Samstag, 20. Oktober 2012

Götter mit Rädern untendran (ein Bericht aus einer anderen Zeit)

von Holz E. von Bald

Heute fahren wir in Zügen. In der Nacht blitzen stakkatohaft Winterlandschaften im Widerschein krickeliger Elektrizität auf. Tags sehen wir zu Klump geronnene, sich stetig renaturierende Wälder und Straßen. Wir sehen getürmte Wolkenknäuel in den prächtigsten Grautönen, ganz wie aus dem Malkasten eines räudigen Hundes. Neben uns lesen wir Starkstromleitungen wie Bücher mit alternativen Handlungssträngen, so sehr laufen sie in- und wieder auseinander, gabeln sich erneut und schnalzen geschwind ins Nichts. Barbarische Dörfer und ruinierte Städte ziehen an uns vorbei, dazwischen einzelne Tupfer öden Dahinvegetierens. Dann und wann hören wir eine freundlich mechanisierte Stimme aus dem Off: „Die Regionalbahn 134 von Bingen nach Minsk, plamsige Abfahrtszeit um 12:34 Uhr, verspätet sich heute um nicht weniger als 20 Minuten." Später dann: "Wegen einer Betriebsstörung zwischen Göttingen und Belgrad hält der Zug außerplamsig nach den Farben der zu durchfahrenden Ortschaften.“ Ich muss später in Karmesinrot umsteigen, um den Zug nach Silbergrau noch zu bekommen. Genügend Zeit also, die Ereignisse der letzten Jahre Revue passieren zu lassen. Warten Sie, ich zünde mir zuerst eine Zigarette an meinem Bauchnabel an. Schlechte Angewohnheit, ich weiß. Aber auch das ist so ein Relikt aus vergangenen Tagen. Es ist schwer, sich ganz davon zu lösen.

Wir waren damals alle ganz kirre. Uns fehlte eine Religion, ein Glaube, ein Versprechen. Die Ideologien hatten ausgedient. Der Sozialismus war unverstanden und kahl an fremder Unfähigkeit gestorben. An den Kapitalismus glaubten nicht einmal mehr die, die von ihm profitierten. Selbst fundamentalistische Christen und Muslime hatten schließlich erkannt, dass man Gott nicht essen kann und flüchteten sich wie wir alle in virtuelle Welten, ausgestattet mit unechtem Geld und Freunden, die man nicht persönlich kannte. Während wir einerseits vor dem Kasten saßen und in ihn hinein starrten, saßen wir andererseits gerne in einem Kasten, um hinaus zu schauen und die Welt drive by shooting zu erfassen. Dies lag an den grundlegenden, doch indifferenten, ja geradezu schizophrenen Bedürfnis der Menschen, einerseits die Gesellschaft und andererseits die Einsamkeit zu suchen. Dieses inkoheränte Verhalten verunsicherte jedoch die Staatsgebilde, die zunehmend gasförmige Aggregatzustände angenommen hatten, sehr. Sie bildeten gerade Konglomerate mit den zehn mächtigsten Wirtschaftsunternehmen der Welt. Die letzten demokratische Staaten gaben dafür das passive Wahlrecht auf. Ihre Regierungen bildeten sich auf Grundlage der Umsätze. Lotterieausschüttungen an die Regierungsmitglieder ersetzten die Diäten. Warum auch nicht?

Wir, die Konsumenten, waren kaum mehr zu kontrollieren. Die virtuelle Gemeinschaft machte uns aggressiv und steigerte unsere unbenannte Wut, die wir schließlich im Straßenverkehr loszuwerden suchten, nur um hinterher Online damit zu prahlen. Die kapitaldemokratischen Konglomerate dachten derweil angestrengt nach, wie sie eine neue Ordnung mit gewaltigem Kommerz verbinden konnten. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis man darauf kam, jedem Neugeborene automatisch einen Account bei einem sozialen Netzwerk anzulegen, unkündbar und lebenslang. Dies revolutionierte die Staatsreligionen und Nachrichtendienste auf eine gewaltige Weise. Hallelujah. Wir hatten nun einen weiteren, menschgeschaffene Gott und dachten, wir hätten alles unter Kontrolle. Denn anders als dieses metaphysische Wesen aus der Vergangenheit war die virtuelle Welt doch erklärbar durch Algorithmen und Bits und Bytes. Den Rest erledigte die Psychologie des Marktes, und so starrten wir erneut gemeinschaftsselig in die Monitore, bis unsere Augen schmerzten vor lauter Netzwerk. Der Markt, der unsere Bedürfnisse erkannte und nur unser Wohlergehen im Auge hatte, schuf Abhilfe, indem er zuerst die Endgeräte an unsere Körper via Bauchnabelport (oder BioPort) koppelte und nur wenige Monate später die Gerätechips direkt implantierte. Diese Befreiung von all den Geräten ließ uns selig nach innen lächeln.

Wir wählten nun in Gedanken unsere Freunde an, sprachen mit ihnen oder ihren virtuellen Stellvertretern. Wenn wir Hunger hatten, nahm ein Supermarktversandcenter unserer Wahl (Werkseinstellung) unsere Bestellung auf und lieferte Lebensmittel an unseren per GPS bestimmten Aufenthaltsort. Wir sahen Kunst oder eine glitschige Bananenschale, vielleicht einen kotenden Köter, und die Welt hatte Anteil an unserem Erleben. Wir wurden geliked und bewertet und für gut befunden, und wir wussten alles über unsere Freunde. Freunde, die wir mochten, hatten wiederum andere Freunde, die sie mochten und die wir zu den unsrigen machen konnten. Wurden wir einmal aggressiv, schaltete sich schon in der Eskalationsphase 1 ein virtueller Aggrobot ein und ebnete unsere Gefühlsregungen ein. Derweil rosteten unsere Autos in den Garagen vor sich hin. Wir hatten sie einfach vergessen, schlicht nicht mehr gebraucht, um unser Gefühlsleben zu regulieren. Wir hassten und liebten uns im Netz. Und so erlebten wir das totale Gemeinschaftsgefühl, die ständige Erreichbarkeit und die absolute, physische Friedfertigkeit.

Es war furchtbar. Viele Menschen fühlten eine große Leere in der Bauchnabelgegend. Nach und nach ließen wir uns die Chips also wieder entfernen und glaubten damit uns selbst wieder nahe zu kommen. Wir hatten uns natürlich getäuscht. Denn wir hatten längst vergessen, wer wir waren ohne unsere Profile und ohne profilschärfende Applikation. Es war ein einziges Chaos. Die Menschen waren mitteilungsbedürftig wie eh und je, nur dass sie nun jeden Anlass zu uferlosem Offline-Geplapper nutzten, völlig wahllos und ohne zu ahnen, ob sie nun geliked werden oder nicht. Auch hier separierten sich allmählich einige Konsumenten und verbaten sich jede öffentliche Ansprache. Dies schuf große Unzufriedenheiten und zunehmende Aggressivität im Umgang untereinander. Verbal grob angegangene Menschen reagierten sich physisch ab, und die völlig überforderte, nur virtuell geschulte Polizei konnte sich der endlosen Quasselei einerseits und den heftigen Hieben andererseits kaum erwehren. Das Staatsgebilde schien allmählich zusammenzubrechen, dieses Mal endgültig. Bald hatten wir alle jedes Bedürfnis nach Gemeinschaft verloren. Wir stürmten in unsere Garagen und setzten uns ans Steuer, starteten die Motoren und ließen unserer Verzweiflung freien Lauf. Bald merkten wir: Nicht das Internet mit seinen Verlockungen und Gerätschaften war unser Gott. Wir selbst waren die Götter, und wir brauchten ein Gefährt, das uns Macht verleiht über die Leben anderer. Wir waren Milliarden einzelner Götter, die eifersüchtig über ihre Schöpfung wachten, in steter Konkurrenz zueinander standen und nur durch Götterhand sterben konnten. Dies war unsere neue Religion.

Wir waren tobende Götter. Unser Donner war Motorenlärm, die Hupe eine Drohgebärde für die devote Menschheit, unser Schleuderblitz die Stoßstange. Unsere Geschwindigkeit demonstrierte die uns innewohnende Macht, der Asphalt der Straße war unser Olymp. Aus Tankstellen wurden Tempel, aus Zapfsäulen Altäre, aus Automobilfabriken elysische Felder. Die kapitaldemokratischen Konglomerate huldigten uns und brachten ihr Opfer in Form von honiggelbem, brenzlig riechendem Ambrosia aus biologischem Anbau. Nachdem sie erkannten, wie sie uns am besten dienen konnten, schufen sie Tempel auf Tempel, um unseren Hunger zu stillen und uns gleichzeitig ihrem Willen gefügig zu machen. Sie erinnerten sich an den Segen der BioPorts und erschufen dann neue Himmelsgefährte, die sich mit unseren göttlichen Körpern symbiotisch verbinden konnten und nur durch unsere überheblichen Geister steuerbar waren. Fortan bildeten wir eine Einheit. Wir fühlten Freude und Schmerz mit dem Fahrzeug, und dessen Hunger war unser Hunger. Schon bald verließen wir unsere Himmelsgefährte nicht mehr und verbrachten die Tage und Nächte in ihnen. Wir vernetzten uns und liebten uns darinnen, wir aßen dort und arbeiteten, verrichteten unsere Notdurft in ihnen und ließen uns in den zahlreichen Tempeln warten und huldigen. Als völlige Individuen suchten wir die Gemeinschaft mit anderen in endlosen Verkehrsstaus. Wir erließen Dekrete, die niemanden interessierte und machten anstößige Gesten, die niemand sah oder verstand. Wir waren Götter und Sklaven zugleich, hochgetuned zur völligen Symbiose mit unseren Automobilen. Wie Gänse wurden wir von den Hohepriestern der Konglomerate vollgestopft, die stetig unsere Lebern befühlten und mit sicherem Lächeln für gut befanden, während sie uns nach und nach die Flügel stutzten.

Doch das große Schlachten und Ausweiden der Götter blieb aus. Denn die Schöpfer unserer Himmelsgefährte hatten nicht bedacht, dass wir biomechanische Wesen waren, deren biologischer Teil eine Krankheit nicht autark durchsteht, sondern den mechanischen Teil infiziert. Da schlackt dem Himmelsgefährt das Ambrosia in den Eingeweiden, die Bordelektronik verschnupft zu zähem Schnodder, der Lack zerbröselt filigran zu schmieriger Asche und Gummi klumpt zu klammer Lava. So reichte letztendlich eine einzige Erkältung, um sämtliche, überdies miteinander vernetzten Götterwagen innerhalb kürzester Zeit lahm zu legen und irreparabel am Straßenrand verenden zu lassen. Wir zu Menschen zurechtgeschrumpften Götter zogen die Stecker erst nach Tagen aus unseren Bauchnabeln und krochen belämmert aus den Wägen, um die Wonnen einer guten Hühnersuppe schätzen zu lernen. Sattsam geruht und geheilt von ärgerlichem Schnupfen und Größenwahn, schlenderten wir entschleunigt durch die Straßen. Wir bauten dem vor sich hin lotternden Schrott am Wegesrand die nun obsoleten Ports aus und platzierten sie fachgerecht als Zigarettenanzünder in unsere Körper. Dies als Erinnerung, als Mahnung an vergangene Narreteien, letztendlich aber doch dazu angetan, uns eine Filterzigarette an unserem Nabel anzünden zu können.

Dann wandelten wir schwerfällig schmauchend über die unbefahrenen Straßen. Unsere fetten, gallertartigen Leiber blubberten ziellos umher, während die Natur allmählich unsere durch Straßen domestizierte und mit Verkehrszeichen gestrählte Welt zurückeroberte. Gras brach den Asphalt auf, wo er am brüchigsten war, Kletterpflanzen rankten in die Höhe und stachen den Ampeln mit schwerfälligem Geäst die Augen aus und fällten tranige Stoppschilder im Akkord. Die verdorrten KFZ- Leichen an den Straßenrändern waren schnell überwuchert und wurden so zu blühenden, korallenriffgleichen Herbergen florierenden Lebens. Dort, wo sich die Natur bereits im fortgeschrittenen Maße erholt hatte, wuchsen zuerst Blumen, dann Dornen und später auch Bäume. Wir erkannten all dies mit Wohlgefallen unter dem Schutz unserer Sonnenbrillen. Es dauerte nicht lange, bis die Fauna nachzog mit ihrem quirligen und doch so bierernsten Gewese. Da nahmen wir uns ein Beispiel und passten uns an. Im brüllenden Urwald unserer Städte nahmen wir die Arbeit wieder auf. Die Produktion lief langsam, doch hatten wir keine Eile: Wir mussten nicht mehr wachsen und kriechen wie zu früheren Zeiten. Erstmals waren wir befreite Wesen, unsere Knechtschaft schien gebrochen.

Eines aber sollte man niemals unterschätzen: Der unendliche Erfindungsreichtum der Menschen lässt uns eine Abhängigkeit durch die andere ersetzen. Und wie immer ist es das Undurchdachte, das Imperfekte, was uns von einer Innovation zur nächsten treiben lässt und uns in die Unmündigkeit treibt. Gestern haben wir entschleunigt geraucht, vorgestern waren wir Götter mit Rädern untendran. Heute fahren wir mit dem Zug. Was bleibt uns anderes übrig, als uns auch in diese Daseinsform zu verlieben? Und so schaue ich die Welt an mir vorüberziehen, gleich als sei ich der Fixpunkt in diesem Universum. Ein Gott, der dem Zugbegleiter mittels Netzhautscan die Gültigkeit seines Fahrausweises nachweist und via sicherheitszertifizierten, datentransferierenden Augenklick einen Serviceaufschlag berappt. Dann endlich eine Ansage: „Plamsiger Halt in Rot am 23.5.2045 gegen 17:25 Uhr, mit 70,3 Stunden Verspätung. Wir von der Bahn-Conglom AG wünschen viel Freude an der Fahrt gehabt zu haben und hoffen auf ein baldiges Wiedersehen. Als kleine Aufmerksamkeit bekommen Sie an unserem Infopoint einen Gutschein für einen halbe Tasse Kaffee (Milch und Zucker nur mit Aufpreis). Vielen Dank!“ Den Kaffee lasse ich mir direkt in die Netzhaut einscannen, darauf können Sie Gift nehmen.
Anmerkung: Dieser Text sollte eigentlich ein Beitrag zum Schreibwettbewerb von autofrei leben! sein. Leider erfüllt er in keiner Hinsicht die Kriterien: Er zeigt keine positive Vorstellung von einem Leben ohne Auto, ist zudem in einer nicht nachzuvollziehenden Zukunft angesiedelt und außerdem etwas zu lang. Er geht wohl auch ein wenig am Thema vorbei. Deshalb habe ich ihn in einem Anfall von Selbstzensur erst gar nicht eingereicht. Wesentlich ist: Einen Rucksack aus LKW- Plane (Sachpreis) kann ich mir selber nähen, und Gesinnungsprosa fertige ich nur gegen gutes Geld an.