Montag, 9. November 2009

Kontrollbegabt.

Kronos schenkte der Welt die Zeit. Zeus, sein Sohn, entmannte ihn SPÄTER. Selber Schuld!
Einen Frieden finden
wenn es mal wieder länger dauert
und die Musik Gedanken stillt
an der Zitzen der Zeit

Komplikationen schnaufen im Rhythmus
ich, die Galeere, die Ruder
am Ruder die Hand, an der Hand der Arm
und am Arm der Körper beugt

sich schwer nach Vorne und zurück
Reaktion statt Aktion
Das ist nicht gut. Nein, gar nicht gut
Einen Frieden finden in den Gezeiten

Auf dass der Rhythmus meinig wird
und ich steu're das Boot
in den sich'ren Hafen kontrollbegabt
Beherrscher der Zeit

In den Tag hinein.

Darf ich mich zu Ihnen setzen? Bort, der sich bis eben noch am Tresen festhalten musste, damit er nicht gänzlich vom Barhocker fallen konnte, setzt das besoffenste Lächeln auf, das man sich nur vorstellen kann.

Bort ist ein Mann von beachtlicher Höhe. Und auch wenn es ihm innerlich an Tiefe mangelt, macht er dies wett durch stets korrekte und gut sitzende Kleidung. Selbst jetzt, da er sich volltrunken in einer Bar befindet, kann man ihm eine gewisse Attraktivität nicht absprechen.
Leider, das muss man so sagen, fühlten sich die Frauen durch Bort zuerst zwar angesprochen, doch wandten sich die meisten nach kurzer Zeit wieder ab: Er ist kein guter Plauderer, und auch das Zuhören fällt ihm schwer.

Langsam, beinahe vorsichtig dreht er den Kopf in jene Richtung, aus der er die weibliche Stimme vernommen hat und stellt dann folgendes fest: Es spricht tatsächlich jemand zu ihm, und es ist eine Frau, in jenem verlorenen Alter zwischen 30 und 40 Jahren, genauso wie er, Bort, zumindest fühlt er sich in diesem Alter so verloren, da ihm bewußt ist, dass es ihm an Perspektive mangelt, er die Unbefangenheit der Jugend schon lange abgelegt hat und sich dennoch nicht erwachsen genug fühlt, um das zu tun was man in seinem Alter eigentlich tut oder nach landläufiger Meinung tun sollte. Eher meint er zunehmend die Kontrolle über seinen schlaksigen Körper zu verlieren und versucht dem entgegenzuwirken, indem er elegante, maßgeschneiderte Anzüge aufträgt.

Bort grinst nun blöde, und als er dem Anliegen der Frau entsprechen will, nickt er ihr nur zu, wobei ihm der Kopf abzufallen scheint. Im Moment der Bewußtwerdung seines lächerlichen Zustandes hat er starke Zweifel daran, ob sie sein Einverständnis wahr nimmt und sich tatsächlich zu ihm setzt. Doch sie scheint sich daran nicht zu stören und nimmt Platz. Bort sieht: Dunkle, leicht gewellte, lange Haare, slawische Gesichtszüge mit den entsprechend weit auseinander stehenden Augen. Zu ihrem Gesicht trägt sie ein schlichtes, schwarzes, hochgeschlossenes Abendkleid, das ihr Dekolletee verbirgt und vielleicht gerade deshalb einen schönen Busen offenbart.

Sie lächelt ihn freundlich an und wartet eine Weile, die Augen fragend, wartend, auf irgendetwas, was Bort zu ihr sagen könnte. Was Borts Naturell entsprechend nicht passieren wird, da sein fieberhaft nach einem gesprächseinleitenden Satz suchendes Hirn blutet und seinen Verstand lähmt, seinen Mund in botoxhafter Weise offen stehen lässt.

Wenn Bort früher tatsächlich einmal in der Lage war, eine Frau aus zwar freien Stücken, aber nicht ganz freiem, weil geilem Willen anzusprechen, fehlte ihm am Ende jene notwendige Eloquenz, in ein profundes Gesprächsthema überzuleiten, wenn er zuvor irgendeine Banalität zum Besten gab, um überhaupt einmal zu eröffnen. Wie beim Schachspiel gelang es ihm nicht, die nötigen Züge zu tun, um zu gewinnen, obwohl er sich am Anfang stets gut schlug, sich sogar im Vorteil wähnte, aber dann aus lauter Ratlosigkeit eine Figur des Gegners nach der anderen weg schlug, bis das Spiel dadurch langweilig wurde, weil er die Situation zum Schluss nicht ausspielen konnte: Der König entwand sich immer wieder seinem Zugriff. Bort ist definitiv kein Fallensteller.

Mit Freunden hingegen gelang ihm die munterste Konversation, einmal angeregt war er kaum zu stoppen, ein Quell origineller Gedanken und Assoziationen. Dem anderen Geschlecht aber, zum Behufe der Partnerwahl, gegenüber versiegte dieser Fundus geistreicher Bonmots augenblicklich, da sich sein vegetatives Nervensystem auf Fluchtmodus einstellte. Hatte er dann auf ganzer Linie versagt und sich niedergeschlagen auf den Heimweg begeben, sprudelte die Quelle wieder und all die guten Dinge, die es zuvor zu sagen galt, wirbelten nutzlos, weil verspätet, in seinem Hirn umher.

Doch diese Frau, sie spricht nun zu ihm. Trotz seiner entfernten Gedanken und Unaufmerksamkeit genießt er ihre Anwesenheit, das weiche Timbre ihrer Stimme dringt in den Emotionen verarbeitenden Teil seiner Hirnwindungen. Daraufhin fühlt sich Bort geborgen. Zwar dämpft der Alkohol seine Wahrnehmung wie einst das Wasser in der Fruchtblase: warm und wohlig war's, das Herz, Blut pumpend pochend und die Außengeräusche waren gefiltert durch die Membran des Mutterbauches, erst nach der Geburt sollte Bort die Schrecken hochfrequenter Töne erfahren, welche den Bässen zwar erst Tiefe gaben, aber Bort ist nun einmal kein Mensch, der Fallhöhen zu schätzen weiß.

Vielleicht gerade weil er zeitlebens diese Mutterbaucherfahrung vermisst hat, sich in machen Zeiten in ihn zurückwünschte und wahrscheinlich deshalb die vaginale Nähe bei B. so intensiv gesucht hat – er wäre am liebsten ganz in ihr verschwunden statt nur mit seinem Teil – verbringt er sein Leben nun in dieser einen Bar, mit ihrem gedämpften Lichtern und Farben und Geräuschen. Er lebt sein Leben auf diesem Barhocker, haust hier, denkt, trinkt, trauert, erinnert.

Wie er B. kennenlernte, oder besser: sie ihn!
Wie sie eben nicht vor ihm zurück schrak, nachdem sie ihn erlebt hatte.

Wie sie eben doch eine Tiefe in ihm ergründen konnte oder sie ihm diese wenigstens nicht absprach.

Wie sie verliebt, vernarrt ineinander, die Kurzwarenabteilung im Kaufhaus durcheinander brachten, nur so zum Spaß.

Wie sie zusammen gezogen sind und auch noch den 100sten Abend lachend miteinander verbrachten.

Wie sie beide ihre Gerüche verströmten und in Leidenschaft sich selbst vergaßen.
Bort bestellt sich und seiner neuen Bekanntschaft noch ein Bier und einen trockenen Sekt. Sie prosten sich zu, stoßen an, und das, obwohl Glas und Flöte arge Feinde sind. Sie trinken auf ihr gemeinsames Wohl. Borts Kopf wird allmählich klarer, er kann nun wieder freihändig sitzen. Seine Hände braucht er nun zum Trinken, Rauchen, Erzählen. Die Zigarette hat er von der Frau. Sie macht ihn unbeschwert und schwebend, und er spricht von sich, von den Dingen, die er tut wenn er nicht von ihnen träumt, und von den Dingen, die er bereut, wenn er sie nicht tut. Sie hört ihm zu, lächelt an den richtigen Stellen – wenn Bort zum Beispiel amüsant wird – und zeigt krause Stirn, wenn Bort philosophisch wird.

Bort war glücklich mit B. Ihre Freunde störten sich vor allem an dieser gewissen Glückseligkeit, welche sich bei Verliebten nun mal einstellte. Obwohl sich die beiden allergrößte Mühe gaben, sich so natürlich wie möglich zu geben. Doch was ist natürlicher als ein Verhalten in Verliebtheit? Ihrer beider, früherer Normalität war schließlich einer neuen gewichen, sie waren verändert, hatten tief in ihrem Inneren versteckte Eigenschaften aus der Isolationshaft entlassen, ihre Persönlichkeiten aus der Eindimensionalität gerettet.

Als sie nicht mehr da war, hat er es zu Hause nicht mehr ausgehalten. In der gemeinsamen Wohnung erinnerte ihn alles an sie. Er hatte sich zunächst nicht getraut, die Bettwäsche zu waschen, weil ihr Duft noch darinnen war, doch gerade der Geruch war es, der ihm so arg zusetzte und seine Sehnsucht nur noch verstärkte. Doch er konnte sie nicht einfach auslöschen. Dann fand er, obwohl ihre persönlichen Dinge alle fort waren, doch immer wieder kleinste Gegenstände:
Unter dem Bett eine Haarspange

Einen ihrer Schlüpfer in der Kommode
Ein von ihr im gemeinsamen Urlaub gekauftes Essbesteck, welches den Weg von der oberen Schublade in die unterste gefunden hatte und sich in einem Emailletopf wiederfand

Eine Schallplatte in seiner Sammlung

Ein Parfümfläschchen unter dem Sofa

Haare in der Bürste

Briefe, Notizen, welche sie ihm im Laufe der Zeit schrieb
Und viele andere kleine Dinge, die großen Schmerz zu verursachen in der Lage sind. Die den Verlust spürbar machen. Er würde diesen Verlust nur überwinden können, wenn er alles hinter sich lassen würde. Deswegen ist er einfach gegangen, um fortan in einer Bar zu leben, in der sie beide niemals zuvor gewesen sind. Doch weil B. selbst dort ständig anwesend war, in seinen Gedanken, trinkt er. Nicht um zu vergessen, auch nicht um den Schmerz zu überwinden. Er weiß einfach nicht, was er sonst tun soll. Er trinkt auf B. und auf sein Leben mit ihr. Das Trinken ist ihm ein Akt reiner Festlichkeit geworden.
Hab' keine Angst, ich bin Dir nah.
Ein Lächeln, zärtlich. Ein Kuss, gehaucht.
Die Bar, an der Decke ein Lichtermeer.
Der Barmann ganz real, ein authentisches Klischee.
Im Licht des Tresens funkelt das Glas der Flaschen.
Im Spiegel dahinter ein verlorener Mensch und der bin ich.
Die Geräusche gedämpft, eine Musik so halbwahr wie der Mond.
Die Tür nach Draußen, eine Verheißung.
Dass jemand kommen kann.
Dass jemand gehen kann.
Gekommen ist jene Frau, mit der Bort nun spricht. Und während sie beide rauchen und erzählen, trinken, hat sie die Knie übereinander geschlagen, den Ellbogen am Tresen abgestellt, ihre Hand hält Zigarette und Kopf zugleich. Er hat immer wieder diesen einen Traum. Ob er ihn ihr erzählen darf. Sie stimmt zu.

In diesem Traum gelingt es mir beinahe zu fliegen. Dieses Gefühl dabei, es scheint mir ganz vertraut, real zu sein. In manch wachem Zustand glaube ich dann, ich könnte das. Doch muss es ein Traum gewesen sein. Wie ich laufe und mit meinen Füßen immer größere Schritte mache, bis ich den Boden fast nur mit den Fußspitzen berühre und aus Schritten Sprünge werden, immer und immer größer. Fast als sei die Schwerkraft vermindert, verlasse ich den Boden zwar nicht ganz, doch verbringe ich nun mehr Zeit in der Luft. Es ist kein Schweben, vielmehr ein schwereloses Hüpfen, ein Gefühl der Leichtigkeit auf schwierigem Gelände. Und wie in einem Traum Gerüche und Geschmäcker vertraut scheinen und ganz real scheinen, kann man sie, zurück in der Realität, jedoch nie eindeutig zuordnen. So will es auch mit dieser Form der Leichtigkeit sein. Ich scheine dies alles tatsächlich schon einmal erlebt zu haben, kenne aber weder das wann und das wo. Kann mich einfach nicht erinnern. Wie ein Astronaut in einem Filmstudio bin ich, im Schutzanzug zwar, doch geknechtet von der irdischen Physik.

Bort stockt. Er kramt sich umständlich eine Zigarette aus der Jackentasche, will sie sich anzünden. Sie sagt: Ich habe auch Träume, Deinen nicht ganz unähnlich. Doch das Feuerzeug entgleitet ihm aus besoffener Hand und fällt zu Boden. Ungeschickt und schwindlig steigt er vom Hocker, kniet, sucht und findet. Er erhebt sich wieder. Verlegen lächelt er die Frau an, während er sich aufrichtet. Doch da ist keine Frau mehr. Er setzt sich auf seinen Hocker und wartet. Bort trinkt aus und bestellt sich ein weiteres Bier, trinkt es mit einem Zug aus, bestellt gleich ein neues, trinkt langsamer. Es kommt niemand mehr. Er bezahlt und tritt zum ersten Mal, seit wie langer Zeit eigentlich, zur Tür hinaus und atmet frische Morgenluft. Bort zieht die Jacke zusammen und geht los, zuerst langsam und dann immer schneller, auf Zehenspitzen in den Tag hinein.