unwirtliche und nicht zu bewirtschaftende Pappmaschee- Landschaft verwandelt hatten.
Heute überlegt die Regierung übrigens ernsthaft, ob sie nicht die letzten Arbeitgeber auf ein anderes einsames Eiland verbringen soll. Sie könnten sich dort so wunderbar gegenseitig ausbeuten und ihre Erträge in taumelnde Höhen treiben. Die BürgerInnen des Landes wären hocherfreut: Das Leben würde dadurch so viel leichter und die Arbeit brächte vielleicht endlich wieder etwas Freude.

HEK 29. Juli 2007

Montag, 18. Januar 2010

Außer Kontrolle

Als sie Mara abholten herrschte tiefe Nacht. Goetz wurde von einem heftigen Hämmern an der Wohnungstür wach. Wie ferngesteuert verließ er das warme Bett und öffnete sie einen Spalt. Alsdann wurde die Tür weit aufgestoßen, und eine Mannschaft gepanzerter Männer stürmte in die Wohnung.
Einer der Uniformierten fragte Goetz barsch nach Maras Verbleib, worauf der ihm mit einer Armdeutung gehorsam den Weg ins gemeinsame Schlafzimmer wies. Zivilcourage war Goetzens Sache nicht. Mara saß aufrecht im Bett, mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen, die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen.
Man befahl ihr, sofort das Bett zu verlassen. Sicherheitshalber richteten sich großkalibrige Waffen auf sie, als sie Folge leistete, denn sie hätte ja ebenfalls bewaffnet sein können. Mara war nackt und unbewaffnet. Die Polizisten ließen die Waffen wieder sinken.
Goetz fragte sich, was wohl geschehen wäre, hätte Mara einen Bombengürtel unter der Bettdecke getragen, den Zündring bereits zwischen Daumen und Zeigefinger. Er stellte sich vor, wie eine Explosion das Schlafzimmer verwüstete. Ein greller Blitz, ohrenbetäubender Lärm, Splitter und Daunen stöben durch den Raum, eine gewaltige Druckwelle schöbe alles hinfort, gefolgt von eine furchtbaren Stille. Alle Anwesenden lägen tot oder schwerverletzt am Boden, vielleicht streckte sich die ein oder andere Hand hilfesuchend in die Luft.
Mara durfte sich etwas überziehen und das Notwendigste zusammen packen. Hilflos blickte sie den vollends überforderten Goetz an. Dem ging wie immer alles viel zu schnell, so dass sein Verstand dem Geschehen nicht so richtig folgen konnte. Noch bevor ihm einfiel, was er hätte tun oder sagen können, fiel die Wohnungstür ins Schloss und Mara und die Männer waren weg.
Goetz stand noch einige Zeit mit offenem Mund im Flur herum, dann schloss er ihn und legte sich wieder ins Bett. Allerdings konnte er überhaupt nicht einschlafen, was wohl an der ganzen Aufregung lag. Dann roch er an Maras Kissen und fiel dann endlich doch noch in tiefen Schlaf. Maras Geruch beruhigte Goetz schon immer.

Verstört folgte Mara den Männern die Treppen hinunter. Sie versuchte sich zu erklären, was da vor sich ging, konnte aber keine Erklärung dafür finden. An der Straße fand sie einen Mannschaftswagen geparkt, man hielt ihr eine Tür auf und schob sie hinein. Im Inneren des Wagens wurde sie auf eine Pritsche festgeschnallt, jemand spritzte ihr ein Narkotikum. Ihr Bewußtsein erlosch augenblicklich.
Als sie aufwachte, befand sie sich immer noch festgezurrt auf einer Pritsche, an der Hand eine Kanüle, von dort ein Schlauch, der in einen Infusionstropf mündete. Sie schien sich in einem Krankenhaus zu befinden, die weisen Kacheln wiesen jedenfalls darauf hin. Mara betrachtete die Decke, sah das Licht einer kalt flackernden Neonröhre. Abermals versuchte, sie das Geschehene zu erfassen. Hatte sie etwas verbrochen? Stand sie unwissentlich in Kontakt mit vom Verfassungschutz beobachteten Menschen? Hatte sie sich mit einem gefährlichen Erreger infiziert? War sie eine Gefahr für andere?
Es gab keinerlei Anhaltspunkt, und damit ergab auch nichts einen Sinn. Mara geriet in Panik und begann, laut um Hilfe zu schreien. Ein Pfleger kam durch die Schwingtür gestürmt. Kein Problem, kein Problem, alles ist gut. Seine Stimme sollte beruhigend wirken, erreichte jedoch das Gegenteil. Mara schrie um so verzweifelter: Nichts war gut, alles war ein Problem, wo war sie? Was hatte man mit ihr vor? Der Pfleger hantierte am Infusionsbeutel, wechselte diesen aus. Kein Problem, ganz ruhig, gar kein Problem, kein... mehr konnte Mara nicht mehr verstehen, abermals fiel sie in tiefen Schlaf.

Der Wecker klingelte bereits zum zweiten Mal, als Goetz endlich erwachte. Er würde heute zu spät zur Arbeit kommen. Wie gewohnt drehte er sich zu Maras Seite, um sie zu küssen, doch Mara war ja fort. Enttäuscht verließ Goetz das Bett und ging ins Bad, urinierte im Stehen und putzte sich die Zähne. Gestern Abend, erinnerte er sich, habe ich vergessen, die Zähne zu putzen. Wie es Mara wohl geht? Goetz nahm eine Dusche, zog sich an und ging ohne Kaffee getrunken zu haben aus dem Haus. Kaffee zu kochen war immer Maras Aufgabe gewesen. Er würde sich nun angewöhnen müssen, dies selber zu tun. Er rechnete nicht damit, dass Mara bald zu ihm zurückkehren würde. Goetz vermisste sie bereits.

Maras Fahrt zu ihrem Bestimmungsort sollte lange dauern. Als sie wieder wach wurde, war es ihre erste Empfindung gewesen, dass sie die Klimazone gewechselt hatte. Grün in allen Tönen zog an ihr vorbei, und es herrschte eine feuchte Hitze. Sie richtete sich mühsam auf, was erschwert wurde durch die holprige Fahrt in einem Jeep. Der Fahrer schaute sie missmutig durch den Rückspiegel an, sagte aber kein Wort.
Als sie sich wieder etwas gefasst hatte, versuchte sie ihn ohne Erfolg in ein Gespräch zu verwickeln. Sie versuchte ein paar Worte Spanisch, die ihr noch einfielen, dann Englisch und Französisch. Dann gab sie es auf. Der äußerst fette Fahrer schwitzte einfach vor sich hin, wischte sich ab und an das Gesicht mit einem schmutzigen Tuch und blieb stumm. Mara ordnete ihn der ethnischen Gruppe der Indios zu, mochte vielleicht ein Abkömmling spanisch-indianischer Verbindungen sein. Er stank wie ein verwestes Tier.
Mara wähnte sich irgendwo in Südamerika, um den Äquator herum vermutlich. Doch sicher war sie sich nicht. Sie musste geflogen sein, hatte aber keinerlei Erinnerung daran. Wie lange war es nun schon her, seit man sie aus ihrer Wohnung geholt hatte?
Die klebrig ockerne Straße stieß gerade wie ein Pfeil durch die üppig grüne Vegetation, klaffte darinnen wie eine eiternde Wunde. Mara war überaus erschöpft, sie schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Es gelang ihr nicht, und so döste sie vor sich hin, immer wieder aufgeschreckt durch tiefe Schlaglöcher.
In einem kleinen Dorf machten sie eine Rast, der Fahrer tankte den Jeep auf, dazu noch ein paar Kanister, die er im hinteren Wagenraum bei Mara verstaute. Er besorgte Mara einen Happen zu essen, und obwohl sie keinen rechten Appetit hatte, nahm sie die Mahlzeit an und aß. Allmählich versammelten sich Kinder um den Jeep herum. Neugierig starrten sie Mara an. Als sie ihnen endlich ein schüchternes Hallo schenkte, gingen die Kinder stumm davon, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Der Fahrer ließ den Wagen an, und sie fuhren davon.
Es dunkelte allmählich, und sie hielten für eine Rast mitten im Urwald an. Der Fahrer fuhr zum stark abschüssigen Wegrand, ganz so als handelte es sich um einen Haltestreifen, und parkte in einer bedenklichen Schieflage. Er blickte zum Himmel, dann kramte er eine Plane aus der Ladefläche und spannte sie über den Jeep. Ein paar Minuten später fing es stark an zu regnen. Der Regen lockerte den Boden bald dermaßen auf, dass sich der Jeep noch mehr den Hang hinunter neigte. Dann schienen sie einigermaßen stabil zu stehen. Mara traute sich dennoch kaum, sich zu bewegen, aus Furcht, sie könne den Wagen doch noch zum Kippen bringen. Der Fahrer, der es sich am Steuer gemütlich gemacht hatte, schnarchte bereits. Mara getraute sich nicht einzuschlafen.

Goetz kam zu spät zur Arbeit. Keiner bemerkte es, und er konnte ungestört seine Aufgaben erledigen. Er hatte sich vorgenommen, gleich nach Feierabend zur Polizei zu gehen und sich nach Mara zu erkundigen. Mehr fiel ihm nicht ein, abermals fühlte er sich hilflos und in seinem freien Gedankenfluss blockiert. Er verfluchte diesen Zustand, der ihn immer dann überfiel, wenn er gefordert war. Am Besten für ihn war es, wenn alles seinen geregelten Gang ging. Kreativität war seine Sache nicht.
Ja, Mara P., wohnhaft in der Straße soundso, Postleitzahl und so weiter. Sie war abgeholt worden, vermutlich von Polizisten. Können Sie mir helfen? Ich weiß nicht, wo man sie hingebracht hat. Der wachhabende Polizist tippte etwas in den Computer, betrachtete wortlos seinen Bildschirm, schaute kurz auf und ging ebenso wortlos davon. Goetz wartete ein paar Minuten. Der Polizist kam nicht wieder. Nun, er hatte es wenigstens versucht.
Goetz verließ das Polizeipräsidium. Es hatte zu regnen begonnen. Er wurde nass. Er bekam Hunger. Zuhause gäbe es nichts zu Essen. Mara hatte sich immer um das Essen gekümmert. Goetz würde Essen gehen müssen. Es war sehr schwierig: Sollte er zum Chinesen gehen, oder zum Italiener? Er konnte sich nicht recht entscheiden und beschloss, einfach das nächstbeste Restaurant zu besuchen. Der Zufall führte ihn zum Griechen, wo er etwas Gyros zu sich nahm. Es schmeckte ihm nicht besonders. Im Hintergrund lief der Fernseher. Sport. Goetz vermisste Mara immer mehr.

Mit Beginn der Morgendämmerung wurde der Fahrer wach. Mara hatte bis dahin nicht geschlafen. Der Regen hatte aufgehört. Stattdessen lag dichter Nebel über den Resten der Straße, über der Vegetation. Sie streckte sich und bekam eine Prise Eigenduft ab. Nun roch sie beinahe genauso betörend wie ihr Fahrer, der sich mit dem Ärmel den verkrusteten Speichel aus den Mundwinkeln wischte. Er setzte sich auf und drehte den Zündschlüssel. Die Fahrt ging weiter.
Mara verspürte heftigen Harndrang, verkniff ihn sich aber. Sie hatte sich während der Nacht ohnehin schon eingenässt, da sie sich nicht getraut hatte, den Wagen im strömenden Regen zu verlassen. Was sind da noch ein paar Tropfen Urin mehr?
Mara ließ sich gehen, und es war ihr egal. Alles war ihr egal. Man sprach nicht mit ihr, man teilte ihr nicht mit, was mit ihr geschehen sollte. Sie dachte an Goetz und stellte sich vor, wie er alle Hebel in Bewegung setzte, um sie wieder nach Hause zu holen. Dann wurde sie wieder realistischer und erinnerte sich an Goetzens Generalhilflosigkeit und Lethargie. Sie begann hemmungslos zu schluchzen. Niemand würde sie je wieder nach Hause bringen. Niemals würde sie erfahren, wo sie sich befand und wo sie hingebracht werden sollte. So sah es aus! Mara hatte ein ernsthaftes Problem.
Gegen Mittag, die Schwüle war kaum auszuhalten, wurde der Urwald allmählich etwas lichter, bis sie eine von der Natur wieder zurück geholte Plantage durchfuhren. An ihrem Ende war eine riesige, baufällige Villa zu erkennen. Große Teile davon waren überwuchert. Sie machte keinen besonders guten Eindruck. Der Jeep folgte einem Weg um einen sich außer Betrieb befindlichen, riesenhaften Springbrunnen. Vor dem Haupteingang bremste er ab. Der Fahrer stieg auf die Ladefläche, um Maras Gepäck hinaus auf die Treppe zu werfen. Mara kletterte mit schwachen Beinen aus dem Jeep und klaubte ihre Sachen vom Boden zusammen. Die Räder des Jeeps drehten kurz durch, dann fuhr er davon. Sie schaute ihm fassungslos hinterher, bis aus ihm ein Punkt wurde und er sich endlich ganz auflöste.
Aus dem Inneren der Villa vernahm sie leise Musik. Es schien sich um einen alten Marsch zu handeln, und die Tonqualität ließ eher auf ein Grammophon als auf ein modernes Gerät schließen. Mara entschloss sich dazu, dies als ein gutes Zeichen zu werten. Immerhin schien die Villa bewohnt, und auch wenn erwartungsgemäß niemand der dort befindlichen Menschen mit ihr auch nur ein Wort wechseln würde, so war stumme Gesellschaft immer noch besser als gar keine.
Beinahe hätte sie an die Türe geklopft, doch sie hatte die leise Ahnung, dass man sie ohnehin nicht hereinbitten würde, also ließ sie das. Die Türe war zudem nicht verschlossen, und als sie sie öffnete, gab sie einen fürchterlichen Laut von sich, ganz so als sei sie mit dem Genital eines Gefolterten verbunden.

Zuhause schaltete Goetz den Fernseher an. Er rubbelte sich den Kopf mit einem Handtuch trocken, während er missmutig einen schlechten Spielfilm erdulden musste. Er ließ das Handtuch zu Boden und sich in den Sessel fallen, ergriff die Fernbedienung und zappte sich durch das Programm. Eine Dokumentation über seltene Tiere auf irgendeiner Inselgruppe. Eine Spielshow mit teils infantilen Fragen. Eine Casting- oder Talentshow, Nachrichten. Goetz mochte keine Nachrichten. Sie verunsicherten ihn sehr. Wie bei einer Soap war es: Einmal eine Folge verpasst, und er würde nicht mehr folgen können. Einmal nicht aufgepasst, und er würde gar nicht mehr verstehen, um was es in den Nachrichten überhaupt ging.
Er stellte den Fernseher wieder ab. Ohne Programmheft war Fernsehen ein hoffnungsloses Unterfangen. Im Kühlschrank gab es noch ein Bier. Mara musste es noch kurz vor ihrer Abreise gekauft haben. Morgen würde er neues Bier kaufen müssen. Mara war ja nicht da. Das Auffüllen des Kühlschrankes war immer ihre Aufgabe gewesen. Ebenso der Kauf eines Fernsehmagazins.
Goetzens Aufgabe war es stets gewesen, dankbar zu sein. Seine neue, unfreiwillige Rolle fiel ihm schwer. Er hätte sich viel lieber ganz allmählich an die Sache herangetastet, statt urplötzlich auf sich selbst gestellt zu sein. Man hätte ihm Mara nicht einfach so entziehen dürfen. Dies stellte eine besondere soziale Härte dar, gegen die man eigentlich klagen müsste. Eigentlich. Goetz ging zu Bett und überlegte, wie er diesen Zustand beenden könnte.

Ganz so, als würden sich Menschengruppen durch die Flure der Villa bewegen, brandeten Stimmen und Gelächter auf und ebbten wieder ab. Mara konnte sie nicht orten. Anfangs hatte sie noch versucht, ihnen nachzugehen, den Ursprung der Geräusche ausfindig zu machen. Ohne Erfolg. Die Villa wirkte von Innen um einiges größer, als ihre Außenansicht zunächst hätte vermuten lassen. Es gab riesige Durchgangszimmer - das Interieur und abgeblätterte Farbe deutete auf gewesenen Reichtum hin – endlose Flure und eine Vielzahl von Treppen, die zu immer weiteren Fluren führten, an deren Seiten sich wiederum Durchgangszimmer befanden.
Mehr als einmal hatte sich Mara verlaufen, konnte weder ihren Ausgangspunkt noch ins Freie finden. Es war daher angebracht, sich auf ihren Exkursionen jede Treppe, jede Abzweigung zu merken. Aber selbst dann war es noch schwer genug, nicht die Orientierung zu verlieren, zumal Räume und Flure sich überall stark ähnelten.
Bald gab sie es auf, nach den Menschen zu suchen. Sie nutzte die Zeit, sich nach draußen in den verwilderten Garten zu begeben, dort die Steinskulpturen zu betrachten oder ausgedehnte Spaziergänge an der Straße entlang zu unternehmen. In der Hoffnung, doch noch auf Spuren irgendeiner lebendigen Zivilisation zu stoßen, kehrte sie bei Anbruch des Abends immer wieder enttäuscht um.
Mara war isoliert, abgeschnitten von der Gemeinschaft. Ihre nächsten Freunde wurden Orchideen und Frösche, unter beiden gab es riesige Exemplare. Sie begann sie zu untersuchen und zu zeichnen. Sobald es dämmerte, ging sie in die Villa zurück, wo bereits das Abendessen angerichtet war. Die ihr vorgesetzten Speisen waren überwiegend vegetarisch, die seltenen Fleischbeilagen erinnerten sie an ihre neuen Freunde, die Frösche.
Mara hatte keine Ahnung, wer ihr die Speisen zubereitete noch wer sie brachte. Einmal verbrachte sie den ganzen Tag im Haus, um wenigstens dieses Geheimnis zu ergründen, doch dann war sie kurz eingenickt und als sie die Augen wieder öffnete, fand sie in ihrer unmittelbaren Nähe stets einen gedeckten Tisch.

Goetz gewöhnte sich bald daran, für sich selbst zu sorgen. Er erledigte Einkäufe, kochte, und nachdem ihn ein Besuch im Badezimmer immer mehr Überwindung kostete, raffte er sich dazu auf, es gründlich zu reinigen. Es ging erstaunlich schnell, was ihn ermutigte, und bald darauf waren auch Küche, Wohn- und Schlafzimmer aufgeräumt.
Er zog das Bett ab, betätigte die Waschmaschine, und damit war mit ihrem fortgewaschenen Geruch auch die letzte Erinnerung an Mara verschwunden. Kein Kissen mehr, in das er seine Nase voller Sehnsucht hätte hineindrücken können. Goetz lebte nun gänzlich alleine in der für ihn eigentlich viel zu großen Wohnung. Doch er genoss es, endlich Platz zu haben. Er hörte wieder öfter Musik und las dabei Bücher, die sich schon seit Jahren ungelesen im Buchregal aufreihten – ein stilles Mahnmal Goetzens Faulheit und Desinteresse. Der Fernseher blieb kalt.

Wie jeden Morgen wurde Mara von sanften Sonnenstrahlen geweckt, wie sie zuerst ihre Stirn küssten und dann die Nase neckten. Sie warf sich einen Morgenmantel über – wozu eigentlich? - und setzte sich an den gedeckten Tisch. Tischlein deck Dich! An dieses Märchen musste sie jedesmal unwillkürlich denken.
Mara erledigte beinahe vergnügt ihre Morgentoilette und begab sich nach draußen. Es würde heute sehr heiß werden, deswegen nahm sie eine Decke mit und legte sich in den Garten, ganz in der Nähe des riesigen, umrankten Springbrunnens. Nach einer Weile fand sie es albern, angekleidet in der Sonne zu liegen, und sie legte ihre Kleidung samt Unterwäsche ab. Sie fläzte sich auf der ausgebreiteten Decke und döste bald darauf weg.
Nach einer Weile stieg ihr ein seltsam vertrauter Geruch in die Nase, etwas säuerlich vielleicht, dazu die Note eines nahegelegenen Wildgeheges und der Geruch des Alters. Als sie die Augen aufschlug, stand über ihr ein faltiger Hautsack von Mensch, beinahe kahlköpfig. Ein alter, nackter Mann mit erigiertem Penis. Er gickerte, als sie ihn erschrocken ansah, und hüpfte sonderbar leichtfüßig davon, zurück in die Villa.
Eilig raffte Mara ihre Sachen zusammen und kleidete sich im Gehen wieder an, den Alten atemlos verfolgend. Doch schon an der Haustüre verlor sich jede Spur. Sie beruhigte sich allmählich wieder, bekam einen klaren Kopf. Sie war nicht mehr alleine. Mara würde Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müssen.

Goetz fand eine Bar, die er nun regelmäßig besuchte. Es herrschte dort eine angenehme Geschäftigkeit, es lief keine Musik, und die Gespräche der Gäste waren verhalten, ein beruhigendes auf- und abwogen von Geräuschen, wellenförmig. Noch mehr Gefallen aber als an der Atmosphäre fand Goetz an der Bedienung hinter dem Tresen. Pablo war hochgewachsen, mit dichtem, dunklen Haupthaar, feinen Gesichtszügen und dabei wirkte er gänzlich unaffektiert. Er war tadellos in seinem Verhalten, stets freundlich und verbindlich seinen Gästen gegenüber.
Als sich Goetz beim ersten Besuch an den Tresen setzte, fühlte er sich sofort wohl. Von nun an sonnte er sich regelmäßig in der wohlfeilen Aura des Spaniers. Dabei stieg in ihm ein heftiges Verlangen auf, dass er so noch nie einem Mann gegenüber verspürt hatte. Goetz war erschrocken darüber, aber auch neugierig geworden.
Nun saß er schmachtend, fasziniert, aber auch irritiert auf seinem Barhocker, trank stumm seine Drinks, zahlte endlich und ging nach Hause. Seltsam aufgekratzt war er, fand keinen Schlaf und dachte nach.

Als Mara dieses Mal aufwachte, war da keine sie neckende Sonne, sondern vielmehr ein Schatten, der sich über ihre erwartungsfrohe Stirne legte. Dies erweckte ein Mißtrauen in ihr, und als sie endlich die Augen öffnete, entfuhr ihr ein Schrei: An ihrem Bett hatten sich zwei Gestalten versammelt, die im Gegenlicht schemenhaft wirkten. Als sie sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatte, erkannte sie zwei alte, knitterige Wesen, beide nackt. Es handelte sich um den selben Mann, der ihr am Vortag im Garten begegnet war, und eine fette Frau mit tief hängenden Brüsten und einer lichten, grauen Scham. Beide starrten sie Mara neugierig nach vorne geneigt an. Die Alte fasste Mara zwischen die Beine und roch dann an ihren Händen, lachte triumphierend auf, als hätte sie den Jungbrunnen gefunden. Dann rannten die beiden aus dem Zimmer, vorne die Alte, und hinter ihr der Alte, der ihr lachend einen Klaps auf die Hinterbacke verabreichte. Sie kreischte auf vor Vergnügen, und dann waren sie fort.
Mara saß erschrocken in ihrem Bett, neben ihr auf dem Boden lag ihre Decke. Sie war sich sicher, in der Nacht ihre Zimmertüre verschlossen zu haben.

In einer weiteren, schlaflosen Nacht ging Goetz noch einmal vor die Türe, hinaus auf die Straße. Dann lernte er den schönen Paul kennen und nahm ihn mit zu sich. In seinen Armen konnte Goetz endlich schlafen. Am nächsten Morgen war der schöne Paul verschwunden, doch das machte ihm nichts. Er duschte, zog sich an und ging gutgelaunt zur Arbeit.

Mara gewöhnte sich allmählich an die morgendlichen Besucher. Sie hatte es längst aufgegeben, nächtens ihre Türe und die Fenster zu verschließen. Irgendwie fanden die Alten doch immer einen Weg zu ihr hinein. Ganz so, als sei sie ein ganz besonderer Fall, kamen andere Alte hinzu, um Mara zu betrachten, blieben dann wieder weg, nur um am nächsten Morgen wieder andere mitzubringen. Sie sprachen kein Wort, starrten Mara nur an, geschmückt nur durch ihre klebrig- glänzenden Schwänze und feuchte Mösen, bis diese aufwachte vom säuerlichen Geruch abgestandenem Geschlechtsverkehrs. Keiner fasste Mara mehr an, und sobald sie aufwachte, zogen sich die Alten langsam zurück und verließen nach und nach ihr Zimmer.

So ging es nun Nacht für Nacht, Goetz war schlaflos, ging auf die Jagd und weidete seine Beute zu Hause aus, geriet zuerst in Extase und dann in tiefen Schlaf. Doch das Gefühl, dass sich dabei einstellte, war flüchtig wie ein billiges Parfüm. Es hielt nur die Nacht und einen Morgen. Am Mittag schon fühlte Goetz nichts mehr, und am Abend kam die Entzugserscheinungen. In der Bar suchte er Linderung, bekam sie aber nicht. Alles Schmachten zu Pablo, dem Wirt, half nicht, es stellte sich nur rasende Begierde ein.
Goetz hatte doch so viel Liebe zu geben, er wollte sie am liebsten der ganzen Welt schenken, oder Pablo. Doch weder die Welt noch Pablo, das spürte Goetz,schienen bereit für seine Liebe.

Plötzlich war die Villa, die vorher noch so verlassen schien, voller Leben. Sobald Mara ihr Zimmer verließ, huschten die Schatten der Alten durch die Flure, in die Zimmer hinein, aus den Zimmern heraus. Für ihr Alter, schienen diese Leute ziemlich aktiv.
Wo immer sie sich auch umschaute, fand sie kopulierende Alte vor, denen keine noch so ausgefallene Sexualpraktik ausgefallen genug erschien. Sie waren ganz offensichtlich pansexuell.
Mara fand sich fasziniert und abgestoßen zugleich. Sie hätte ebenso ihre Freunde, die Orchideen und Frösche im Garten besuchen können, doch die interessierten sie nicht mehr. Hier war etwas, dem sie auf den Grund gehen konnte.

Vom langen Abdul hatte er die Adresse bekommen. Seinen Namen hatte Abdul nicht seiner Körpergröße wegen, wie Goetz leidvoll, lustvoll am eigenen Leib zu spüren bekam.
In der warmen Feuchte des Bäderbetriebes fand Goetz vorwiegend kreatürliche Männer jeden Alters vor. Sie waren allesamt stark behaart und kräftig, ganz und gar nicht Goetzens Linie. Doch er wollte dieses Mal einfach den Worten des langen Abduls vertrauen. Der schwärmte in den höchsten Tönen von den dortigen Ereignissen.

Je weiter sich Mara an ihre neuen Studienobjekte heranwagte, desto mehr wurde sie mit einbezogen, das war ihr bewußt. Es war eine gefährliche Promotion, die sie hier schrieb. Sie musste nur die Spielregeln herausfinden, sich daran halten, und nichts würde ihr passieren. Eine der Spielregeln hatte sie bereits herausgefunden: Abstand wahren! Sie durfte zuschauen, aber nicht zu nahe herantreten. Die Alten genossen ihre Blicke, ließen Mara aber in Ruhe. Ab und an hüpfte einer der Alten an ihr vorbei und lupfte kurz ihr Kleid, doch weiter ging es nie.

Niemand sprach ein Wort, und als sie sich gemeinsam in die Dampfsauna setzten, zehn nackte Männer jenseits jeglicher körperlichen Ästhetik, und er natürlich, Goetz. Er war dankbar, dass der Dampf deren Physiognomie bis zur Schemenhaftigkeit bedeckte.
Goetz beobachtete, wie einer der Männer sein Gesicht in den Schoß eines anderen legte. Schon sehr bald darauf spürte er, wie zwei starke Hände seinen Kopf sanft umfassten und nach hinten drehten, und er seinerseits in den warmen, gepfählten Schoß seines Hintermannes gezogen wurde. Noch während er sich in einer drehenden Bewegung seines Körpers nach hinten beugte, drang in ihn weitere Wärme lustvoll schmerzhaft ein, und er fühlte sich dabei, als höbe er ab vor Leichtigkeit und Wonne.
Goetz war im Himmel angelangt, und die Engel pusteten ihn von nun an von einer Wolke zu anderen, wie eine Feder so leicht schwebte er dahin, willfährig, missbraucht, wonnebeflügelt und bar jeden Kontrollvermögens.

Doch dann kam Mara einem kopulierenden Paar zu nahe. Sie selbst verspürte schon seit Tagen eine immense Lust, die sie versucht hatte, selbst zu befrieden. Was ihr jedoch misslang, da sie sich stets beobachtet vorkam. Nicht aus freiem Willen, vielmehr unbewusst, in einem Moment tiefer sexueller Ergriffenheit, fasste sie einer alten, schrumpeligen Vettel, welche sich gerade auf einem klapprigen Dürren befand, an die Schulter. Jemanden spüren, jemanden fühlen. Es war eine Offenbarung. Mara hatte schon so lange niemanden mehr berührt.
Die anderen Alten im Raum, die um die kopulierenden Paare standen und sich selbst eine Pause gönnten, stimmten in einen leisen Chor ein. Sie kamen näher. Mara war nun eingekreist von den Alten, die ihre Hände nach ihr ausstreckten und auf sie zugingen.
In Mara stieg Panik auf. Man musste ihre Annäherung wohl als Einladung missverstanden haben. Nun war sie umgeben von einer Dunstwolke aus Milchsäure, Essig, altem Schweiß und Kot. Mara schrie laut auf, was die Alten erschrocken zurückweichen ließ. Sie ergriff diese Gelegenheit zur Flucht, und noch während sie sich einen Weg durch die Alten hindurch bahnte, versuchten diese, sie festzuhalten. Mara schaffte es zur Türe hinaus und lief entsetzt durch die Gänge. Die Alten folgten ihr langsam, doch egal, wo Mara anhielt, um zu verschnaufen, kamen sie bereits herbeigeströmt. Kaum stieß sie eine Türe zu einem Raum auf, waren darinnen schon die Alten, von der anderen Seite des Zimmers herkommend – eine zähe, klebrige Masse, die sich nicht abschütteln ließ.
Mara flüchtete eine Treppe hinunter, aber selbst dort schoben sie sich von unten die Stufen hinauf. Es war zwecklos, sie würde ihnen nicht entkommen können. Sie fiel auf die Knie und schlug ihre Hände vor das Gesicht. Erschrocken nahm sie wahr, dass diese alt und fleckig waren. Als Mara an sich hinab blickte, sah sie ihre Brüste schlaff an ihrem Körper herunterhängen und ihre Arme rapide altern.

HEK 21.12.2009