S grauste es geradezu vor der aufdringlichen Schokoladenfüllung in den ohnehin schon vor Fett triefenden Croissants. Dieser harte Schmelz von erstarrtem Zartbitter, der sich nur ungut mit dem feinen Blätterteig in seinem Mund vermengen mochte, hatte in ihm einmal eine solche Übelkeit verursacht, dass es ihn nun jedesmal schüttelte, wenn er das fiese Backwerk auch nur aus der Ferne sah. S bevorzugte ganz klar das einfache Butter-Croissant, und wenn es schon gefüllt sein musste, dann bitte mit Marzipan! Die weiche Konsistenz des Mandelextrakts hatte gar nichts Erschreckendes an sich, und das war gut.
Nun wollte S aber auch nicht undankbar P gegenüber erscheinen. Er durfte sich seinen Ekel im Moment der morgendlichen Überrumpelung nicht anmerken lassen. P meinte es (siehe oben) einfach nur gut und wollte ihm eine Freude machen. Das durfte man auf keinen Fall vergessen! Also blieb S höflich und unterband den Würgreflex so gut es ging, hustete einmal kurz, ganz so als sei er erkältet, und verkündete mit freudigster Miene, er wolle den Schoko-Croissant später verspeisen, wenn er unterwegs sei in der Stadt und einmal eine Rast brauchte. Nun aber sei es ihm mehr nach etwas Herzhaftem. Also griff S zu einem Körnerbrötchen, schnitt es auf und belegte es mit etwas Salami. Das war gerade noch gut gegangen, dachte S selig kauend vor sich hin.
Als er etwas später in die Stadt ging, vergaß er das fiese Backwerk bald. Erst, als er sich etwas unter einer Weide ausruhen wollte und er in seiner Tasche nach einem Getränk suchte, fand er die fettfleckige Papiertüte mitsamt Inhalt. Er stieß sie angewidert zurück in die Tiefen seiner MessengerBag, trank einen Schluck und schickte sich an, das elende Croissant los zu werden. Er hätte es ja auch einfach wegwerfen können, aber das brachte S einfach nicht fertig. Es war die verfluchte Erziehung gewesen und was sie aus ihm gemacht hatte.
Eine erhellende Anekdote zu S' Verhältnis zu Lebensmitteln
Als Kind einer Familie mit Nachkriegserfahrung musste S seinen Teller immer vollständig aufessen. Tagsüber war das nicht so schlimm, die Mutter drückte gerne mal ein Auge zu und verstaute das nicht fertig gegessene Essen im Kühlschrank. Spätestens zum Abendbrot aber, wenn der Vater von der Arbeit zurück war, wurde das übrige Mittagessen aufgewärmt, das S dann vertilgen musste. Damit aber nicht genug forderte der Vater, S möge auch noch eine Butterstulle essen. Nach dem Krieg wären die Zeiten so hart gewesen, das man hätte froh sein können um jeden zusätzlichen Bissen. Außerdem sehe er es nicht ein, das S sein Mittagessen in den Abend hinein verschob und deshalb das Abendbrot verschmähte.
S musste also so lange am Esstisch sitzen bleiben, bis er auch seine Butterstulle gegessen hatte. Irgendwann einmal saß er aber so lange verzweifelt und satt vor seinem Teller, dass es dem Vater zuviel wurde und er lieber Sport schauen wollte. Diese Gelegenheit ergriff S, um seine Butterstulle hinter die Küchenzeile zu stecken. Nach einer viertel Stunde ging er ins elterliche Wohnzimmer und verkündete, er habe sein Abendbrot nun gegessen. Der Vater brummte zufrieden.
Diesen Trick behielt S dann ein halbes Jahr bei, vielleicht sogar noch etwas länger: Er wartete, bis es dem Vater zu lange wurde, stopfte sein Brot hinter die Küchenzeile und wartete eine angemessene Zeit ab, um seinen Gehorsam pflichtschuldigst zu melden. Alle waren zufrieden, bis die Eltern entschieden, dass eine neue Küche her müsse. S war nicht eingeweiht, aber als er eines Tages aus der Schule zurückkam, war die neue Küche eingebaut. Die Mutter starrte ihn feindselig an, sagte aber nichts.
Als die Mutter nämlich während des Abbaus der alten Küche die Menge an verwesten Butterstullen dahinter sah, war ihr Ärger groß. Das war selbst ihr zuviel, wenn Lebensmittel einfach fortgeworfen wurden. Als der Vater abends nach Hause kam, erzählte sie es ihm sofort, woraufhin der Vater bitterböse wurde und S ordentlich den Hintern versohlte. Fortan bleib der Vater so lange am Tisch sitzen, bis S sein Abendbrot verspeist hatte, und noch dazu drängte er auf ein baldiges Aufessen, denn die Sportschau wartete nicht. So kann man es also erklären, dass S bis heute keine Lebensmittel wegzuwerfen vermochte.
Und deswegen versuchte S an jenem verhängnisvollen Tag, sein Schoko-Croissant einfach zu verschenken. Er dachte da an die vielen Menschen, denen es mangels Broterwerb nicht gelang, selbst für ein Mahl zu sorgen. Doch verschmähten selbst diese Leute das fiese Backwerk und wollten lieber etwas Kleingeld. S konnte das gut verstehen, und nach ein paar Versuchen gab er sein Ansinnen auf. Einfache Passanten hingegen schauten nur misstrauisch zurück, wenn S ihnen sein Croissant feil bot. Also steckte er die fettfleckige Papiertüte wieder ein und fühlte sich ein wenig hilflos.
Als S sich später mit Freunden zum Bier traf, und einige darunter sogar hungrig waren, sah er seine Chance. Doch auch diese winkten nur ab und bestellten lieber eine Pizza um die Ecke. Sie wollten nicht unhöflich sein und schätzten seine Geste, doch sei ihnen im Moment mehr nach etwas Herzhaftem. Verdrießlich fand S sich damit ab, dass er das fiese Backwerk bis zum jüngsten Tag in seiner Tasche herumtragen musste. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als die Tasche mitsamt ihres unappetitlichen Inhalts irgendwo zu lagern, am Besten wohl im heimischen Keller. Jedenfalls so lange, bis das Croissant zu Staub zerfallen wäre. Wie lange das wohl dauern mochte?
Es wurde dennoch ein fröhlicher Abend, mit viel Bier und entspanntem Gelächter. S hätte das Croissant wohl vollkommen vergessen, wenn nicht P viel später dazu gestoßen wäre und verkündet hätte, dass er etwas hungrig sei. Die heitere Runde verwies P seltsam erleichtert auf jenes ominöse Schoko-Croissant, das S in seiner Tasche mit sich führe und jedem anböte, der nicht bei drei auf den Bäumen sei.
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