Samstag, 20. Oktober 2012

Götter mit Rädern untendran (ein Bericht aus einer anderen Zeit)

von Holz E. von Bald

Heute fahren wir in Zügen. In der Nacht blitzen stakkatohaft Winterlandschaften im Widerschein krickeliger Elektrizität auf. Tags sehen wir zu Klump geronnene, sich stetig renaturierende Wälder und Straßen. Wir sehen getürmte Wolkenknäuel in den prächtigsten Grautönen, ganz wie aus dem Malkasten eines räudigen Hundes. Neben uns lesen wir Starkstromleitungen wie Bücher mit alternativen Handlungssträngen, so sehr laufen sie in- und wieder auseinander, gabeln sich erneut und schnalzen geschwind ins Nichts. Barbarische Dörfer und ruinierte Städte ziehen an uns vorbei, dazwischen einzelne Tupfer öden Dahinvegetierens. Dann und wann hören wir eine freundlich mechanisierte Stimme aus dem Off: „Die Regionalbahn 134 von Bingen nach Minsk, plamsige Abfahrtszeit um 12:34 Uhr, verspätet sich heute um nicht weniger als 20 Minuten." Später dann: "Wegen einer Betriebsstörung zwischen Göttingen und Belgrad hält der Zug außerplamsig nach den Farben der zu durchfahrenden Ortschaften.“ Ich muss später in Karmesinrot umsteigen, um den Zug nach Silbergrau noch zu bekommen. Genügend Zeit also, die Ereignisse der letzten Jahre Revue passieren zu lassen. Warten Sie, ich zünde mir zuerst eine Zigarette an meinem Bauchnabel an. Schlechte Angewohnheit, ich weiß. Aber auch das ist so ein Relikt aus vergangenen Tagen. Es ist schwer, sich ganz davon zu lösen.

Wir waren damals alle ganz kirre. Uns fehlte eine Religion, ein Glaube, ein Versprechen. Die Ideologien hatten ausgedient. Der Sozialismus war unverstanden und kahl an fremder Unfähigkeit gestorben. An den Kapitalismus glaubten nicht einmal mehr die, die von ihm profitierten. Selbst fundamentalistische Christen und Muslime hatten schließlich erkannt, dass man Gott nicht essen kann und flüchteten sich wie wir alle in virtuelle Welten, ausgestattet mit unechtem Geld und Freunden, die man nicht persönlich kannte. Während wir einerseits vor dem Kasten saßen und in ihn hinein starrten, saßen wir andererseits gerne in einem Kasten, um hinaus zu schauen und die Welt drive by shooting zu erfassen. Dies lag an den grundlegenden, doch indifferenten, ja geradezu schizophrenen Bedürfnis der Menschen, einerseits die Gesellschaft und andererseits die Einsamkeit zu suchen. Dieses inkoheränte Verhalten verunsicherte jedoch die Staatsgebilde, die zunehmend gasförmige Aggregatzustände angenommen hatten, sehr. Sie bildeten gerade Konglomerate mit den zehn mächtigsten Wirtschaftsunternehmen der Welt. Die letzten demokratische Staaten gaben dafür das passive Wahlrecht auf. Ihre Regierungen bildeten sich auf Grundlage der Umsätze. Lotterieausschüttungen an die Regierungsmitglieder ersetzten die Diäten. Warum auch nicht?

Wir, die Konsumenten, waren kaum mehr zu kontrollieren. Die virtuelle Gemeinschaft machte uns aggressiv und steigerte unsere unbenannte Wut, die wir schließlich im Straßenverkehr loszuwerden suchten, nur um hinterher Online damit zu prahlen. Die kapitaldemokratischen Konglomerate dachten derweil angestrengt nach, wie sie eine neue Ordnung mit gewaltigem Kommerz verbinden konnten. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis man darauf kam, jedem Neugeborene automatisch einen Account bei einem sozialen Netzwerk anzulegen, unkündbar und lebenslang. Dies revolutionierte die Staatsreligionen und Nachrichtendienste auf eine gewaltige Weise. Hallelujah. Wir hatten nun einen weiteren, menschgeschaffene Gott und dachten, wir hätten alles unter Kontrolle. Denn anders als dieses metaphysische Wesen aus der Vergangenheit war die virtuelle Welt doch erklärbar durch Algorithmen und Bits und Bytes. Den Rest erledigte die Psychologie des Marktes, und so starrten wir erneut gemeinschaftsselig in die Monitore, bis unsere Augen schmerzten vor lauter Netzwerk. Der Markt, der unsere Bedürfnisse erkannte und nur unser Wohlergehen im Auge hatte, schuf Abhilfe, indem er zuerst die Endgeräte an unsere Körper via Bauchnabelport (oder BioPort) koppelte und nur wenige Monate später die Gerätechips direkt implantierte. Diese Befreiung von all den Geräten ließ uns selig nach innen lächeln.

Wir wählten nun in Gedanken unsere Freunde an, sprachen mit ihnen oder ihren virtuellen Stellvertretern. Wenn wir Hunger hatten, nahm ein Supermarktversandcenter unserer Wahl (Werkseinstellung) unsere Bestellung auf und lieferte Lebensmittel an unseren per GPS bestimmten Aufenthaltsort. Wir sahen Kunst oder eine glitschige Bananenschale, vielleicht einen kotenden Köter, und die Welt hatte Anteil an unserem Erleben. Wir wurden geliked und bewertet und für gut befunden, und wir wussten alles über unsere Freunde. Freunde, die wir mochten, hatten wiederum andere Freunde, die sie mochten und die wir zu den unsrigen machen konnten. Wurden wir einmal aggressiv, schaltete sich schon in der Eskalationsphase 1 ein virtueller Aggrobot ein und ebnete unsere Gefühlsregungen ein. Derweil rosteten unsere Autos in den Garagen vor sich hin. Wir hatten sie einfach vergessen, schlicht nicht mehr gebraucht, um unser Gefühlsleben zu regulieren. Wir hassten und liebten uns im Netz. Und so erlebten wir das totale Gemeinschaftsgefühl, die ständige Erreichbarkeit und die absolute, physische Friedfertigkeit.

Es war furchtbar. Viele Menschen fühlten eine große Leere in der Bauchnabelgegend. Nach und nach ließen wir uns die Chips also wieder entfernen und glaubten damit uns selbst wieder nahe zu kommen. Wir hatten uns natürlich getäuscht. Denn wir hatten längst vergessen, wer wir waren ohne unsere Profile und ohne profilschärfende Applikation. Es war ein einziges Chaos. Die Menschen waren mitteilungsbedürftig wie eh und je, nur dass sie nun jeden Anlass zu uferlosem Offline-Geplapper nutzten, völlig wahllos und ohne zu ahnen, ob sie nun geliked werden oder nicht. Auch hier separierten sich allmählich einige Konsumenten und verbaten sich jede öffentliche Ansprache. Dies schuf große Unzufriedenheiten und zunehmende Aggressivität im Umgang untereinander. Verbal grob angegangene Menschen reagierten sich physisch ab, und die völlig überforderte, nur virtuell geschulte Polizei konnte sich der endlosen Quasselei einerseits und den heftigen Hieben andererseits kaum erwehren. Das Staatsgebilde schien allmählich zusammenzubrechen, dieses Mal endgültig. Bald hatten wir alle jedes Bedürfnis nach Gemeinschaft verloren. Wir stürmten in unsere Garagen und setzten uns ans Steuer, starteten die Motoren und ließen unserer Verzweiflung freien Lauf. Bald merkten wir: Nicht das Internet mit seinen Verlockungen und Gerätschaften war unser Gott. Wir selbst waren die Götter, und wir brauchten ein Gefährt, das uns Macht verleiht über die Leben anderer. Wir waren Milliarden einzelner Götter, die eifersüchtig über ihre Schöpfung wachten, in steter Konkurrenz zueinander standen und nur durch Götterhand sterben konnten. Dies war unsere neue Religion.

Wir waren tobende Götter. Unser Donner war Motorenlärm, die Hupe eine Drohgebärde für die devote Menschheit, unser Schleuderblitz die Stoßstange. Unsere Geschwindigkeit demonstrierte die uns innewohnende Macht, der Asphalt der Straße war unser Olymp. Aus Tankstellen wurden Tempel, aus Zapfsäulen Altäre, aus Automobilfabriken elysische Felder. Die kapitaldemokratischen Konglomerate huldigten uns und brachten ihr Opfer in Form von honiggelbem, brenzlig riechendem Ambrosia aus biologischem Anbau. Nachdem sie erkannten, wie sie uns am besten dienen konnten, schufen sie Tempel auf Tempel, um unseren Hunger zu stillen und uns gleichzeitig ihrem Willen gefügig zu machen. Sie erinnerten sich an den Segen der BioPorts und erschufen dann neue Himmelsgefährte, die sich mit unseren göttlichen Körpern symbiotisch verbinden konnten und nur durch unsere überheblichen Geister steuerbar waren. Fortan bildeten wir eine Einheit. Wir fühlten Freude und Schmerz mit dem Fahrzeug, und dessen Hunger war unser Hunger. Schon bald verließen wir unsere Himmelsgefährte nicht mehr und verbrachten die Tage und Nächte in ihnen. Wir vernetzten uns und liebten uns darinnen, wir aßen dort und arbeiteten, verrichteten unsere Notdurft in ihnen und ließen uns in den zahlreichen Tempeln warten und huldigen. Als völlige Individuen suchten wir die Gemeinschaft mit anderen in endlosen Verkehrsstaus. Wir erließen Dekrete, die niemanden interessierte und machten anstößige Gesten, die niemand sah oder verstand. Wir waren Götter und Sklaven zugleich, hochgetuned zur völligen Symbiose mit unseren Automobilen. Wie Gänse wurden wir von den Hohepriestern der Konglomerate vollgestopft, die stetig unsere Lebern befühlten und mit sicherem Lächeln für gut befanden, während sie uns nach und nach die Flügel stutzten.

Doch das große Schlachten und Ausweiden der Götter blieb aus. Denn die Schöpfer unserer Himmelsgefährte hatten nicht bedacht, dass wir biomechanische Wesen waren, deren biologischer Teil eine Krankheit nicht autark durchsteht, sondern den mechanischen Teil infiziert. Da schlackt dem Himmelsgefährt das Ambrosia in den Eingeweiden, die Bordelektronik verschnupft zu zähem Schnodder, der Lack zerbröselt filigran zu schmieriger Asche und Gummi klumpt zu klammer Lava. So reichte letztendlich eine einzige Erkältung, um sämtliche, überdies miteinander vernetzten Götterwagen innerhalb kürzester Zeit lahm zu legen und irreparabel am Straßenrand verenden zu lassen. Wir zu Menschen zurechtgeschrumpften Götter zogen die Stecker erst nach Tagen aus unseren Bauchnabeln und krochen belämmert aus den Wägen, um die Wonnen einer guten Hühnersuppe schätzen zu lernen. Sattsam geruht und geheilt von ärgerlichem Schnupfen und Größenwahn, schlenderten wir entschleunigt durch die Straßen. Wir bauten dem vor sich hin lotternden Schrott am Wegesrand die nun obsoleten Ports aus und platzierten sie fachgerecht als Zigarettenanzünder in unsere Körper. Dies als Erinnerung, als Mahnung an vergangene Narreteien, letztendlich aber doch dazu angetan, uns eine Filterzigarette an unserem Nabel anzünden zu können.

Dann wandelten wir schwerfällig schmauchend über die unbefahrenen Straßen. Unsere fetten, gallertartigen Leiber blubberten ziellos umher, während die Natur allmählich unsere durch Straßen domestizierte und mit Verkehrszeichen gestrählte Welt zurückeroberte. Gras brach den Asphalt auf, wo er am brüchigsten war, Kletterpflanzen rankten in die Höhe und stachen den Ampeln mit schwerfälligem Geäst die Augen aus und fällten tranige Stoppschilder im Akkord. Die verdorrten KFZ- Leichen an den Straßenrändern waren schnell überwuchert und wurden so zu blühenden, korallenriffgleichen Herbergen florierenden Lebens. Dort, wo sich die Natur bereits im fortgeschrittenen Maße erholt hatte, wuchsen zuerst Blumen, dann Dornen und später auch Bäume. Wir erkannten all dies mit Wohlgefallen unter dem Schutz unserer Sonnenbrillen. Es dauerte nicht lange, bis die Fauna nachzog mit ihrem quirligen und doch so bierernsten Gewese. Da nahmen wir uns ein Beispiel und passten uns an. Im brüllenden Urwald unserer Städte nahmen wir die Arbeit wieder auf. Die Produktion lief langsam, doch hatten wir keine Eile: Wir mussten nicht mehr wachsen und kriechen wie zu früheren Zeiten. Erstmals waren wir befreite Wesen, unsere Knechtschaft schien gebrochen.

Eines aber sollte man niemals unterschätzen: Der unendliche Erfindungsreichtum der Menschen lässt uns eine Abhängigkeit durch die andere ersetzen. Und wie immer ist es das Undurchdachte, das Imperfekte, was uns von einer Innovation zur nächsten treiben lässt und uns in die Unmündigkeit treibt. Gestern haben wir entschleunigt geraucht, vorgestern waren wir Götter mit Rädern untendran. Heute fahren wir mit dem Zug. Was bleibt uns anderes übrig, als uns auch in diese Daseinsform zu verlieben? Und so schaue ich die Welt an mir vorüberziehen, gleich als sei ich der Fixpunkt in diesem Universum. Ein Gott, der dem Zugbegleiter mittels Netzhautscan die Gültigkeit seines Fahrausweises nachweist und via sicherheitszertifizierten, datentransferierenden Augenklick einen Serviceaufschlag berappt. Dann endlich eine Ansage: „Plamsiger Halt in Rot am 23.5.2045 gegen 17:25 Uhr, mit 70,3 Stunden Verspätung. Wir von der Bahn-Conglom AG wünschen viel Freude an der Fahrt gehabt zu haben und hoffen auf ein baldiges Wiedersehen. Als kleine Aufmerksamkeit bekommen Sie an unserem Infopoint einen Gutschein für einen halbe Tasse Kaffee (Milch und Zucker nur mit Aufpreis). Vielen Dank!“ Den Kaffee lasse ich mir direkt in die Netzhaut einscannen, darauf können Sie Gift nehmen.
Anmerkung: Dieser Text sollte eigentlich ein Beitrag zum Schreibwettbewerb von autofrei leben! sein. Leider erfüllt er in keiner Hinsicht die Kriterien: Er zeigt keine positive Vorstellung von einem Leben ohne Auto, ist zudem in einer nicht nachzuvollziehenden Zukunft angesiedelt und außerdem etwas zu lang. Er geht wohl auch ein wenig am Thema vorbei. Deshalb habe ich ihn in einem Anfall von Selbstzensur erst gar nicht eingereicht. Wesentlich ist: Einen Rucksack aus LKW- Plane (Sachpreis) kann ich mir selber nähen, und Gesinnungsprosa fertige ich nur gegen gutes Geld an.

Sonntag, 26. August 2012

Haare


Bender erschrak. Gerade hatte er sich die Bilder der Konfirmation seiner Tochter angeschaut, als er sich auf einem Bild inmitten der Gäste erkannte. Das heißt, zuerst erkannte er sich nicht. Schließlich war die Person von hinten fotographiert, umgeben von Kolleginnen und Kollegen, was Bender erstaunt hatte. Wer mochte die Person mit der lichten Stelle am Hinterkopf wohl sein, die sich da angeregt mit Frau Griese von der Personalverwaltung unterhält? Erst Benders Frau konnte für Aufklärung sorgen: Hennek, das bist doch Du!

Es überraschte Bender nicht sehr, dass er sich selbst von hinten fotografiert nicht erkannt hatte. Das würde wahrscheinlich jedem passieren, insofern man wie er eine unauffällige Frisur sowie ausschließlich neutrale Kleidung trägt. Auch hatte er sich nie besonders mit seiner Statur beschäftigt. Er war eben nicht besonders groß und leicht untersetzt. Wie viele Männer in seinem Alter war Bender vollkommen unauffällig. Das machte ihn verwechselbar. Irritiert hat ihn vor allem die lichte Stelle am Hinterkopf. Die war ihm selbst an sich selbst nie aufgefallen. Das teilte er Marie abends im Bett mit.

Es ist ja nicht so, dass ich eine Glatze besonders schlimm fände, begann er seinen Monolog. Marie schmunzelte verächtlich. Eine Glatze, dafür kann man ja nichts. Es passiert vielen, dass ihnen ab einem gewissen Alter die Haare ausfallen. Ich aber habe davon gar nichts bemerkt. Normalerweise merkt man es doch beim Duschen, wenn die Haare ausfallen. Oder spätestens beim Kämmen, und wenn dann nicht, dann bleiben sie vielleicht am Kragen oder auf der Schulter hängen. Am Jackett oder sonstwo. Marie gähnte.

Bender hob erneut an: Nun, man schaut sich ja auch selten von hinten an. Neulich, in der Anprobe, habe ich einen jungen Mann gesehen, der nachgeschaut hat, ob die Hosen am Hintern gut sitzen. Ich fand das gewöhnungsbedürftig, soviel Eitelkeit. Aber auch er hat sich nur auf den Hintern geglotzt, nicht auf den Hinterkopf. Inwiefern ist also ein Mann in der Lage, bei sich selbst Haarausfall am Hinterkopf zu diagnostizieren? Er schubbste Marie leicht mit dem Ellbogen an, die daraufhin erwachte, sich pflichtschuldigst aufsetzte und benommen fragte: Waa-as? Ich habe Dich gefragt, inwiefern ein Mann in der Lage ist, bei sich selbst Haarausfall am Hinterkopf zu entdecken, wiederholte Bender.

Och Hennek, ich bin müde. Lass mich schlafen! Doch Bender gab nicht auf. Ich sage Dir, wie ein Mann seinen beginnenden Haarausfall entdecken könnte: Seine direkte Umgebung zum Beispiel könnte ihn darauf hinweisen. Sie könnte sagen: Schau, Hennek, da hinten an Deinem Kopf ist eine kahle Stelle, das sieht doof aus, mach was dagegen. Es könnten Freunde sein, die mir das sagen. Es könnte mit großer Wahrscheinlichkeit mein Friseur sein. Aber wenn die alle nichts sagen, dann müsste mich wenigstens meine Frau über den Zustand meiner Haarpracht informieren. Und dann?, wollte die gelangweilte Marie wissen. Was hättest Du mit dieser Information angefangen?

Ich hätte mir womöglich die Haare ganz kurz geschnitten. Auf keinen Fall hätte ich probiert, die kahle Stelle mit anderem Haar zu verwurschteln. Ich wäre ehrlich mit meinem Haarausfall umgegangen. Aber so sehe ich doch völlig lächerlich aus. Mein Kopf sieht von hinten aus, als hätte man ihn geplättet. Wie eine Flunder. Wie ein abgenutzter Flokati. Mit so einem Hinterkopf macht man sich überall lächerlich. Der Chef schaut einen an und sagt: Sieh an, der Bender, ein patenter Kerl eigentlich. Aber jetzt tut er so als habe er keine Glatze. Das zeugt nicht von Haltung. Den kann ich nicht befördern. Oder die Kollegen: Die machen sich womöglich über mich lustig, wenn ich den Raum verlasse.

Im Nachhinein wurde Bender vieles klar. Er fühlte sich tatsächlich bei der letzten Beförderung übergangen. Hinzu kam: Neuerdings waren die Kollegen immer so seltsam gut gelaunt, sie lachten viel und verstummten dann, wenn er den Raum betrat. Nachdem er wieder ging, setzten sie ihre Gespräche oft gutgelaunt fort. Klopfte ihm nicht der kahlrasierte Müller einmal sogar gönnerhaft auf die Schulter? Gab es vielleicht ein Komplott gegen ihn? Und war sein Friseur zu Anfang der letzten Sitzungen nicht gesprächig wie immer, wurde aber dann plötzlich still und konzentriert, sobald er sich um Benders Hinterkopf kümmerte? Und schließlich seine Frau, Marie: Sie schliefen kaum noch miteinander. Ekelte sie sich vielleicht vor seiner Glatze? Vermutete sie, dass mit dem allmählichen Verlust der Haarpracht auch die Manneskraft abhanden käme, wie weiland Samson?

Am meisten verärgert war Bender über die Tatsache, dass ihn niemand auf sein Malheur hingewiesen hatte. Als zögen alle einen Vorteil daraus, solange er nur in Unkenntnis darüber bliebe. Als schöpften sie Kraft aus dem Verlust seiner Haare. Genau so musste es gewesen sein. Da half auch nicht, dass Marie beteuerte, sie habe gedacht, er wüsste bescheid über den Zustand seines Hinterkopfes. Sie habe das Thema nur aus Rücksicht auf ihn nicht angesprochen, schließlich wolle sie ihn nicht verletzen. Daher habe sie so getan, als sei nichts gewesen. Und das mit seinen Kollegen, bitteschön: Das bilde er sich ein und zeige nur, wie recht sie hatte bezüglich seiner Empfindlichkeit.

Bender verließ das eheliche Bett im Streit, zog sich an und machte sich auf den Weg in die nächstbeste Bar. Zuerst steuerte er in die Kneipe um die Ecke, fand aber die desolaten Gestalten an der Theke nicht anziehend. Deshalb vermaß er den Kiez, in dem er seit 15 Jahren lebte und niemals ausging, neu. Zum ersten Mal sah er, was sich dort überhaupt ereignete. In die ehedem karge, graue Schlafstadt war allmählich eine Lebendigkeit eingekehrt, die ihm zuvor entgangen war. Wollten ihn alte Freunde in Berlin einmal besuchen, um dort etwas zu erleben, wiegelte er oft ab: In seinem Kiez sei absolute tote Hose, da gäbe es gar nichts, und sie sollten sich lieber ein Gästezimmer in einem der Szenekieze nehmen. Bender hatte sie allesamt versehentlich angelogen: Er lebte längst in einem Szenekiez. Es war ihm nur bei all der Arbeit und dem Familienleben nicht aufgefallen.

Da war sein Spätkauf, in dem er allmorgentlich seinen Coffee to go holte, bevor er dann im Innern der U-Bahn verschwand und erst nach 20 Minuten wieder aus dem Boden auftauchte. Dort verbrachte er den Tag mit Verwaltungstätigkeiten. Dann verschwand er unter der Erde, tauchte wieder auf und holte sich am selben Spätkauf eine Zeitung, bevor er sich nach Hause begab. Um dort zuerst die Zeitung zu lesen und beiläufig Stefan, seinem ältesten Sohn, und Melanie, seiner konfirmierten Tochter, zuzunicken und ihnen ggf. etwas zuzugrummeln. Dann kochte Marie was, und alle aßen still, während der Fernsehapparat das Esszimmer erleuchtete. Wochenends gab es anfangs noch Ausflüge. Doch wegen des jugendlichen Desinteresses an allem seitens der Kinder unterließ man später auch das und war froh, wenn sie lange (jedoch nicht zu lange) aus dem Haus gingen und man seine Ruhe hatte.

Kurz: Benders geregeltes Leben gab es nicht her, abends um die Häuser zu ziehen und mit Freunden die Neuerungen innerhalb des eigenen Kiezes zu bestaunen. Zumal sich die Freundschaften auf den Kollegenkreis beschränkten und bei genauerer Betrachtung auch das keine richtigen Freundschaften waren, sondern eher vielleicht Bekanntschaften? Menschen eben, die man zu Konfirmationen einlud und mit denen man sich mehr oder minder freiwillig ins Restaurant verabredete. Und nun wagte sich Bender zum ersten Mal seit Jahren über die selbst gesetzten Grenzen seines Kiezes hinweg und spürte das pulsierende Leben und das Flimmern der Jugend. Wie muss es Alice gegangen sein, als sie der elterlichen Strenge durch den Spiegel floh.

Bar an Bar säumte die Straße. Bender neidete das vorwiegend junge Publikum, das dort eng beisammen saß oder flanierte, oft ineinander gehakt und laut lachend, mit alkoholischen Getränken in der Hand, die selbstbewusst an- und dann mit ausladenden Gesten wieder abgesetzt wurden. Dieser Elan begeisterte ihn. Diese jungen Menschen hatten noch keine Vorstellung von der Ernsthaftigkeit des Lebens. Leid und Kummer kannten sie kaum, und falls doch, war die Halbwertszeit nur kurz. Sie prahlten und protzten mit ihrer kaum erwachten Sexualität und ihren unerforschten Körpern, frei von allen Makeln des Alters und der Vergänglichkeit.

Bender schaute an sich herunter und fühlte sich unendlich alt. Gleichsam wähnte er sich betrogen und beraubt seiner eigenen Jugend, die er plötzlich für verplempert hielt. Verplempert mit Gedanken an den Beruf und die Familie, vergeudet mit der Tristesse des Alltags. Schlafen, Arbeiten, Essen. Der Rhythmus eines Biedermannes. Und während all dieser Zeit verliert er unbemerkt seine Haare, und was noch schlimmer ist: Die eigene Frau verliert das Interesse an ihm. Und wie ist es hier, in dieser atmenden, schwitzenden Welt der Jugend? Freilich, auch die jungen Leute sind vorwiegend an sich selbst interessiert. Doch brauchen sie stets einander, um sich selbst erkennen zu können. Die Altersgenossen sind der Spiegel, und das macht sie zu echten, interessierten und mitteilsamen Freunden. Wie er seine eigenen Kinder doch um ihre Jugend beneidete, und wie sehr er verstehen konnte, dass sie die familiäre Enge nicht oft genug verlassen konnten.

Und da stand Bender nun inmitten des Chaos und des Lärms und war fassungslos bis glücklich. Es machte ihm nichts aus, wenn er hie und da einmal angerempelt wurde, er wollte nur dieses Flair einatmen und ein Teil des Ganzen werden. He, Opa, aus dem Weg! Was iss'n mit Dir? Bender schaute irritiert auf. Er blickte auf ein hübsches Mädchen, vielleicht Anfang zwanzig, bei ihr vier nicht minder hübsche Begleiterinnen. Willste 'n Schluck? Bender nickte und setzte die Flasche an. Klebrigsüßes mit einem Schuss Alkohol rann ihm die Kehle herunter. Er wischte sich den Mund und gab die Flasche zurück. Was ist das?, wollte er wissen. Wodka RedBull, mit Zeug drin!, lachte das Mädchen und ging weiter. Mach's gut, Opa! Und pass' auf Dich auf!, rief ein anderes. Alle fünf lachten lauthals.

Bender ging kopfschüttelnd, aber erheitert, weiter. Er hatte sich dazu entschieden, sich in einer der stilvolleren Bars zu betrinken. Er war einigermaßen überrascht, wie sehr ihn der Schluck aus der Flasche betrunken gemacht hat. Nur wenige Minuten später kam der erste Schwindel, und er begann die Umgebung allmählich in seltsamen Farben zu betrachten und hatte auch den leisen Verdacht, Dinge zu sehen, die es im Grunde gar nicht gab. Höllisches Zeug, dachte er und wollte mehr davon. Als er endlich eine angenehme und doch belebte Bar fand, kehrte er ein. Es hatte ich eigentlich nicht viel geändert seit damals, als er nach Berlin kam. Immer noch spielten Lichtprojektionen eine große Rolle, und die Musik hatte sich in den letzten zwanzig Jahren nicht wesentlich geändert. Die Einrichtung war immer noch improvisiert, cordbezogene Cocktailsessel standen nebst Plastikstühlen und abgeranzten Nierentischchen. Selbst das Personal gab sich ähnlich desinteressiert wie damals.

Er bestellte einen Wodka RedBull und wunderte sich, wie wenig dieser Drink dem vorangegangenen in der Wirkung ähnelte. Möglicherweise war die Mischung zu schwach. Also bat er der Barkeeper, doch etwas mehr Zeug in den Drink zu mischen. Ey Alter, was hast'n Du für'n Problem. Was für Zeug? Bender gab sich hartnäckig: Na Zeug eben. Wenn Du's nicht weißt, woher soll ich's dann wissen? Der Barkeeper grummelte etwas in den Lärm hinein: Wenn du meinst. Macht aber 20 Euro extra! Bender nickte, und da legte der Barkeeper ein Tütchen mit einer Pille darinnen auf die Theke, hieb mit einem Hammer darauf ein und überreichte es Bender mit den Worten: Wohl bekomm's! Bender zahlte und rührte die pulverisierte Masse in seinen Drink.

Er fühlte sich herrlich. Bender saß in einem bequemen Sessel und betrachtete selig grinsend das Treiben um sich herum. Die Bässe wummerten angenehm in der Magengegend, und die hübschen Gesichter der Mädchen wärmten sein Herz. Es war ihm nicht unangenehm, dass er ganz offensichtlich als Kuriosum wahrgenommen wurden. Besser, ein Dirty Ol' Man als niemand zu sein, dachte er zufrieden. Unter seinesgleichen war Bender unauffällig und farblos. Hier unter den Jungen, Bunten und Schrillen war er ein Exot. Nur manchmal schienen ihm die Farben etwas zu schrilll, und die Gesichter der Mädchen verzerrten sich ab und an zu Fratzen. Aber dann verwandelten sie sich zu Vögeln, die meisten in Fasane und Paradiesvögel, andere in Krähen und nur wenige in Puten. Das war lustig und auch ein wenig beängstigend.

Bender verspürte plötzlichen Harndrang. Da begab er sich zur Toilette und stellte sich an ein Pissoir. Mit einer Hand musste er sich an der Wand festhalten, während er mit der anderen versuchte, den Reißverschluss zu öffnen. Es gelang. Als sich jedoch ein junger Mann zu ihm stellte und sein Ding aus der Hose holte, da war das kein Penis, sondern ein winzig kleiner Hund, der ihn mit einem großen Auge anstarrte und ankläffte. Bender zog sich erschrocken zurück und suchte panisch Zuflucht in einer freien Kabine. Er schloss ab, drehte sich um und hob die Klobrille an. Er entleerte sich, während er angestrengt versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Alles drehte sich, als er seinem Urin hinterher sah. Dann wurde es Nacht um Bender.

Als er wieder erwachte, fand er sich völlig verkrümmt am Boden liegend, wieder. Ein Fuß schaute zur Kabinentür heraus, sein Kopf lag schräg und eingeknickt an der gekachelten Wand. Der Unterkiefer hing im rechten Winkel zum Boden, er sabberte aus dem linken Mundwinkel. Eine Hand hing in der Schüssel, die andere lag unter seinem Körper in etwas Feuchtem. Benders Penis hing schlaff aus der Hose. Um ihn herum hatte sich ein großer, nasser Fleck gebildet. Alles tat ihm weh. Er richtete sich langsam auf, indem er sich an allem abstützte, was in greifbarer Nähe war. Dann säuberte er sich notdürftig mit Toilettenpapier, verstauten seinen Penis in der Hose, zog den Reißverschluss zu und verließ so souverän wie möglich die Kabine.

Bender begab sich zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Um sich zu erfrischen, benetzte er sein Gesicht mit Wasser. Da bemerkte er, dass er großen Durst hatte. Er war völlig augetrocknet. Daher trank er ein paar kräftige Schlucke aus der Leitung. Der Durst wurde jedoch nicht besser. Erst nach mehrmaligem Trinken stellte er fest, dass das trockene, raue Gefühl in seinem Rachen nicht vom Durst stammt. Irgendetwas hing in seinem Schlund und behinderte ihn beim Schlucken. Bender griff mit den Fingern in die Mundhöhle und versuchte den Gegenstand zu greifen. Nach einigen Fehlversuchen wurde ihm klar, dass ihm ein Haar halb in der Speiseröhre, halb im Mundinnenraum steckte. Er versuchte es erneut. Und dieses Mal gelang es ihm endlich, das glitschige Haar zu ergreifen.

Bender hatte Angst, dass es reißt, bevor er es völlig entfernt hatte. Er zog deshalb sehr sachte daran und spürte endlich, wie sich tief in der Speiseröhre etwas wie ein Faden spannte und langsam nach oben glitt. Also zog Bender weiter und weiter. Das Haar ragte schon so weit aus seinem Mund heraus, dass er nachfassen musste. Es schien kein Ende zu nehmen. Dann, nach einigen Dezimetern, verstärkte sich das Gefühl im Rachen, und am ursprünglichen Haar hingen weitere Haare, verknotet ineinander und verwoben miteinander. Bender zog mittlerweile panisch weiter und weiter. Seine Eingeweide schienen wie betäubt von der schabenden Bewegung, die er in Gang gesetzt hatte. Meter für Meter zog er den stinkenden, mit Talg versetzten und allmählich dicker werdenden Zopf aus seinem Schlund.

HEK 2012

Sonntag, 25. März 2012

Freunde

Mein Vater war wütend. Er war schon immer jähzornig, was im Nachhinein betrachtet vielleicht ein Ausdruck unerfüllter Sehnsüchte gewesen sein mochte. Er war ein hart arbeitender Mann, gesegnet oder geschlagen mit drei Kindern und einer Ehefrau, und er hatte es nun endlich zu einer eigenen Baufirma gebracht. Freilich unter größten Einsätzen und persönlichen, finanziellen Risiken.
Endlich war etwas Geld in der Familienkasse, und wir erlaubten uns ausgedehntere und üppigere Urlaube. Auch die Autos wurden teurer. Doch es blieben die alten Freundschaften, die alten Verbindlichkeiten. Sie warfen meinen Vater immer wieder zurück auf seine Herkunft: Das halb gebildete Arbeitermilieu und eine gewisse Kleingeistigkeit, die stets den Nutzen der Dinge sah, aber nie deren Schönheit. Diese wurde stets zuerst geopfert, bis am Ende nur die Tristheit eines möglichen finanziellen Gewinns blieb, der ebenso kleingeistig investiert wurde wie zuvor.
Mein Vater wollte aus seiner Haut heraus. Doch die wies sich als äußerst dick aus, und nur seine ungeduldige Schroffheit und der im Magen aufgestaute Ärger schafften es an die Oberfläche zu dringen wie Schweiß bei einer kräftezehrenden Tätigkeit.
Gerade ihm, der allen, die ebenfalls den Grenzen ihrer von Geburt gegebenen Voraussetzungen zu entfliehen suchten, unterstellte, ihnen sei ihr Leben nicht gut genug, weshalb sie ihre Angehörigen dumm zurück ließen, ihm also reichte sein Leben nicht. Er hatte Träume, hielt diese aber gerade so gut in sich verborgen, dass er sich selber nicht deswegen anklagen konnte. Er wollte Teil und Nutznießer einer Schickeria sein, er wollte Geschäftsmann sein und das niedere Leben des Arbeiters hinter sich lassen. Die Wirtschaft prosperierte und er wollte sein Stück vom großen Kuchen.
Da war es gerade recht, dass wir neue Nachbarn bekamen. Sie bezogen das Haus meines Onkels, dessen Frau es ins Dorf zu einer Infrastruktur gepflasterter Straßen und sozialen Kontakten trieb. Sie kauften das perfekte Wochenendhaus: Es lag in einem dünn besiedelten Teil der Ortschaft, insgesamt standen dort großzügig verteilt sechs Häuser, wovon nur eines ständig bewohnt war: Das Haus meiner Eltern, direkt nebenan.
Die neuen Nachbarn waren gerade reich geworden. Sie verstanden es, Feste zu feiern und übten damit auch einen gewissen Einfluss aus. Die Feste waren schweinisch, dekadent, ausgelassen. Sie waren laut und ordinär. Man sah den neuen Nachbarn das Geld an. Nicht in der zurückhaltenden, geistvoll wirkenden Art des gebildeten Geldadels. Sie stellten mehr einen billigen Abklatsch davon dar, wie ihn nur Emporkömmlinge hinbekommen. Sie lebten das Ideal einer spätrömischen Dekadenz, völlig stillos und mehr den Bedürfnissen des Plebs verhaftet als denen der Patrizier: protzige Autos, protziger Goldschmuck und geschmacklose, aber teure Möbel.
Meinem Vater gefiel das. Er hatte ja keine Vorstellung von Stil und Noblesse, und womöglich wären ihm "gelackte" Nachbarn viel zu stilvoll und nobel gewesen. So aber wähnte er sich unter Seinesgleichen, und man konnte sich vorstellen, wie ihm das Maul angesichts der ordinär dampfenden Weiber und den besoffen schwitzenden Männern offenstand, als er zum ersten Mal zu einer Party geladen wurde.
Er sah wahrscheinlich zukünftige Kumpel und Liebschaften, und außerdem auch Geschäftskontakte vor seinem geistigen Auge. All das schien ihm ein Sprungbrett in eine noch bessere Zukunft zu sein. Er war ja längst noch nicht oben angekommen. Noch hätte er auch einfach nur der Gärtner sein können, der versehentlich auf einer Party landete, wo ihn die Gesellschaft belustigt beäugte wie einen Mr. Chance, ihm jedoch weit weniger Gehör als diesem schenkte. Ein Novize vielleicht auch, dem danach trachtet, dereinst selbst einmal auf andere herabzuschauen. Wer weiß schon wirklich, was er sich erdachte und erträumte? Jetzt hatte er aber einen 9jährigen Sohn zu zähmen, der partout nicht ins Bett wollte, während dort drüben bei den Nachbarn schon die ersten Sektkorken knallten und schrill- ordinäres Gelächter erschallte.

Ich war natürlich neugierig gewesen. Da hatten einige Herrschaften heute ganz offensichtlich großen Spaß, und ich sollte ins Bett gehen und schlafen. Meine um Jahre älteren Geschwister hatten mittlerweile eigene gesellschaftliche Verpflichtungen, und sie dachten nicht im Traum daran, sich mir als Babysitter anzudienen. Alle hatten Spaß, und ich wollte dabei sein. Das war mehr als gemein.
Die Nachbarn hatten zwei Söhne. Einer war ein paar Jahre jünger als ich, und der andere war zwei Jahre älter. Obwohl ich viel lieber mit ihm gespielt hätte, immerhin hatte er ein kleines, voll funktionstüchtiges Motorrad und vielerlei anderes technisches Spielzeug, verbrachte ich mehr Zeit mit dem Jüngeren. Doch immer, wenn es sich ergab, klettete ich mich an P heran. Da war eine Welt, die sich mir nicht vollständig erschloss, weshalb ich versuchte, ein Teil davon zu werden. P war leicht gönnerhaft und es machte ihm großen Spaß, mich mit seinen neuesten Errungenschaften zu beeindrucken. Er hatte eine große Sammlung von StarWars- Comics und verfügte über eine der ersten Spielekonsolen, die auf dem Markt war. Ich durfte mich gerade so lange damit beschäftigen, bis ich voll darin eingetaucht war. Dann schaltete er die Konsole aus oder verstaute die Comics in einer Schublade. Ich sollte nicht zu gierig werden.
Eines Tages im Sommer klingelte er an unserer Türe und lud mich zu sich ein. Seine Eltern hatten gerade ein Schwimmbassin aufgestellt und mit Wasser aufgefüllt. Ich durfte es mir ansehen und bestaunen. Natürlich schien just in dem Augenblick, in dem ich mir zu Hause eine Badehose holen gegangen war, die Sonne nicht mehr so heiß wie zuvor, weswegen P eine Plane über das Bassin zog und mich auf ein anderes Mal vertröstete.
Was mich nicht davon abhielt, das ein oder andere Mal, wenn die Nachbarn nicht da waren, das Schwimmbassin sehnsüchtig zu bestarren. Das Grundstück war damals noch nicht von unserem abgetrennt, ich konnte es jederzeit betreten. Ich hätte es jedoch nie gewagt, ohne Erlaubnis zu baden. Das schien mir unanständig. Ich stand lediglich da und stellte mir vor, wie es sei, jetzt ein paar Runden zu schwimmen. Der Umstand, dass das Bassin nur einen Durchmesser von ungefähr drei Metern hatte, tat meiner Phantasie keinen Abbruch.
Eines Tages würde ich P erzählen, dass mein bester Freund A ab und an wochentags mit Badehose und Handtuch zum Nachbargrundstück käme und dann ein Bad nähme. Ich weiß nicht, warum ich ihm das erzählte. Es war von hinten bis vorne erlogen. Wahrscheinlich wollte ich mich einfach wichtig tun, gehört werden, während ich dem von mir bewunderten P diese Geschichte auftischte. Und es funktionierte. P regte sich über alle Maßen über A's Unverfrorenheit auf und gelobte, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, sobald er ihm das nächste Mal begegnen würde.
Ich hatte natürlich erwartet, dass P die Geschichte bald vergessen würde. Ich selbst konnte mich schon bald nicht mehr daran erinnern. Andere Dinge passierten tagtäglich und verdrängten diese Anbiederung. Ich war ein sehr nachlässiger Lügner. Das bin ich heute noch, weshalb ich es lieber vermeide, zu lügen. Als A mich etwas später einmal zum Spielen besucht hatte, kam P zu uns herüber und stellte ihn zur Rede. P belehrte A aufgebracht darüber, dass er in seinem Schwimmbassin nichts zu suchen habe. Und falls er es doch noch einmal wagen sollte, sich dort wieder blicken zu lassen, würde er ihn schlicht verprügeln. A wirkte aufgrund seiner Verwirrung äußerst schuldig. Mir wurde plötzlich bewusst, was ich angerichtet hatte und so versuchte ich P davon zu überzeugen, dass ich gelogen habe und dass A niemals dort geschwommen sei. Es half nichts. P gehörte ganz offenbar zu der Sorte Mensch, die nur der Denunziation gerne Glauben schenken, doch der Wahrheit nur sehr ungern. P ließ uns unter Drohungen endlich alleine. Warum hast Du das gemacht?, fragte A und ich wusste keine Antwort. Zu seinem nächsten Geburtstag war ich nicht eingeladen.

Derweil sich die Firma meines Vaters nicht als besonders solide herausstellte. Er hatte sich teils übernommen, teils gab es Schwierigkeiten mit insolventen Kunden oder nachbarschaftlichen Initiativen, die, nachdem Baugenehmigungen schon erteilt waren, gegen die Vorhaben klagten und die Prozesse gewannen. Kredite wurden gekündigt, Maschinen verkauft, Aufträge blieben aus, Privatvermögen wurden mit Hypotheken bedient und am Ende hat alles nichts mehr geholfen. Die Träume meines Vaters waren so fragil wie nur Träume es sein können. Die neuen Freunde halfen ihm nicht, brauchten ihn auch nicht, und so sah sich mein Vater dabei zu, wie er ihnen die Badezimmer in Schwarzarbeit flieste statt mit ihnen ausgelassen zu feiern.
Mein Vater blieb das, was er immer schon war: ein Arbeiter, der nicht zu Höherem bestimmt ist, dem zwar jede Niedertracht fern liegt, jedoch nicht zur Gänze fremd ist. Dermaßen hingestürzt, blieben denn auch die Einladungen aus. Wer möchte schon seine herrlich ordinären Feste mit einem ordinären Handwerker verbringen? Vor allem, wenn der sich selbst wieder in seinem ureigensten Handwerk erkennt? Mehr Spaß macht doch einer, der nur glaubt, er sei jemand Besseres, während alle anderen bescheid wissen. Weniger Spaß macht allerdings einer, der kommt und sich ganz uncharmant nach ausstehendem Geld für bereits geleistete Dienste erkundigt, wo man doch gerne ausgelassen feiern möchte. In ihrer Gier und Bosheit erkennen die Emporkömmlinge plötzlich doch noch ihren Sinn für Stil und Etikette, schau einer an.
Da frisst sich einer wie mein Vater den ganzen Frust über ein Versagen in sich hinein und ist wieder jähzornig wie eh und je. Verbittert ist er und die Galle tut ihr Übriges. Schulden wachsen ihm über den Kopf, Arbeitslosigkeit mindern sein Selbstwertgefühl. Wer nimmt ihn noch, mit Mitte 50? Es bleibt die Schwarzarbeit. Mit ihr verhindert er die Zwangsversteigerung des Hauses. Meine Mutter geht putzen. Später werde ich von meinem Ausbildungsentgelt Miete im Elternhaus zahlen. Doch bis dahin sind's noch ein paar Jahre. Und noch ein paar Jahre später ziehe ich aus dem Elternhaus aus.
Mauern zwischen den Grundstücken werden nun so hoch gebaut, dass das Elend auf beiden Seiten unsichtbar wird, nicht jedoch unhörbar. Freundschaftliche Kontakte brechen ab. Denn der Nachbar schuldet ebenfalls Geld. In rein pädagogischer Absicht hat dieser nämlich meinen Vater darüber in Kenntnis gesetzt, dass Schwarzgeld nicht einklagbar ist. Da zahlt man der Anschauung halber einfach nicht. Hat er's nun gelernt? Ja, er hat!
Da müssen dann Grenzen gezogen werden. Doch die verhindern nur das Zuschauen. Das Gelächter und Geschrei aus dem Nachbarhaus bleibt, ist plötzlich nicht mehr Verheißung, sondern reines Ärgerniss. Die Polizei wird gerufen, kommt auch, tut aber nichts. Der Lärm bleibt, das Lachen schwillt bedrohlich an. Es hilft alles nicht: Die Party geht weiter, auch ohne meinen Vater. Er begräbt all seine Träume, nachdem sie ihm gestorben sind, und der Grabstein darauf bleibt unbeschriftet.

Ein Jahr nach meinem Verrat an A, das Geschäft meines Vaters fängt gerade an, sich aufzulösen, treffe ich mich mit meinen Freunden. A hat mir seine Freundschaft nicht dauerhaft aufgekündigt. Echte Freunde tun das nicht. Es ist sehr heiß. Wir fahren mit dem Fahrrad von Ort zu Ort. Außer A sind noch R, der Sohn des Bürgermeisters, und T, ein weiterer Schulfreund, dabei. Wir radeln und wir diskutieren. Was ist eine Fotze? Wie schnell kann man wirklich mit dem Fahrrad fahren? 20 km/h? Mehr? Ich bestehe darauf, dass wir mit unseren Fahrrädern nicht schneller sein können. Ich habe schon damals sehr feste Überzeugungen, die jedoch nicht immer sehr überzeugend scheinen. Wir spielen Fußball auf dem Bolzplatz, bis uns ältere Jungens dort vertreiben. Wir fangen Frösche und lassen sie wieder frei. Wir keuchen und wir schnaufen und ruhen uns dann auf einer Sommerwiese aus. Noch schwitzen wir Kinderschweiß, der unsere erhitzte, flaumigweiche Haut benetzt.
Wir sind Freunde, und dann sind wir es wieder nicht. Wir schließen Bündnisse und lösen sie wieder auf. Wir stehlen gegenseitig unsere Spielsachen, doch unser Gewissen lässt uns diese bei der nächsten Gelegenheit unauffällig wieder zurück an ihren Platz legen. Meistens. Wir  geben vor, Dinge zu wissen, die wir noch gar nicht wissen können. Jeder hat selbstverständlich schon mal ein Mädchen geküsst. Keiner hat bis dahin jemals ein Mädchen geküsst. Und obwohl Mädchen jeder von uns total schrecklich fiundet und wir sie deshalb meiden wie wie die Pest, muss ein jeder von sich behaupten, er habe schon Händchen gehalten. Was heißt eigentlich "schwul"? Hat das was mit dem Wetter zu tun? Wenn es schwül ist, dann fühlt man sich so komisch. Fühlt man so auch, wenn man schwul ist? Keiner weiß Genaues, doch jeder weiß, dass der andere völlig falsch liegt.
Wir sind Freunde, und dann sind wir es wieder nicht. Wir probieren aus, wie viel Macht wir übereinander haben. Wir wollen den anderen überlegen sein. Die Kindheit scheint aus vielen kleinen Wettbewerben zu bestehen. Denn der Stärkste darf bestimmen, was wann gemacht wird. Doch pure Kraft alleine schafft keine Freunde. Dafür braucht es Ränke, die darauf warten, geschmiedet zu werden. Der Stärkste ist nicht immer der Klügste. Doch wie können kleine Knirpse zeigen, dass sie stärker und klüger als die anderen sind? Wie können sie den Erwachsenen zeigen, dass sie längst schon sind wie sie?
Die Hitze flimmert und spielt uns optische Streiche. Neben uns der Wald, der Duft von Harz und Moos liegt bittersüß in der Luft. Auf der anderen Seite sprudelt ein kleiner Bach, der uns von den Wiesen trennt. Insekten schweben träge inmitten der Trockenheit und lassen sich auf erstorbenen Blütenblättern und trockenem Dung nieder. Vor uns liegt ein Feldweg, die gelbgrüne Grasnarbe verläuft mitten durch den heißen, trockenen Sand. Unsere Fahrradreifen sinken fast bis zu den Speichen ein. Das macht das Fortkommen schwer. Meine Freunde fahren zu dritt vor mir her und lassen mich nicht neben sich. Ich beschwere mich, doch die drei reagieren nicht. Sie tun so, als wäre ich gar nicht da. Nichtbeachtung ist das Schlimmste, was einem Kind wie mir widerfahren kann. Wenn meine Mutter auf mich böse ist, beachtet sie mich nicht. Nun bleibe ich aus Trotz einfach stehen. Mit dem Bein stütze ich mich ab. Ich versinke leicht mit der Sohle meiner Sandale, der heiße Sand rieselt zwischen meine Zehen. Meine Freunde halten vielleicht 50 Meter vor mir an, wenden ihre Fahrräder und bilden eine Front.
Ich bin bestürzt, wütend, traurig zugleich. Ich verstehe nicht, was ich falsch gemacht habe. Warum sie sich auf einmal gegen mich stellen. Erst sind sie still, schauen nur. Dann beginnen sie, mich zu verhöhnen. Komm doch, Schwuli. Hier kommst Du nicht vorbei!, rufen sie. Ich ahne die Häme in ihren Gesichtern. Häme ist das Zweitschlimmste, was einem Kind wie mir widerfahren kann. Meine Mutter lacht hämisch, wenn ich mich beim Spielen verletzt habe und weine. Weil ich wieder und wieder nicht auf sie gehört habe. Weil sie mir etwas verboten hat und ich es trotzdem tue. Und wenn ich mich dabei verletze: Dann geschieht es mir gerade recht.
Die Zeit scheint einfach stehen geblieben zu sein. Wie ein Schnappschuss steht sie vor mir. Nichts bewegt sich, völliger Stillstand. Ich fühle mich einsam. Ich will nicht einsam sein. Also versuche ich, die Zeit wieder anzuschieben, das Bild in meinem Kopf sachte in Bewegung zu setzen. Es funktioniert. Ein Gedanke formt sich. Die Bestürzung und Traurigkeit weicht allmählich von mir. Bis nur noch Wut übrig ist. Und dann trete ich so fest in die Pedale, wie ich nur kann. Ich fahre direkt auf meine Freunde zu. Zuerst drehen die Reifen im losen Sand durch, doch dann finden sie allmählich Haftung. Ich gewinne endlich an Fahrt, werde schneller und schneller. Erst im letzten Moment, ich bin jetzt nahe an ihnen dran, weicht die Häme aus ihren Gesichtern. Sie schieben ihre Räder panisch zur Seite und bilden einen Korridor. Ich rase dazwischen durch, und fahre dann weiter, immer weiter, ohne zurück zu schauen. Nach den großen Ferien gehe ich zur Realschule. Wir sind Freunde, und dann sind wir es wieder nicht.

Mittwoch, 1. Juni 2011

Zwischen den Bildern. Realitätsklammern.

[Zwischen den Bildern das Nichts] Ich stehe am Strand, die Hände in den Hosentaschen, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Hinter mir bleischwerer Horizont, der Himmel grau wie das Haar einer alten Frau, das Meer schwarz wie flüssiger Teer. Die Enden meines Schals flattern im Wind, meine Beine wirken in meiner weiten Hose wie aufgebläht und zerfasert, wie in einem zu schnellen Tanz. Dagegen wirken meine Füße seltsam am Boden festgenagelt. Ich bin eine Vogelscheuche im Wind, so sehe ich aus. Die Jacke klebt an mir wie ein Fremdkörper, scheint ihr ganz eigenes Leben zu führen, hebt und senkt sich wie in einem epileptischen Anfall. Und jetzt, da, der Moment, in dem mir der Hut fortgeweht wird und ich ihm nur nachblicke. Ich lächle Dir zu, nehme die Hände aus den Taschen und zucke mit den Schultern, dazu eine wegwerfende Geste. Scheiß auf den Hut. Ich komme langsam näher, dann wandert das Bild nach unten, fort von meinem Gesicht über meine flatternde Jacke, weiter hinunter zu etwas Unscharfem, ist das schon meine Hose und dann unverkennbar zwei schwarze Schemen, meine Schuhe. Dann fällt das Bild unscharf ins Nichts. Das muss der Moment sein, in dem ich Dich küsse.

Ich sehe mir dieses Video am Liebsten an. Im Grunde ist es völlig unspektakulär. Es zeigt genau das Wesen unserer Liebesbeziehung. Ich löse mich allmählich auf, und Du bleibst unsichtbar. Du hast Dir ein Bild von mir gemacht und mich erkannt, während ich Mühe habe, mich an Dein Gesicht zu erinnern. Deswegen vermisse ich Dich so, und deswegen scheinst Du mich nicht zu vermissen. Du weißt, wer ich bin, und ich habe Dich nie völlig begreifen können. Dies ist das Wesen meiner Sehnsucht: Ich bin noch nicht fertig mit Dir. Und was mir am Ende bleibt, sind ein paar Videos, auf denen ausschließlich ich zu sehen bin. Dich scheint es nie gegeben zu haben. Immer nur mich. Ich, zu Hause am Notebook. Ich im Garten auf dem Liegestuhl, lesend. Mit roter Badehose. Ich von der Seite, ein Auto steuernd. Die Landschaft rast an mir vorbei. Ich, am Steuer eines Autos, von der anderen Seite. Auf der Insel war das. Weshalb waren wir dort? Ich kann mich so gut wie nie daran erinnern, warum wir irgendwo waren. Ich erinnere mich nur daran, dass wir dort waren. Du bist weggegangen und hast die Videos dagelassen.

Ich stehe im Wohnzimmer, beige Hose, weißes Hemd. Ich gestikuliere wild mit den Händen. Im Hintergrund kann man Umzugskisten sehen, die Wände sind seltsam kahl. In einer Ecke liegt ein abmontierter Kronleuchter. Ich wirke unruhig, fassungslos, gehe hin und her und gestikuliere und rede und rede und gestikuliere. Dann ein Schwenk zur Tür, zwei Männer in braunen Arbeitshosen betreten den Raum, das Wohnzimmer gleitet an ihnen vorbei und sie packen die Umzugskisten mit ihren kräftigen Armen, man kann ihre Gesichter nicht erkennen. Ich versperre die Sicht auf ihre Tätigkeit. Ich gestikuliere und rede und gehe weiter hin und her. Ich bin nicht mehr im Fokus und bin manchmal sogar ganz aus dem Bild heraus. Die Schlafzimmertür nähert sich und ein Raum öffnet sich, inmitten liegt eine Matratze, seltsam abgesondert von Bettgestell, das daneben steht. Ein Mann mit brauner Arbeitshose schiebt sich vorbei, man sieht ihn nun von hinten, wie er den langen Spiegel wegnimmt. Er geht mit dem Spiegel um mich herum, ich bin jetzt auch in unserem Schlafzimmer und versperre ihm den Weg, halb absichtlich wirkt das, und er schwenkt den Spiegel kurz zu Seite und da Stopp, noch einmal zurück, im Zeitraffer, der Spiegel schwenkt, nun bin ich zweimal halb zu sehen, im Spiegel und in echt, oder in unecht? Aber da blitzt auch etwas auf. Was da aufblitzt, das bist Du. Kurz. Ganz kurz. Fast zu kurz.

Wie oft habe ich diesen Film nun gesehen? Ich habe nicht gezählt. Es war: oft. Nie ist mir diese Sequenz aufgefallen. Doch jetzt habe ich Dich gesehen. Ich habe Dich kurz aufblitzen gesehen. Ich muss mir nun ein vollständiges Bild von Dir machen. Ich muss Dich noch einmal sehen, um endlich gehen zu können. Um mich von Dir zu verabschieden. Damit ich endlich fertig mit Dir sein kann. Ich muss dieses Bild von Dir extrahieren. Dazu verlangsame ich das Bild. Ich fange an der Stelle an, wo sich der Möbelpacker um mich herum wendet. Eine fließende Bewegung. Es ist ein Film. Ein Film besteht aus Einzelbildern, die zu einer flüssigen Bewegung werden, wenn man sie in der richtigen Geschwindigkeit in Reihe aufzeigt.

Zwischen den Bildern sind Lücken. Für das normale Auge nicht sichtbar. Es sei denn, man verlangsamt den Film. Doch so sehr ich mich bemühe, so langsam ich den Film auch abspiele. Etwas stimmt nicht. Das Nichts zwischen den Bildern. Es fehlt. Etwas stimmt nicht. Da wird mir klar: Das Video ist nicht echt. Es ist nicht real. Ich gerate in Panik. Ich verlasse die Wohnung. Ich renne. Ich stolpere. Ich renne. Ich weiß nicht wohin. Ich renne zur Tür hinaus und bin dann weg. Von der noch offenen Tür gehen wir an einem kahlen Flur vorbei in ein ebenso kahles Wohnzimmer. Dort in der Mitte steht ein Stuhl und ein Schreibtisch. Darauf liegt ein Notebook. Der Bildschirm ist schwarz.

[Realitätsklammer] Ich werde in einem hell erleuchteten Zimmer wach. Man wünscht mir einen guten Morgen. Ich frage wo ich bin. Der freundliche Herr sagt: Na, da wo Sie immer sind, Herr Koos. Er ist kräftig gebaut, jung und unrasiert. Und er trägt weiße Kleidung, wie sie für Pfleger in einem Krankenhaus üblich ist. Zeit für einen kleinen Spaziergang. Ach nein, vorher bekomme ich noch ein Frühstück und ich wasche mich. Meine Kleidung ähnelt im Schnitt der des Pflegers, doch ist sie in einem bräunlichen Ton gehalten. Zur Unterscheidung. Ich behalte die Augen offen. Wenn ich die Augen schließe, wird mir schnell schwindlig. Deshalb behalte ich sie solange offen, wie es geht. Ich versuche nicht zu blinzeln. Das gelingt mir nicht immer. Von Zeit zu Zeit. Dann blinzele ich doch. Mich überfällt dann eine eigenartige Panik. Es ist, als gäbe es nichts mehr um mich herum. Als sei da eine Leerstelle. Nicht in meinem Bewusstsein. In der Welt. Sie macht mir Angst. Es ist, als sei sie nicht real.

Jetzt bin ich draußen. Im aufgeräumten Ambiente des kleinen Parks inmitten der Klinikgebäude. Klare Strukturen in der Anordnung, kein Chaos. Die kleinen Bäume stehen wie Soldaten in Reih' und Glied. Unter jedem zweiten Baum steht eine kleine Holzbank. Platz für zwei Personen. Für jeden Sitzenden ein Baum. Jedoch sitzt jeder alleine auf einer Bank. Der Rasen mit der kleinen Vogeltränke ist frisch gestutzt und saftig grün. Streichholzlang. Darf nicht blinzeln. Ein Streichholz für jedes Auge, damit mir die Welt nicht verloren geht. Dabei geht sie mir täglich verloren, sagt der Pfleger. Ich werde wach und weiß nicht wo ich bin. Der Pfleger heißt Daniel. Sagt er mir. Sagt er mir jeden Tag. Sagt er. Ich vergesse es wieder, wenn sich die Augenlider am Ende eines Tages schließlich doch müde schließen und ich am nächsten Morgen wieder erwache. Na Koos? Ein weiterer Patient, er erinnert sich an mich. Er stellt sich vor. Christoph S. Er erzählt mir eine Geschichte. Er erzählt mir seine Geschichte. Daniel sagt, er täte dies jeden Tag. Er freue sich jeden Tag darauf, mich wieder zu sehen. Dann könne er mir seine Geschichte erzählen. Wieder und wieder. Das täte ihm gut.

Obwohl ich mich an niemanden erinnern und im Grunde auch gar nicht weiß, wo genau ich bin und warum, scheine ich recht beliebt zu sein bei den Patienten und Pflegern. So vergeht der Tag. Unterbrochen nur von einigen wenigen Blinzlern und einem Besuch bei Dr. Stolz. Er will wissen, wie es mir geht. Ich sage ihm, dass ich das nicht weiß. Woher auch? Dr. Stolz scheint mich gut zu kennen. Was bedeutet: Er fragt nicht weiter nach. Er verschreibt mir Augentropfen wegen der Rötung. Daniel geht mit mir zur Medikamentenausgabe. Ich weiß nicht wo sie ist. Ich scheue mich, die Tropfen zu nehmen, weil ich dann womöglich blinzeln muss und mir etwas vom Tag entgleitet, in das Nichts hinein. Ich fürchte mich vor dem Nichts, und wahrscheinlich bin ich deswegen hier. Ich esse zu Abend, dann schauen wir alle zusammen mit den Pflegern einen Film. Daniels Schicht ist zu Ende. Gute Nacht, Koos. Bis Morgen! Und dies mit einem Grinsen. Ich sage, Gute Nacht äähhh Bernd? Er schaut besorgt. Ich habe einen Witz gemacht. Morgen habe ich ihn vergessen. Den Film auch.

Ich wache auf und weiß nicht wo ich bin. Ein Mann, ganz in weiß, begrüßt mich. Guten Morgen, Herr Koos. Ich bin Bernd. Ihr Pfleger. Keine Sorge, ich bringe Sie durch den Tag und erkläre ihnen alles, was Sie wissen müssen. Ich kleide mich an. Ich putze mir die Zähne. Ich schaue mich im Spiegel an und muss blinzeln. Ich bin weg. Ich öffne panisch die Augen. Dann bin ich wieder da. Ich habe Angst davor, die Augen zu schließen. Es ist, als würde die Welt verschwinden. Ich verbringe fast den ganzen Tag damit, die Welt im Auge zu behalten. Ich wache auf und ein Daniel hilft mir durch den Tag. Ich lerne die anderen Insassen kennen. Sie sind unruhig. Sie gehen aufgeregt in der kleinen Parkanlage umher. Ich kann spüren, dass etwas in der Luft liegt. Einer, der sich mit Michael vorstellt, sagt mir, Aufpassen, Koos, gleich geht es los. Und noch bevor ich überhaupt weiß, was los geht, geht etwas los. Die Insassen rennen alle in eine Richtung, und ich passe auf und denke, das ist es wohl, was losgeht hier. Wir rennen also los, acht Insassen, und die Pfleger hinterher. Ich weiß nicht, wo wir hinlaufen.

[Flucht] Nicholas ruft, schnell hier hinauf, die Treppe hoch, schnell. Und während wir die Treppe also hochrennen, wartet Nicholas unten, bis wir alle vorbei sind, und versucht dann, die Pfleger mit Drohgebärden zu verjagen. Ksst! Fchch! Haut ab, Ihr Wichser. Ksssst! Rennt uns danach hinterher. Intuitiv weiß ich, dass sich Flüchtende in eine Sackgasse begeben, wenn sie die Treppen hinauf laufen. Ich weiß aber gar nicht, ob wir hier überhaupt auf der Flucht sind. Vielleicht ist das ein Spiel, dass sie jeden Tag spielen. Insassen gegen Pfleger. Wir springen über ein Eisengitter und sind dann auf einer Dachterrasse. Ein Spiel, vielleicht. Dort sind schon Andre und Christoph an der Tür zum Gebäude zugange. Sie stemmen sie mit der Kraft ihrer beiden Körper auf und winken uns hinein. Wir folgen, was sollen wir auch sonst tun. Andre schließt die Tür hinter sich und Nicholas schiebt einen alten Schreibtisch davor. Das müsste halten. Christoph schaut zufrieden aus. Ein Schweißtropfen läuft mir von der Stirn in die Augenbraue und bahnt sich seinen Weg hindurch. Noch ehe ich ihn bewusst wahrnehme und fortwischen kann, rinnt er mir ins Auge und ich muss beide kurz schmerzhaft schließen. Panisch reiße ich die Augen wieder auf und schaue mich um. Alles noch da.

Wir machen eine kleine Rast. Die Pfleger hämmern eine Weile gegen die Tür, versuchen sie aufzubrechen. Dann, nach einiger Unterredung, scheinen sie aufzugeben. Es wird ruhig da draußen. Sie lassen uns verschwinden. Christoph bricht endlich das angespannte Schweigen. Weißt Du, Koos, sie lassen uns einfach verschwinden. Ich weiß, Du kannst Dich nicht erinnern. Aber wir waren einmal mehr. Viel mehr. Ich will wissen, wie sie das anstellen. Uns einfach verschwinden lassen. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Christoph jetzt resigniert. Nicholas steht auf. Los, weiter jetzt. Die kommen bestimmt bald wieder. Ich frage mich, ob das jeden Tag passiert. Christoph, das hier: Passiert das jeden Tag? Was spielt das für eine Rolle, erwidert er. Keine Antwort auf meine Frage. Komm jetzt. Wir müssen los! Aber eine klare Ansage. Wir müssen weiter. Flüchten wir denn? Oder gehen wir einfach nur wohin?

Türen versperren uns den Weg wie Augenlider. Wenn sie aufgetan werden, offenbart sich uns eine neue Welt. Diese neue Welt unterscheidet sich nur unwesentlich von der alten. Dennoch ist sie ein anderer Ort in einem anderen Licht. Was dahinter ist, ist beinahe dasselbe, aber anders angeordnet. Ich finde allmählich Spaß daran, Türen aufzustoßen. Weil ich mich daran erinnern kann, was in dem Raum davor war. Es tut gut, sich ab und an einmal zu erinnern. Wie kann ich wissen, ob dieser spaßige Irrsinn hier eine Ausnahmeerscheinung ist oder vielleicht sogar täglich stattfindet. Eine Art Massenpsychose, immer wieder von neuem ausbrechend. Ein Spiel, das die Anstalt notgedrungen und mittlerweile gelangweilt mitspielt. In dem die Pfleger nur noch pro Forma hinterher rennen und dann wieder zurück an ihre Arbeit gehen. Oder zu was auch immer.

Ein Spiel, bei dem die Ärzte dereinst auf einen Durchbruch in der Behandlung hofften. Nun schauen sie vielleicht nicht einmal mehr auf die Kamerabilder auf ihren Monitoren. Sie gehen stattdessen an ihre Schreibtischschublade, nehmen eine Flasche Scotch heraus und füllen das Wasserglas auf dem Tisch bis zum Rand. Sie schieben ihre Brille in die Haare, gehen auf Augenhöhe zu dem Glas, falten ihre Zunge kurz über die Oberlippe und kneifen ein Auge zu. Sie starren einäugig in flüssiges Bernstein, dass soviel interessanter scheint als ihre Patienten. Dann, nach ausgiebiger Betrachtung, von allen möglichen Seiten, gehen sie aus der Hocke und setzen sich wieder zurück in ihren lederbezogenen Sessel. Sie nehmen das Glas in die Hand und schütten den Inhalt langsam und sorgfältig, fast liebevoll wieder zurück in die Flasche. Mit der Fingerspitze wischen sie einen daneben gegangenen Tropfen vom Tisch und führen sie zur Nase. Sie inhalieren tief, und ihre Zungenspitze berührt zart den ausgestreckten Finger. Schmatzend verschwindet die Fingerspitze in ihrem Mund. In dem Moment, in dem sie ihr zwanghaftes Verhalten bemerken, ploppt der Finger entschlossen aus der Mundhöhle und fährt in einer Höllengeschwindigkeit zur Ruftaste der Telefonanlage, und aus den Vielen wird wieder nur einer. Hier Dr. Stolz. Machen Sie dem Mumpitz da unten endlich ein Ende. Danke.

Wir stoßen Tür für Tür auf und scheinen einen Plan zu haben. Wir sind acht Leute auf dem Weg irgendwohin. Das ist der Plan. Wir rennen nicht davon. Wir wüssten gar nicht wohin. Wir sind nicht auf der Flucht. Wir sind auf der Suche. Wir bleiben zusammen und laufen durch Korridore, die Treppen hinauf und wieder herunter, wir stoßen Türen auf und sind dann wieder woanders. Es fällt zunächst gar nicht auf. Wir merken es nicht. In einer neuen Welt hinter jeder neuen Tür sind die Veränderungen so gering, es hätte uns früher auffallen müssen. Michael merkt es als erster. Wo ist Claus? Hat jemand Claus gesehen? Nicholas ruft, kommt, wir müssen weiter. Weiter. Sonst ist es zu spät. Siehst Du, sagt Christoph zu mir, sie lassen uns einfach verschwinden, einen nach dem anderen. Und wir können nichts tun. Er spricht, als habe er einen Kloß verschluckt. Wir rennen weiter, nun zu siebt. Das mit Claus' Verschwinden macht mich nervös, dass meine Augenlider unwillkürlich zucken. Ich habe keine Angst davor zu verschwinden. Ich fürchte mich davor, dass mir die Welt entschwindet. Ich versuche mich zu konzentrieren. Im nächsten Korridor kann ich es aus dem Augenwinkel heraus beobachten. Ich kann es ganz genau sehen. Ich sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie Nicholas sich in Luft auflöst. Wie machen sie das? Wie lassen sie uns verschwinden?

Christoph sagt, es sei nun nicht mehr weit, er erinnere sich nun an den Weg. Wir sind so viel gerannt und geklettert und gestiegen und hindurch gegangen, dass ich ihm nicht glauben kann, dass er wirklich weiß, wo wir sind, geschweige denn, dass er überhaupt weiß, wo wir hin müssen. Er zeigt uns den Weg. Hier lang. Noch eine Tür und wir sind da. Ich öffne die Tür. Dahinter ein Balkon. Von da aus geht es nicht weiter. Wir gehen resigniert hinaus und stützen uns ab, versuchen uns zu orientieren. Christoph verschwindet vor unseren Augen. Ein Wimpernschlag entfernt von uns. Michael sieht es. Michael sagt, wir sind auf der falschen Seite, Freunde. Da drüben sind sie. Dort, auf dem Dach. Da drüben sind sie. Wir blicken uns um, bis wir sie auch sehen. Männer auf dem Dach. Wir, auf einem Balkon, sehen Papier vom Dach in den Hof hinunter schweben, und wir können nichts dagegen tun.

Dienstag, 22. Februar 2011

Moralist, nicht integer: revisited!

Nachdem die Bisswunde an meinem Arm endlich verheilt war, hatte ich mir überlegt, nun doch nicht mehr durch den Stadtpark zu gehen. Es war einfach zu gefährlich. Da mir aber das Fahren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln bekanntermaßen verboten wurde, aus Gründe, die nur aus einem großen Missverständnis resultierten, war ich geradezu zur Bewegungslosigkeit verdammt.

Da entschloss ich mich einfach dazu, die kleine Stadt zu verlassen und mein Glück in der großen Stadt zu suchen. Vieles würde anders sein: In der großen Stadt gäbe es zwar gewiss auch Hunde und Herrchen und ebenfalls öffentliche Verkehrsmittel, doch würde ich Letztere benutzen dürfen und das Zählwerk meiner selbst verschuldeten Vergehen auf Null zurückstellen können.

Die große Stadt hieß mich herzlich willkommen. Zumindest widerfuhr mir bei meiner Einbürgerung keine schlimmere Sache. Allmählich fasste ich Fuß und traute mich endlich, die U-Bahn des öffentlichen Nahverkehrs zu benutzen. Das war nun bitter nötig, da ich meinen Lebensunterhalt sichern musste. In der großen Stadt kann man jedoch nicht einfach zum Amt gehen, sondern muss, in Ermangelung eines KFZ, dorthin fahren. Ich musste meine Scheu und allen Argwohn ablegen.

Also versuchte ich recht freundlich drein zu schauen und es allen recht zu machen. Wer mir entgegen kam, dem wich ich aus. Und wer eine kleine Spende wollte, dem gab ich etwas von meinen spärlichen Mitteln. Man will ja kein Unmensch sein. Wobei ich die sogenannte kleine Spende relativ hoch fand. Aber in einer großen Stadt braucht man auch große Spenden. Dies erschien mir logisch und fair.

Am Ende bekam ich jedoch nie eine Zeitung wie versprochen. Trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass man für 48 Stufen und 20 Meter so viel Zeit in Kauf nehmen muss. Dem Himmel sei Dank, dass ich, geprägt von meinen einschlägigen Erfahrungen mit Verspätungen, genügend Zeit eingerechnet hatte. Sollte alles nach Plan laufen, wäre ich eine Stunde vor meinem Termin beim Amt.

Wie es sich zeigte, tat ich gut daran. Denn IN die U-Bahn zu kommen, schien mir schwieriger, als HINAUS. In gebührendem Abstand platzierte ich mich also vor der Fahrgasttür. Die Leute strömten hinaus, und ungeduldigere Menschen schoben sich vor mich und drängten hinein. Am Ende war kein Platz mehr für mich. Ansonsten hätten die Fahrgäste aufrücken müssen. Aber wer bin ich, so etwas zu fordern? Ich wohne ja erst seit kurzem in der Stadt und habe noch nicht die vollen Rechte wie zum Beispiel jemand, der schon lange in der großen Stadt lebt oder gar in ihr geboren ist.

Dieser Umstand stellte sich jedoch als großes Glück heraus, da ich in der Aufregung, ausgelöst durch meine erste U-Bahn-Fahrt in der großen Stadt, von den vielen Menschen, denen ich auswich oder etwas Kleingeld gab und dem Gebaren der Fahrgäste, völlig vergessen hatte, einen Fahrschein zu lösen. Dies holte ich nach, musste mich aber zuerst einer fremd sprechenden Gruppe hintanstellen und danach noch ein paar besonders eilige Menschen vorlassen. Am Ende gelang es mir jedoch, bei einem freundlichen Menschen eine Fahrkarte zu erstehen, die freundlicherweise schon gestempelt war.

Dann gelang es mir endlich, in die U-Bahn einzusteigen. Zunächst musste ich eine ganze Weile stehen, doch das machte mir nichts. Ich lächelte den einen oder anderen Fahrgast an und grüßte ihn freundlich. Das scheint in der großen Stadt nicht üblich zu sein, denn die Leute grüßten nicht zurück. Sie lächelten auch gar nicht und drehten sogar ihren Kopf zur Seite. Womöglich hatte ich etwas Unangenehmes im Gesicht kleben, vielleicht hatte ich auch Mundgeruch. Sofort tastete ich mein Gesicht ab, konnte jedoch nichts finden. Dann hielt ich mir die Hand vor den Mund und atmete hinein. Ich konnte nichts Derbes riechen. Aber den eigenen Gestank kann man bekanntlich selber gar nicht riechen.

Um die Menschen in meiner näheren Umgebung nicht zu belästigen, versuchte ich die Luft lange einzuhalten und so selten wie möglich zu atmen. Dabei wurde mir schwindlig. Ich hätte mich am Liebsten hinsetzen wollen, so schwindlig war mir, doch das ging ja nicht, weil die äußeren Sitzplätze schon alle besetzt waren. Auf die Fensterplätze wollte ich mich erst gar nicht schummeln, die Leute hätte sonst ihre bequeme Sitzposition wegen mir aufgeben müssen. Zudem wollte ich sie nicht mit meinem Mundgeruch belästigen. Es war mir alles sehr unangenehm.

Dann endlich hätte ich umsteigen können, doch leider bin ich nicht rechtzeitig aus der U-Bahn heraus gekommen. Da lernte ich, dass dies beinahe genauso schwer war wie HEREIN zu kommen. Andererseits gelang den übrigen Fahrgästen beides in vollem Umfang. Wahrscheinlich lag dies daran, dass ich neu war und mich noch nicht so gut in der großen Stadt und den dortigen Sitten auskannte. Das war selbstverständlich mein Fehler: Was gehe ich auch immer so unvorbereitet aus dem Haus? Ich hätte es schließlich wissen müssen: Man soll sich die Sitten und Gebräuche derer, die man besucht, vorher aneignen!

An der nächsten Haltestelle gelang mir erfreulicher Weise der Ausstieg. Ich ging zum gegenüber liegenden Bahnsteig, um bei nächster Gelegenheit zurück zu fahren. Da standen schon viele Leute, die alle warteten. Ich war jedenfalls sehr vergnügt, da ich es bereits beim zweiten Versuch geschafft hatte, aus der Bahn zu steigen, so dass ich meinen Mundgeruch und den Schmutz in meinem Gesicht völlig vergessen hatte. In dieser Hochstimmung nahm ich ein kleines Mädchen wahr, höchstens zehn Jahre alt, alleine und mit Ranzen auf dem Rücken.

Ich ging zu ihm hin und grüßte es freundlich. Ich hatte dem Mädchen lediglich sagen wollen, dass ich es sehr mutig von ihr fände, ganz alleine mit der U-Bahn zu fahren. Ich fand das wirklich großartig, wie jemand so Junges mit etwas so Kompliziertem einfach zurecht kommt, wenn Erwachsene wie ich schon Probleme damit haben. Doch das Mädchen schaute mich nur erschrocken an und lief dann mit einem schrillen Quieken, ich kann es nicht anders sagen, weg. Da fiel mir ein, dass ich ja so argen Mundgeruch hatte und auch schmutzig im Gesicht war. Ich wäre auch schreiend  davon gelaufen, wenn mich so jemand angesprochen hätte.

Gleich darauf kamen allerdings ein paar Frauen und Männer auf mich zu und fragten harsch, was ich denn von dem kleinen Mädchen gewollt habe. Ich entgegnete ihnen, dass ich gar nichts von ihr wollte und dass ich kleine Mädchen eben gerne mag und deswegen nett zu ihnen bin. Das schien den Leuten nicht zu gefallen, und ich war etwas verwundert, dass man in dieser Stadt offenbar keine kleinen Mädchen mag. Da sagte ich der mittlerweile aufgebrachten Menge, dass es da, wo ich herkämme, ganz normal sei, kleine Mädchen zu mögen. Und da mir langsam dämmerte, was die Leute vor mir wirklich bewegte, fügte ich hinzu, dass man dort ebenfalls kleine Jungens möge. Es sei selbstverständlich, wenn Freunde und Verwandschaft ihre Kinder vorbei brächten und sie dann dort auch alleine ließen. Das mache doch den Kindern genauso viel Spaß wie den Erwachsenen.

Ich verstand dann nicht so richtig, warum die Leute mich plötzlich so beschimpften. Sie sagten Sachen zu mir, die ich hier nicht wiedergeben möchte. Wohl aber möchte ich darauf hinweisen, dass mir ein besonders grober Mensch die Faust derart auf die Nase geschlagen hat, dass sie mir blutete. Und eine Dame schlug mir fortwährend ihre Tasche auf den Rücken. Ich wusste nicht wie mir geschah, ahnte aber, dass es besser wäre, die Flucht zu ergreifen. Dem Himmel sei Dank fuhr im selben Moment der Zug ein. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig in einen der hinteren Wagen absetzen, bevor die zuerst erstarrte und mir dann schleunigst hinterher eilende Menge nachfolgen konnte. Wütend trommelten sie an die Fahrgasttür, mit den immer selben Schimpfworten auf ihren Lippen, keifend, geifernd, hochrot erzürnt.

Erleichtert atmete ich auf. Um bei den übrigen Fahrgästen, die mich schon argwöhnisch beäugten, Wohlwollen zu erlangen, lächelt ich sogleich freundlich. Doch diese erschauerten nur vor mir und wichen aus. Um mich herum wurde getuschelt und einige Leute schienen mich mit Unbehagen zu betrachten. Aber immerhin hielten sie Abstand zu mir, und so konnte ich einfach dastehen, ohne sie mit meinem Blut zu bekleckern. Da bemerkte ich, wie sich mir zwei Personen von der Seite näherten. Als sie bei mir ankamen, fragten sie nach meinem Fahrschein, den ich ihnen augenblicklich zeigte. Man soll ja wegen mir keine Zeit verschwenden müssen. So dachte ich jedenfalls.

Sonntag, 17. Oktober 2010

Blockaden

Holz E. von Bald

Es hatte mit einer Schreibblockade zu tun. Seit Monaten nun brachte ich nichts mehr zu Papier. Nicht, dass ich keine Ideen mehr gehabt hätte. Davon gab es genug. Sie schienen mir sogar relevant zu sein. Doch irgend etwas hinderte mich daran, sie aufzuschreiben. Ich weiß nicht, was es war. Es hatte mit einer Schreibblockade zu tun. Seit Monaten nun brachte ich nichts mehr zu Papier. Nicht, dass ich keine Ideen mehr gehabt hätte. Davon gab es viele. Einige schienen sogar relevant zu sein. Doch irgend etwas hinderte mich daran, sie aufzuschreiben. Es hat wohl mit einer Schreibblockade zu tun. Seit Monaten bringst Du nun nichts mehr zu Papier, sagte mein wohlmeinender Freund. Es ist nicht so, dass ich keine Ideen mehr habe, entgegnete ich. Davon habe ich viele. Darunter sogar einige relevante.

Doch irgend etwas hindert Dich daran, sie aufzuschreiben. Aber ich kann Dir weiter helfen, sagte mein sich für gewöhnlich direkt vor meinen Augen materialisierender, aber immer wohlmeinender Freund. Er gab mir den Rat, einen Motivator aufzusuchen. Er wird Dir helfen, so wie er schon mir geholfen hatte und vielen anderen zuvor, die den Kopf voller Ideen hatten und nicht weiter wussten, sie zu nutzen. Er schrieb eine Adresse auf und hielt mir den Zettel hin. Daraufhin verließ er meine Wohnung durch die ihm ebenfalls gefällige Art des Sich-Einfach-In-Der Luft-Auflösens. Darüber wie immer irritiert, hielt ich den Zettel in der Hand und dachte: Er muss sich unbedingt eine andere Form des Kommens und Gehens überlegen, sonst drehe ich noch durch. Eines Tages.

Später rief ich den Motivator namens Bertollo unter der angegebenen Nummer an und machte mit einer Sprechstundenhilfe namens Belinda einen Termin aus. Da Sie privat versichert sind, spielt es keine Rolle, wann und ob Sie kommen, sagte Belinda, die es sich zwischendurch anders überlegte und nun lieber Carla heißen wollte. Gut, sagte ich, dann komme ich gleich morgen. Gegen zwei Uhr am Mittag, wäre das recht, Carla? Belinda. Ich heiße Belinda. Vierzehn Uhr, morgen. Bänkelstraße 17. Ist recht. Wiederschaun. (Klack)

Am nächsten Tag setzte ich mich auf mein Moped, eine alte, senfgelbe Simson mit abgeschlagenen Blinkerärmchen und zerritztem Sitzpolster. Ich startete das Relikt und fuhr damit los, etliche Rauchzeichen hinterlassend, um nachfolgenden Menschen anzuzeigen: Hier stand einmal ein Moped. Hustend und keuchend ist es nun fortgefahren. So what? Eventuell gefundene Blinkerärmchen bitte in den Briefkasten werfen oder einem vorbeiziehenden Nazi auf die Schädeldecke hauen. Vielen Dank!

Die Praxis des Motivators befand sich im äußersten Norden der Stadt, also hatte ich eine weite Reise vor mir. Zwischendurch rastete ich und tankte die Simson auf. Ich selber machte noch ein paar gymnastische Übungen und aß einen Schokoriegel. Dann fuhr ich weiter. Als ich endlich im äußersten Norden der Stadt angekommen war, es also beinahe geschafft hatte, konnten mich weder der Stadtplan noch der mitgeführte Kompass zur Praxis in der Bänkelstraße führen. Die Nadel drehte sich wie verrückt im Kreis und die Karte war verkehrt, egal wie ich sie hielt. Also fragte ich Passanten nach dem Weg, doch die zuckten nur kurz mit der Schulter und setzten munter pfeifend ihren Weg fort.

In heller Aufregung fuhr ich mit der Simson hin und her, doch ich konnte die Praxis einfach nicht finden. Mit einem Blick auf die Uhr entschied ich nun, wieder nach Hause zu fahren. Den Termin hatte ich ja bereits verpasst. Also fuhr ich geradezu wieder nach dem Süden der Stadt. Ich musste mich jedoch verirrt haben. Denn vor meinen Augen tat sich ein großer See auf. Ich stand vor der Frage, in welche Richtung ich ihn umfahren müsste, um wieder zur ursprünglichen Route zurück zu finden. Ich entschied mich für den Osten, doch nach einer halben Stunde Fahrt hatte ich den See nicht umrundet und eher das Gefühl, als entfernte ich mich immer mehr von meinem Ziel, statt ihm näher zu kommen. Dann fuhr ich zurück nach Westen und darüber hinaus, bis ich in einer Sackgasse Halt machen musste. So kam ich nicht weiter, soviel stand fest.

Ich schaute mich um. Ich befand mich in einer engen, menschenleeren Straße, alter Pflasterstein. Um mich herum waren schmucklose, mehrgeschossige Häuser etwa aus der Wende vom 19ten zum 20ten Jahrhundert. Der Putz war schon vor langer Zeit abgebröckelt und legte Ziegelsteine frei, die mittlerweile völlig verrußt waren. Steinerne Treppen, umwehrt von Eisengeländern, wuchsen von der Straße hinauf zu wuchtigen Hauseingängen, die Türen aus massivem Holz, abgeblätterter Lack. Die Fenster der Häuser, wie in früheren Zeiten doppelt gerahmt und verglast. Blumentöpfe voller Geranien setzten grelle Farbtupfer auf die grauen Wände. Über die Straße hinweg behängte Wäscheleinen.

Ich stellte den Motor ab. Irgendwie musste ich einen Weg nach Süden finden, zur Not durch die Häuser hindurch. Ich stieg die Treppe des mir den Weg versperrenden Hauses hinauf und trat ein. So sehr ich auch suchte: Es gab keinen Hinterausgang. Als ich enttäuscht wieder hinaus wollte, ging ich versehentlich durch ein Wohnzimmer, in dem sich gerade ein junges Paar stritt. Es ging um die üblichen Probleme. Erst wollte ich vermitteln, doch dann überlegte ich es mir anders und schlich mich aus der Szene. Dieser Streit ging mich nichts an.

Zurück im Treppenhaus und voller Neugierde, die ich mir heute nicht mehr erklären kann, stieg ich die Treppe hinauf und schaute mir Stockwerk für Stockwerk an, beobachtete die Menschen in ihren Wohnungen, staunte, lachte und weinte, als ich ein schönes Mädchen tot in der Badewanne vorfand, das Wasser darinnen blutrot verfärbt. Ein junger Mann saß lächelnd daneben und hielt ihre blutleere Hand in den seinen.

Erschüttert von diesem zärtlichen Bild wechselte ich in eine andere Wohnung und fand eine Familie beim Kaffeekränzchen vor, als der Vater dem Kleinsten gerade mit dem schweren Küchenmesser die Hand abschnitt. Wahrscheinlich hatte er nach einem Stück Kuchen gegriffen, ohne artig zu fragen. Reumütig blickte der Kleine seinen Vater an, wissend um des Vaters Pein: Den stärksten Schmerz fühlt stets das Elternteil, das straft.

Andächtig verließ ich auch diese Szene und fand andernorts einen Kindergeburtstag vor, ausgelassen lachende Kinder in Kostümen, die den gefesselten, am Boden liegenden Clown, freudig boxten und kniffen. Dessen Hilferufe erfreuten auch die Erwachsenen, die auf ihren Stühlen saßen und begeistert in die Hände klatschten. Ich nahm ein Stück Geburtstagstorte und schmierte es dem Clown ins Gesicht. Und immer wieder rief er um Hilfe, zum Totlachen das Ganze. Wann hatte ich zuletzt einen solchen Spaß?

Erhitzt vor lauter Lebensfreude ging ich hinaus auf die Terrasse. Ein junger, südländisch ausschauender Mensch, kam auf mich zu und fragte nach Feuer. Ich gab ihm welches. Wir rauchten beide andächtig und betrachteten den großen See in der bereits untergehenden Sonne. Er meinte, das Licht sei nun besonders gut. Ob ich denn etwas dagegen hätte, wenn er mich photographierte. Ich verneinte und fragte, was ich tun solle. Einfach ich selbst sein solle ich, das genüge. Ich wusste gar nicht, wie das geht: ich selbst sein. Doch dem jungen Mann schien zu gefallen, was ich tat.

Er photographierte und photographierte, kam mir dabei immer näher. Mich interessieren die Muster, mich interessieren Details, nuschelte er in die Kamera hinein, während er immerfort das Objektiv justierte. Bis er endlich nur noch wenige Zentimeter von meinem Jackett entfernt war und dessen Musterung schoss. Als er sich nach etwas mehr als einer viertel Stunde wieder etwas entfernte und endlich damit aufhörte, sich für meine Muster und Details zu interessieren, dankte er mir überschwänglich. Er küsste mich auf den Mund und verschwand in der Wohnung.

So blieb ich noch eine Weile auf der Stelle stehen und dachte an nichts. Ein wunderbares Gefühl überkam mich dabei. Dann wandt ich mich wieder dem herrlichen Panorama zu und bedachte den aufkommenden Nebel mit einem stillen Gruß. Dessen Arme erhörten mich bald und griffen zärtlich nach mir. Sie ließen mich schlussendlich ganz verschwinden in seiner köstlichen, diffusen Konsistenz. Ich schloss die Augen und ließ es geschehen.

HEK 17.10.2010

Donnerstag, 4. Februar 2010

Auf die Insel!

Als man feststellte, dass sie fast nur noch verwaltungsinterne Vorgänge bearbeiteten, begann man, alle Beamte und Fachangestellte der Verwaltungen auf eine südlich gelegene Insel zu verbringen. Dort sollten sie für den Rest ihrer Tage sich selbst überlassen bleiben und das tun, was sie am besten können: sich selbst verwalten!
Im Lande selber beschloss man, den Dienst am Bürger den kundenorientierten Dienstleistern zu überlassen, was im allgemeinen sehr gut angenommen wurde. Wenn ein Arbeitsloser zum Beispiel in Arbeit vermittelt wurde, schickte man ihm nun zusätzlich einen Blumenstrauß samt Grußkarte.
Man freute sich ganz ehrlich, dass die Menschen aus dem "Bezug" heraus fielen. Früher wurden die "Bittsteller" sang- und klanglos aus dem System gestrichen. Neue kamen hinzu, und sie waren außer arbeitslos vor allem eines: lästig!
So ging es den BürgerInnen mit sämtlichen Ämtern und Verwaltungen. Doch nun war alles gut. Sie fühlten sich endlich ernst genommen und mussten für jeden Antrag nur noch drei statt der üblichen 10 Durchschläge einreichen. Es war jetzt alles so viel einfacher.
Doch nach einiger Zeit hörte man von den BewohnerInnen der "Verwaltungsinsel" nichts mehr! Hatten sie es tatsächlich geschafft, zu gedeihen und sich fortzupflanzen? Waren sie endlich vollkommen unabhängig und benötigten keinerlei Unterstützung mehr? Noch vor wenigen Monaten wurde die Regierung von Anträgen auf Entwicklungshilfe geradezu bombardiert.
Man versuchte, Kontakt zu knüpfen, wollte schließlich Geschäfte mit dem endlich prosperierenden Eiland machen. Doch auf derlei Anfragen gab es keinerlei Reaktion. Also schickte die Regierung ein Erkundungsteam auf die "Verwaltungsinsel", um nach dem Rechten zu sehen.
Als das Team dort ankam, war es nicht schlecht erstaunt: Die Häuser waren zerfallen, in ihnen befand sich kein Leben mehr. Auf den Schreibtischen lagen Unmengen von unbearbeiteten Anträgen, Ablehnungen und Widersprüchen. Sämtliche Topfblumen waren verwelkt. An den Tischen saßen mumifizierte Leichen, die bunte Gießkännchen in ihren Händen hielten.
Sofort wurden Experten hinzu gerufen. Sie sollten erforschen, was denn in der Zwischenzeit passiert sei. Die einfache Antwort war schnell gefunden: Die BewohnerInnen hatten sich gegenseitig zu Tode verwaltet! Die Experten erklärten es der Regierung exemplarisch an einem Beispiel: 
Eine beantragte Dose Thunfisch verursachte einmal solch einen Verwaltungsaufwand, dass hinterher keiner mehr die Kraft hatte, sie zu öffnen, als sie endlich am Bestimmungsort angekommen war. Bei näherer Ansicht des Aktenverlaufs unter Zuhilfenahme forensischer Spurensicherung stellte sich folgendes heraus: Selbst wenn der Antrag 1554c (Bestellung einer Dose Thunfisch) samt Folgeantrag 1554d (öffnen der Dose Thunfisch) positiv entschieden worden wäre (die zuständigen Behörden mahnten wiederholt Formfehler in der Antragstellung an), wäre der Antragsteller trotzdem verhungert. Dies lag ganz besonders an folgendem Umstand:
Eine Verwaltungsfachangestellte wurde aufgrund ihres mehrfach abgelehnten Antrags auf eine höhere Gehaltseinstufung dermaßen brüskiert, dass sie aus Trotz den Antrag 234a (Antrag auf Zuteilung und Zustellung eines Dosenöffners) unter ihrem Schreibtisch verschwinden ließ. Der Antragsteller war übrigens nicht zwangsläufig derselbe, der ihre Gehaltserhöhung rechtsgültig abgelehnt hatte. Doch hatte sich die Abneigung der Verwaltungsfachangestellten gegenüber ihren KollegInnen so sehr manifestiert, dass sie ihren Dienst prophylaktisch in jeder Sache verweigerte.
Solche und ähnliche Geschichten passierten nun tausendfach auf der "Verwaltungsinsel", so dass am Ende alle Abläufe einer geregelten Gesellschaft ins Stocken gerieten. Die Regierung sah ein, dass es so kommen musste: Es ist niemals gut, domestizierte Wesen einfach in der freien Wildbahn auszusetzen, ohne sie in die Gefahren ihrer ureigensten Natur einzuweisen.
Die Insel ist übrigens für Jahrzehnte unbewohnbar, da einsetzende Regenfälle die im Laufe der Zeit entstandene Papierwüste in eine unwirtliche und nicht zu bewirtschaftende Pappmaschee- Landschaft verwandelt hatten.
Heute überlegt die Regierung übrigens ernsthaft, ob sie nicht die letzten Arbeitgeber auf ein anderes einsames Eiland verbringen soll. Sie könnten sich dort so wunderbar gegenseitig ausbeuten und ihre Erträge in taumelnde Höhen treiben. Die BürgerInnen des Landes wären hocherfreut: Das Leben würde dadurch so viel leichter und die Arbeit brächte vielleicht endlich wieder etwas Freude.

HEK 29. Juli 2007