Sonntag, 26. August 2012

Haare


Bender erschrak. Gerade hatte er sich die Bilder der Konfirmation seiner Tochter angeschaut, als er sich auf einem Bild inmitten der Gäste erkannte. Das heißt, zuerst erkannte er sich nicht. Schließlich war die Person von hinten fotographiert, umgeben von Kolleginnen und Kollegen, was Bender erstaunt hatte. Wer mochte die Person mit der lichten Stelle am Hinterkopf wohl sein, die sich da angeregt mit Frau Griese von der Personalverwaltung unterhält? Erst Benders Frau konnte für Aufklärung sorgen: Hennek, das bist doch Du!

Es überraschte Bender nicht sehr, dass er sich selbst von hinten fotografiert nicht erkannt hatte. Das würde wahrscheinlich jedem passieren, insofern man wie er eine unauffällige Frisur sowie ausschließlich neutrale Kleidung trägt. Auch hatte er sich nie besonders mit seiner Statur beschäftigt. Er war eben nicht besonders groß und leicht untersetzt. Wie viele Männer in seinem Alter war Bender vollkommen unauffällig. Das machte ihn verwechselbar. Irritiert hat ihn vor allem die lichte Stelle am Hinterkopf. Die war ihm selbst an sich selbst nie aufgefallen. Das teilte er Marie abends im Bett mit.

Es ist ja nicht so, dass ich eine Glatze besonders schlimm fände, begann er seinen Monolog. Marie schmunzelte verächtlich. Eine Glatze, dafür kann man ja nichts. Es passiert vielen, dass ihnen ab einem gewissen Alter die Haare ausfallen. Ich aber habe davon gar nichts bemerkt. Normalerweise merkt man es doch beim Duschen, wenn die Haare ausfallen. Oder spätestens beim Kämmen, und wenn dann nicht, dann bleiben sie vielleicht am Kragen oder auf der Schulter hängen. Am Jackett oder sonstwo. Marie gähnte.

Bender hob erneut an: Nun, man schaut sich ja auch selten von hinten an. Neulich, in der Anprobe, habe ich einen jungen Mann gesehen, der nachgeschaut hat, ob die Hosen am Hintern gut sitzen. Ich fand das gewöhnungsbedürftig, soviel Eitelkeit. Aber auch er hat sich nur auf den Hintern geglotzt, nicht auf den Hinterkopf. Inwiefern ist also ein Mann in der Lage, bei sich selbst Haarausfall am Hinterkopf zu diagnostizieren? Er schubbste Marie leicht mit dem Ellbogen an, die daraufhin erwachte, sich pflichtschuldigst aufsetzte und benommen fragte: Waa-as? Ich habe Dich gefragt, inwiefern ein Mann in der Lage ist, bei sich selbst Haarausfall am Hinterkopf zu entdecken, wiederholte Bender.

Och Hennek, ich bin müde. Lass mich schlafen! Doch Bender gab nicht auf. Ich sage Dir, wie ein Mann seinen beginnenden Haarausfall entdecken könnte: Seine direkte Umgebung zum Beispiel könnte ihn darauf hinweisen. Sie könnte sagen: Schau, Hennek, da hinten an Deinem Kopf ist eine kahle Stelle, das sieht doof aus, mach was dagegen. Es könnten Freunde sein, die mir das sagen. Es könnte mit großer Wahrscheinlichkeit mein Friseur sein. Aber wenn die alle nichts sagen, dann müsste mich wenigstens meine Frau über den Zustand meiner Haarpracht informieren. Und dann?, wollte die gelangweilte Marie wissen. Was hättest Du mit dieser Information angefangen?

Ich hätte mir womöglich die Haare ganz kurz geschnitten. Auf keinen Fall hätte ich probiert, die kahle Stelle mit anderem Haar zu verwurschteln. Ich wäre ehrlich mit meinem Haarausfall umgegangen. Aber so sehe ich doch völlig lächerlich aus. Mein Kopf sieht von hinten aus, als hätte man ihn geplättet. Wie eine Flunder. Wie ein abgenutzter Flokati. Mit so einem Hinterkopf macht man sich überall lächerlich. Der Chef schaut einen an und sagt: Sieh an, der Bender, ein patenter Kerl eigentlich. Aber jetzt tut er so als habe er keine Glatze. Das zeugt nicht von Haltung. Den kann ich nicht befördern. Oder die Kollegen: Die machen sich womöglich über mich lustig, wenn ich den Raum verlasse.

Im Nachhinein wurde Bender vieles klar. Er fühlte sich tatsächlich bei der letzten Beförderung übergangen. Hinzu kam: Neuerdings waren die Kollegen immer so seltsam gut gelaunt, sie lachten viel und verstummten dann, wenn er den Raum betrat. Nachdem er wieder ging, setzten sie ihre Gespräche oft gutgelaunt fort. Klopfte ihm nicht der kahlrasierte Müller einmal sogar gönnerhaft auf die Schulter? Gab es vielleicht ein Komplott gegen ihn? Und war sein Friseur zu Anfang der letzten Sitzungen nicht gesprächig wie immer, wurde aber dann plötzlich still und konzentriert, sobald er sich um Benders Hinterkopf kümmerte? Und schließlich seine Frau, Marie: Sie schliefen kaum noch miteinander. Ekelte sie sich vielleicht vor seiner Glatze? Vermutete sie, dass mit dem allmählichen Verlust der Haarpracht auch die Manneskraft abhanden käme, wie weiland Samson?

Am meisten verärgert war Bender über die Tatsache, dass ihn niemand auf sein Malheur hingewiesen hatte. Als zögen alle einen Vorteil daraus, solange er nur in Unkenntnis darüber bliebe. Als schöpften sie Kraft aus dem Verlust seiner Haare. Genau so musste es gewesen sein. Da half auch nicht, dass Marie beteuerte, sie habe gedacht, er wüsste bescheid über den Zustand seines Hinterkopfes. Sie habe das Thema nur aus Rücksicht auf ihn nicht angesprochen, schließlich wolle sie ihn nicht verletzen. Daher habe sie so getan, als sei nichts gewesen. Und das mit seinen Kollegen, bitteschön: Das bilde er sich ein und zeige nur, wie recht sie hatte bezüglich seiner Empfindlichkeit.

Bender verließ das eheliche Bett im Streit, zog sich an und machte sich auf den Weg in die nächstbeste Bar. Zuerst steuerte er in die Kneipe um die Ecke, fand aber die desolaten Gestalten an der Theke nicht anziehend. Deshalb vermaß er den Kiez, in dem er seit 15 Jahren lebte und niemals ausging, neu. Zum ersten Mal sah er, was sich dort überhaupt ereignete. In die ehedem karge, graue Schlafstadt war allmählich eine Lebendigkeit eingekehrt, die ihm zuvor entgangen war. Wollten ihn alte Freunde in Berlin einmal besuchen, um dort etwas zu erleben, wiegelte er oft ab: In seinem Kiez sei absolute tote Hose, da gäbe es gar nichts, und sie sollten sich lieber ein Gästezimmer in einem der Szenekieze nehmen. Bender hatte sie allesamt versehentlich angelogen: Er lebte längst in einem Szenekiez. Es war ihm nur bei all der Arbeit und dem Familienleben nicht aufgefallen.

Da war sein Spätkauf, in dem er allmorgentlich seinen Coffee to go holte, bevor er dann im Innern der U-Bahn verschwand und erst nach 20 Minuten wieder aus dem Boden auftauchte. Dort verbrachte er den Tag mit Verwaltungstätigkeiten. Dann verschwand er unter der Erde, tauchte wieder auf und holte sich am selben Spätkauf eine Zeitung, bevor er sich nach Hause begab. Um dort zuerst die Zeitung zu lesen und beiläufig Stefan, seinem ältesten Sohn, und Melanie, seiner konfirmierten Tochter, zuzunicken und ihnen ggf. etwas zuzugrummeln. Dann kochte Marie was, und alle aßen still, während der Fernsehapparat das Esszimmer erleuchtete. Wochenends gab es anfangs noch Ausflüge. Doch wegen des jugendlichen Desinteresses an allem seitens der Kinder unterließ man später auch das und war froh, wenn sie lange (jedoch nicht zu lange) aus dem Haus gingen und man seine Ruhe hatte.

Kurz: Benders geregeltes Leben gab es nicht her, abends um die Häuser zu ziehen und mit Freunden die Neuerungen innerhalb des eigenen Kiezes zu bestaunen. Zumal sich die Freundschaften auf den Kollegenkreis beschränkten und bei genauerer Betrachtung auch das keine richtigen Freundschaften waren, sondern eher vielleicht Bekanntschaften? Menschen eben, die man zu Konfirmationen einlud und mit denen man sich mehr oder minder freiwillig ins Restaurant verabredete. Und nun wagte sich Bender zum ersten Mal seit Jahren über die selbst gesetzten Grenzen seines Kiezes hinweg und spürte das pulsierende Leben und das Flimmern der Jugend. Wie muss es Alice gegangen sein, als sie der elterlichen Strenge durch den Spiegel floh.

Bar an Bar säumte die Straße. Bender neidete das vorwiegend junge Publikum, das dort eng beisammen saß oder flanierte, oft ineinander gehakt und laut lachend, mit alkoholischen Getränken in der Hand, die selbstbewusst an- und dann mit ausladenden Gesten wieder abgesetzt wurden. Dieser Elan begeisterte ihn. Diese jungen Menschen hatten noch keine Vorstellung von der Ernsthaftigkeit des Lebens. Leid und Kummer kannten sie kaum, und falls doch, war die Halbwertszeit nur kurz. Sie prahlten und protzten mit ihrer kaum erwachten Sexualität und ihren unerforschten Körpern, frei von allen Makeln des Alters und der Vergänglichkeit.

Bender schaute an sich herunter und fühlte sich unendlich alt. Gleichsam wähnte er sich betrogen und beraubt seiner eigenen Jugend, die er plötzlich für verplempert hielt. Verplempert mit Gedanken an den Beruf und die Familie, vergeudet mit der Tristesse des Alltags. Schlafen, Arbeiten, Essen. Der Rhythmus eines Biedermannes. Und während all dieser Zeit verliert er unbemerkt seine Haare, und was noch schlimmer ist: Die eigene Frau verliert das Interesse an ihm. Und wie ist es hier, in dieser atmenden, schwitzenden Welt der Jugend? Freilich, auch die jungen Leute sind vorwiegend an sich selbst interessiert. Doch brauchen sie stets einander, um sich selbst erkennen zu können. Die Altersgenossen sind der Spiegel, und das macht sie zu echten, interessierten und mitteilsamen Freunden. Wie er seine eigenen Kinder doch um ihre Jugend beneidete, und wie sehr er verstehen konnte, dass sie die familiäre Enge nicht oft genug verlassen konnten.

Und da stand Bender nun inmitten des Chaos und des Lärms und war fassungslos bis glücklich. Es machte ihm nichts aus, wenn er hie und da einmal angerempelt wurde, er wollte nur dieses Flair einatmen und ein Teil des Ganzen werden. He, Opa, aus dem Weg! Was iss'n mit Dir? Bender schaute irritiert auf. Er blickte auf ein hübsches Mädchen, vielleicht Anfang zwanzig, bei ihr vier nicht minder hübsche Begleiterinnen. Willste 'n Schluck? Bender nickte und setzte die Flasche an. Klebrigsüßes mit einem Schuss Alkohol rann ihm die Kehle herunter. Er wischte sich den Mund und gab die Flasche zurück. Was ist das?, wollte er wissen. Wodka RedBull, mit Zeug drin!, lachte das Mädchen und ging weiter. Mach's gut, Opa! Und pass' auf Dich auf!, rief ein anderes. Alle fünf lachten lauthals.

Bender ging kopfschüttelnd, aber erheitert, weiter. Er hatte sich dazu entschieden, sich in einer der stilvolleren Bars zu betrinken. Er war einigermaßen überrascht, wie sehr ihn der Schluck aus der Flasche betrunken gemacht hat. Nur wenige Minuten später kam der erste Schwindel, und er begann die Umgebung allmählich in seltsamen Farben zu betrachten und hatte auch den leisen Verdacht, Dinge zu sehen, die es im Grunde gar nicht gab. Höllisches Zeug, dachte er und wollte mehr davon. Als er endlich eine angenehme und doch belebte Bar fand, kehrte er ein. Es hatte ich eigentlich nicht viel geändert seit damals, als er nach Berlin kam. Immer noch spielten Lichtprojektionen eine große Rolle, und die Musik hatte sich in den letzten zwanzig Jahren nicht wesentlich geändert. Die Einrichtung war immer noch improvisiert, cordbezogene Cocktailsessel standen nebst Plastikstühlen und abgeranzten Nierentischchen. Selbst das Personal gab sich ähnlich desinteressiert wie damals.

Er bestellte einen Wodka RedBull und wunderte sich, wie wenig dieser Drink dem vorangegangenen in der Wirkung ähnelte. Möglicherweise war die Mischung zu schwach. Also bat er der Barkeeper, doch etwas mehr Zeug in den Drink zu mischen. Ey Alter, was hast'n Du für'n Problem. Was für Zeug? Bender gab sich hartnäckig: Na Zeug eben. Wenn Du's nicht weißt, woher soll ich's dann wissen? Der Barkeeper grummelte etwas in den Lärm hinein: Wenn du meinst. Macht aber 20 Euro extra! Bender nickte, und da legte der Barkeeper ein Tütchen mit einer Pille darinnen auf die Theke, hieb mit einem Hammer darauf ein und überreichte es Bender mit den Worten: Wohl bekomm's! Bender zahlte und rührte die pulverisierte Masse in seinen Drink.

Er fühlte sich herrlich. Bender saß in einem bequemen Sessel und betrachtete selig grinsend das Treiben um sich herum. Die Bässe wummerten angenehm in der Magengegend, und die hübschen Gesichter der Mädchen wärmten sein Herz. Es war ihm nicht unangenehm, dass er ganz offensichtlich als Kuriosum wahrgenommen wurden. Besser, ein Dirty Ol' Man als niemand zu sein, dachte er zufrieden. Unter seinesgleichen war Bender unauffällig und farblos. Hier unter den Jungen, Bunten und Schrillen war er ein Exot. Nur manchmal schienen ihm die Farben etwas zu schrilll, und die Gesichter der Mädchen verzerrten sich ab und an zu Fratzen. Aber dann verwandelten sie sich zu Vögeln, die meisten in Fasane und Paradiesvögel, andere in Krähen und nur wenige in Puten. Das war lustig und auch ein wenig beängstigend.

Bender verspürte plötzlichen Harndrang. Da begab er sich zur Toilette und stellte sich an ein Pissoir. Mit einer Hand musste er sich an der Wand festhalten, während er mit der anderen versuchte, den Reißverschluss zu öffnen. Es gelang. Als sich jedoch ein junger Mann zu ihm stellte und sein Ding aus der Hose holte, da war das kein Penis, sondern ein winzig kleiner Hund, der ihn mit einem großen Auge anstarrte und ankläffte. Bender zog sich erschrocken zurück und suchte panisch Zuflucht in einer freien Kabine. Er schloss ab, drehte sich um und hob die Klobrille an. Er entleerte sich, während er angestrengt versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Alles drehte sich, als er seinem Urin hinterher sah. Dann wurde es Nacht um Bender.

Als er wieder erwachte, fand er sich völlig verkrümmt am Boden liegend, wieder. Ein Fuß schaute zur Kabinentür heraus, sein Kopf lag schräg und eingeknickt an der gekachelten Wand. Der Unterkiefer hing im rechten Winkel zum Boden, er sabberte aus dem linken Mundwinkel. Eine Hand hing in der Schüssel, die andere lag unter seinem Körper in etwas Feuchtem. Benders Penis hing schlaff aus der Hose. Um ihn herum hatte sich ein großer, nasser Fleck gebildet. Alles tat ihm weh. Er richtete sich langsam auf, indem er sich an allem abstützte, was in greifbarer Nähe war. Dann säuberte er sich notdürftig mit Toilettenpapier, verstauten seinen Penis in der Hose, zog den Reißverschluss zu und verließ so souverän wie möglich die Kabine.

Bender begab sich zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Um sich zu erfrischen, benetzte er sein Gesicht mit Wasser. Da bemerkte er, dass er großen Durst hatte. Er war völlig augetrocknet. Daher trank er ein paar kräftige Schlucke aus der Leitung. Der Durst wurde jedoch nicht besser. Erst nach mehrmaligem Trinken stellte er fest, dass das trockene, raue Gefühl in seinem Rachen nicht vom Durst stammt. Irgendetwas hing in seinem Schlund und behinderte ihn beim Schlucken. Bender griff mit den Fingern in die Mundhöhle und versuchte den Gegenstand zu greifen. Nach einigen Fehlversuchen wurde ihm klar, dass ihm ein Haar halb in der Speiseröhre, halb im Mundinnenraum steckte. Er versuchte es erneut. Und dieses Mal gelang es ihm endlich, das glitschige Haar zu ergreifen.

Bender hatte Angst, dass es reißt, bevor er es völlig entfernt hatte. Er zog deshalb sehr sachte daran und spürte endlich, wie sich tief in der Speiseröhre etwas wie ein Faden spannte und langsam nach oben glitt. Also zog Bender weiter und weiter. Das Haar ragte schon so weit aus seinem Mund heraus, dass er nachfassen musste. Es schien kein Ende zu nehmen. Dann, nach einigen Dezimetern, verstärkte sich das Gefühl im Rachen, und am ursprünglichen Haar hingen weitere Haare, verknotet ineinander und verwoben miteinander. Bender zog mittlerweile panisch weiter und weiter. Seine Eingeweide schienen wie betäubt von der schabenden Bewegung, die er in Gang gesetzt hatte. Meter für Meter zog er den stinkenden, mit Talg versetzten und allmählich dicker werdenden Zopf aus seinem Schlund.

HEK 2012

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