Dienstag, 22. Dezember 2009

Moralist! Fortgesetzt!

Es war dann so, dass ich zu einem ordentlichen Bußgeld verdonnert wurde, da ich ja die Straßenbahn so ganz ohne gültigen Fahrschein genutzt und dann auch noch den Kontrolleuren erbitterten Widerstand geleistet hatte. Man wies mich darauf hin, dass mich eine zweite solche Verfehlung zur unerwünschten Person machen würde und ich niemals wieder eine Straßenbahn ortsintern würde benutzen dürfen.

Um dem vorzubeugen, entschloss ich mich dazu, erst gar keine ortsinterne Straßenbahn mehr zu benutzen. Erstens würde man mich darin sofort wieder erkennen und mit dem Finger auf mich zeigen. Das wäre mir unangenehm gewesen. Zweitens hatte ich Furcht, aus ähnlich moralisch zweifelhaften Gründen wie kürzlich, denselben Faux Pas wieder zu begehen. Und damit wäre ich für die Gemeinde einfach nicht mehr zu ertragen gewesen, ich hätte den Wohnort wechseln müssen, und mit dem üblen Leumund im Nacken wäre auch dort ein Neustart beinahe unmöglich gewesen.

Deswegen entschied ich mich dazu, notwendige Wege einfach zu Fuß zu gehen. Damit war allen gedient: Dem örtlichen Nahverkehrsbetrieb, der Bevölkerung und natürlich mir selbst. Der Versuchung zu widerstehen hieß letztendlich, die Versuchung zu umgehen. Ich war ein trockener Schwarzfahrer, den eine einfache Bahnfahrt hätte rückfällig machen können.

Als ich dann wieder einmal einen wichtigen Termin in der Stadt hatte, machte ich mich auf den Weg. Anfangs ging es auch gut voran. Doch dann, ich nahm eine Abkürzung durch den Park, stand ich abermals vor einer ernsten Situation: Während ich da so nichtsahnend vor mich hin lief, beinahe heiter, stand da ein großer schwarzer Hund vor mir und wollte mich gar nicht vorbei lassen. Schon überlegte ich, ob ich nicht einen Schlenker über den Rasen machen sollte, um die Blockade zu umgehen. Doch leider war das Betreten des Rasens verboten, und ich wollte mich nicht schon wieder mit Ordnungskräften jedweder Art anlegen.

Besser schien es tatsächlich, sich der Bedrohung zu stellen, sogar konstruktiv mit ihr umzugehen. Ich hielt Ausschau nach dem Halter des Hundes. Ein paar Meter entfernt sah ich den einzigen Menschen weit und breit. In seiner Rechten baumelte eine Hundeleine, in seiner Linken hielt er ein Mobilfunktelefon. Er unterhielt sich angeregt und war wohl gerade nicht ansprechbar. Also wartete ich ein paar Minuten. Ich war mir aber auch nicht richtig sicher, ob der Hund dem Mann tatsächlich gehörte. Vielleicht handelte es sich ja um einen neuen Modespaß, eine Hundeleine um das Handgelenk geschlungen zu tragen. Heutzutage war ja alles möglich.

Dann wurde ich jedoch ungeduldig, ich hatte ja einen wichtigen Termin einzuhalten. Deshalb rief ich dem Mann zaghaft zu, ob es denn sein Hund sei, der mir den Weg verwehrte, und wenn ja, ob es denn bitte möglich sei, seinen Hund zu sich zu holen, damit ich passieren könne. Doch der Mann reagierte zunächst überhaupt nicht. Dann rief ich, mit zitternder Stimme zwar, etwas lauter. Der Mann verdrehte die Augen, hielt das Mobilfunkmikrofon mit der Hundeleinenhand zu und entgegnete mir, ich solle doch an dem Hund vorbei laufen, er würde mir schon nichts tun. Ich war mir nicht wirklich sicher, ob ich einem fremden Mann ungeprüft Glauben schenken durfte, und blieb zunächst einfach stehen. Ich wiederholte mein Anliegen ängstlich, doch der Mann war wieder in sein Telefongespräch vertieft und schien mich nicht zu hören.

So stand ich nun eine ganze Weile, und nichts bewegte sich. Ich hatte nun doch wirklich keine Zeit mehr, und so keimte in mir der Gedanke, die Alternative mit dem Umweg über den Rasen unter Umgehung der verbotenen Betretung desselben zu ergreifen. Leider tat ich dies dann so hektisch, dass der Hund wohl erschrocken war und nach meiner Hand schnappte, wobei ich diese panisch zurückzog und dem Hund mit der daran befindlichen Tasche versehentlich auf die Schnauze schlug. Er missinterpretierte dies als Angriff, sprang mich an und warf mich zu Boden, woraufhin er sich in meinem Arm fest biss.

Endlich kam auch der Hundehalter hinzu und schimpfte mit mir: Was ich denn hier mit seinem Hund veranstalte? Ob ich denn nichts anderes zu tun hätte, als seinen lieben Freund zu ärgern und zu nötigen? Darauf hatte ich, wohl auch wegen des Schmerzes in meinem Arm und der ganzen Panik, die mich anheim fiel, nichts weiter zu entgegnen. Der Hundehalter beendete sein Telefongespräch wütend, und mir tat alles sofort leid. Immer machte ich alles verkehrt.

Ich bat ihn trotzdem, den Hund doch bitte von mir fort zu nehmen, was dem Hundehalter allerdings nicht ganz leicht fiel, da der sich ziemlich an meinem Arm fest gebissen hatte, einerseits, und andererseits, weil es ihm wohl ganz gut gefiel, wie sein Hund mit seinem Peiniger umging. Aber letztendlich wollte er wahrscheinlich verhindern, dass das Tier durch ein allzu ruppiges Fortziehen in seinem Beißverhalten traumatisiert würde.

Als es ihm endlich doch noch gelang, das Tier von mir zu befreien, bemaß er mich eines strafenden Blickes. So was hätte er nun noch nicht erlebt. So etwas dämliches. Ob ich denn nicht um die Natur des Tieres wisse? Ob ich denn nicht etwas aufpassen könne? Sofort entschuldigte ich mich bei dem Mann. Es täte mir leid, dass er sein Telefongespräch wegen meiner Person habe beenden müssen. Ich selbst habe aus purem Egoismus, bloß weil ich nicht zu spät zu meinem Termin habe kommen wollen, den Hund samt seinem Halter in eine unzumutbare Situation gebracht. Warum musste ich auch durch den Park gehen, wo ich doch wusste, dass man dort gerne seinen Hund von der Leine ließe? Was habe ich mir nur dabei gedacht?

Jeder wisse doch, dass Hunde Angst und Unsicherheit wittern. Allein meine Unfähigkeit, diese Gefühle zu verbergen und stattdessen dominantes Verhalten zu zeigen, woraufhin der Hund bestimmt gekuscht hätte, hatte mir dieses Unglück eingebracht. Ihn, den Hundehalter, treffe ganz gewiss keine Schuld. Allein mein unangebrachtes Verhalten sei dafür verantwortlich. Es wäre mir überaus unangenehm, würde er, der Hundehalter, meiner Tollpatschigkeit wegen Schuldgefühle davontragen. Gar nicht zu sprechen von dem psychischen Schaden, den der Hund bestimmt erlitten habe. Wie ich dies bloß wieder gutmachen könne?

Mir blieb nur eines: Mit meinem gesunden Arm zog ich die Brieftasche aus meinem Mantel. Der Hundehalter blickte sich verstohlen um, dann nahm er mir die ganze Brieftasche weg und verschwand, nicht aber ohne mich vorher noch einmal als Tierquäler zu beschimpfen und zu konstatieren, wie recht mir geschehe, und überhaupt: hoffentlich müsse mir der Arm amputiert werden. Ich fand, sein Ärger war durchaus gerechtfertigt. Ich würde wohl in Zukunft noch besser aufpassen müssen. Solche Fehler durften mir einfach nicht mehr passieren.

Hernach fiel mir ein, dass ich ja noch etwas zu erledigen hatte. Doch zuerst musste ich mich noch etwas herrichten. Ich konnte unmöglich verspätet und mit blutendem Arm zu meinem Termin erscheinen. Was sollten die Leute von mir denken? Man hatte ja ohnehin schon ein wachsames Auge auf mich geworfen. Da musste ich mich wohl oder übel doppelt, nein dreifach anstrengen, um mich wieder akkreditieren zu können. Ich zog also ein Taschentuch aus meiner Brusttasche und versuchte die selbstverschuldete Wunde notdürftig zu versorgen.

In jenem Moment aber trat ein Polizist auf mich zu und sprach mich an. Was ich denn hier machen würde? Ob mir klar sei, dass ich mich in unerlaubter Weise auf der Wiese aufhalte? Hier stünde doch klar und deutlich „Betreten Verboten!“. Ob mich die öffentliche Ordnung denn gar nicht interessiere? Er wolle bitteschön einmal meinen Ausweis sehen. Da ich keinen vorzeigen konnte, bezichtigte er mich der Landstreicherei und sprach einen Platzverweis aus. Dieses Mal hätte ich aber noch Glück gehabt, rief er mir hinterher. Beim nächsten Mal müsste ich einen ordentlichen Batzen Bußgeld entrichten. Mit solchem Gesocks wie mir habe er aber auch noch ganz andere Pläne, falls ich wisse, was er meine.

Montag, 9. November 2009

Kontrollbegabt.

Kronos schenkte der Welt die Zeit. Zeus, sein Sohn, entmannte ihn SPÄTER. Selber Schuld!
Einen Frieden finden
wenn es mal wieder länger dauert
und die Musik Gedanken stillt
an der Zitzen der Zeit

Komplikationen schnaufen im Rhythmus
ich, die Galeere, die Ruder
am Ruder die Hand, an der Hand der Arm
und am Arm der Körper beugt

sich schwer nach Vorne und zurück
Reaktion statt Aktion
Das ist nicht gut. Nein, gar nicht gut
Einen Frieden finden in den Gezeiten

Auf dass der Rhythmus meinig wird
und ich steu're das Boot
in den sich'ren Hafen kontrollbegabt
Beherrscher der Zeit

In den Tag hinein.

Darf ich mich zu Ihnen setzen? Bort, der sich bis eben noch am Tresen festhalten musste, damit er nicht gänzlich vom Barhocker fallen konnte, setzt das besoffenste Lächeln auf, das man sich nur vorstellen kann.

Bort ist ein Mann von beachtlicher Höhe. Und auch wenn es ihm innerlich an Tiefe mangelt, macht er dies wett durch stets korrekte und gut sitzende Kleidung. Selbst jetzt, da er sich volltrunken in einer Bar befindet, kann man ihm eine gewisse Attraktivität nicht absprechen.
Leider, das muss man so sagen, fühlten sich die Frauen durch Bort zuerst zwar angesprochen, doch wandten sich die meisten nach kurzer Zeit wieder ab: Er ist kein guter Plauderer, und auch das Zuhören fällt ihm schwer.

Langsam, beinahe vorsichtig dreht er den Kopf in jene Richtung, aus der er die weibliche Stimme vernommen hat und stellt dann folgendes fest: Es spricht tatsächlich jemand zu ihm, und es ist eine Frau, in jenem verlorenen Alter zwischen 30 und 40 Jahren, genauso wie er, Bort, zumindest fühlt er sich in diesem Alter so verloren, da ihm bewußt ist, dass es ihm an Perspektive mangelt, er die Unbefangenheit der Jugend schon lange abgelegt hat und sich dennoch nicht erwachsen genug fühlt, um das zu tun was man in seinem Alter eigentlich tut oder nach landläufiger Meinung tun sollte. Eher meint er zunehmend die Kontrolle über seinen schlaksigen Körper zu verlieren und versucht dem entgegenzuwirken, indem er elegante, maßgeschneiderte Anzüge aufträgt.

Bort grinst nun blöde, und als er dem Anliegen der Frau entsprechen will, nickt er ihr nur zu, wobei ihm der Kopf abzufallen scheint. Im Moment der Bewußtwerdung seines lächerlichen Zustandes hat er starke Zweifel daran, ob sie sein Einverständnis wahr nimmt und sich tatsächlich zu ihm setzt. Doch sie scheint sich daran nicht zu stören und nimmt Platz. Bort sieht: Dunkle, leicht gewellte, lange Haare, slawische Gesichtszüge mit den entsprechend weit auseinander stehenden Augen. Zu ihrem Gesicht trägt sie ein schlichtes, schwarzes, hochgeschlossenes Abendkleid, das ihr Dekolletee verbirgt und vielleicht gerade deshalb einen schönen Busen offenbart.

Sie lächelt ihn freundlich an und wartet eine Weile, die Augen fragend, wartend, auf irgendetwas, was Bort zu ihr sagen könnte. Was Borts Naturell entsprechend nicht passieren wird, da sein fieberhaft nach einem gesprächseinleitenden Satz suchendes Hirn blutet und seinen Verstand lähmt, seinen Mund in botoxhafter Weise offen stehen lässt.

Wenn Bort früher tatsächlich einmal in der Lage war, eine Frau aus zwar freien Stücken, aber nicht ganz freiem, weil geilem Willen anzusprechen, fehlte ihm am Ende jene notwendige Eloquenz, in ein profundes Gesprächsthema überzuleiten, wenn er zuvor irgendeine Banalität zum Besten gab, um überhaupt einmal zu eröffnen. Wie beim Schachspiel gelang es ihm nicht, die nötigen Züge zu tun, um zu gewinnen, obwohl er sich am Anfang stets gut schlug, sich sogar im Vorteil wähnte, aber dann aus lauter Ratlosigkeit eine Figur des Gegners nach der anderen weg schlug, bis das Spiel dadurch langweilig wurde, weil er die Situation zum Schluss nicht ausspielen konnte: Der König entwand sich immer wieder seinem Zugriff. Bort ist definitiv kein Fallensteller.

Mit Freunden hingegen gelang ihm die munterste Konversation, einmal angeregt war er kaum zu stoppen, ein Quell origineller Gedanken und Assoziationen. Dem anderen Geschlecht aber, zum Behufe der Partnerwahl, gegenüber versiegte dieser Fundus geistreicher Bonmots augenblicklich, da sich sein vegetatives Nervensystem auf Fluchtmodus einstellte. Hatte er dann auf ganzer Linie versagt und sich niedergeschlagen auf den Heimweg begeben, sprudelte die Quelle wieder und all die guten Dinge, die es zuvor zu sagen galt, wirbelten nutzlos, weil verspätet, in seinem Hirn umher.

Doch diese Frau, sie spricht nun zu ihm. Trotz seiner entfernten Gedanken und Unaufmerksamkeit genießt er ihre Anwesenheit, das weiche Timbre ihrer Stimme dringt in den Emotionen verarbeitenden Teil seiner Hirnwindungen. Daraufhin fühlt sich Bort geborgen. Zwar dämpft der Alkohol seine Wahrnehmung wie einst das Wasser in der Fruchtblase: warm und wohlig war's, das Herz, Blut pumpend pochend und die Außengeräusche waren gefiltert durch die Membran des Mutterbauches, erst nach der Geburt sollte Bort die Schrecken hochfrequenter Töne erfahren, welche den Bässen zwar erst Tiefe gaben, aber Bort ist nun einmal kein Mensch, der Fallhöhen zu schätzen weiß.

Vielleicht gerade weil er zeitlebens diese Mutterbaucherfahrung vermisst hat, sich in machen Zeiten in ihn zurückwünschte und wahrscheinlich deshalb die vaginale Nähe bei B. so intensiv gesucht hat – er wäre am liebsten ganz in ihr verschwunden statt nur mit seinem Teil – verbringt er sein Leben nun in dieser einen Bar, mit ihrem gedämpften Lichtern und Farben und Geräuschen. Er lebt sein Leben auf diesem Barhocker, haust hier, denkt, trinkt, trauert, erinnert.

Wie er B. kennenlernte, oder besser: sie ihn!
Wie sie eben nicht vor ihm zurück schrak, nachdem sie ihn erlebt hatte.

Wie sie eben doch eine Tiefe in ihm ergründen konnte oder sie ihm diese wenigstens nicht absprach.

Wie sie verliebt, vernarrt ineinander, die Kurzwarenabteilung im Kaufhaus durcheinander brachten, nur so zum Spaß.

Wie sie zusammen gezogen sind und auch noch den 100sten Abend lachend miteinander verbrachten.

Wie sie beide ihre Gerüche verströmten und in Leidenschaft sich selbst vergaßen.
Bort bestellt sich und seiner neuen Bekanntschaft noch ein Bier und einen trockenen Sekt. Sie prosten sich zu, stoßen an, und das, obwohl Glas und Flöte arge Feinde sind. Sie trinken auf ihr gemeinsames Wohl. Borts Kopf wird allmählich klarer, er kann nun wieder freihändig sitzen. Seine Hände braucht er nun zum Trinken, Rauchen, Erzählen. Die Zigarette hat er von der Frau. Sie macht ihn unbeschwert und schwebend, und er spricht von sich, von den Dingen, die er tut wenn er nicht von ihnen träumt, und von den Dingen, die er bereut, wenn er sie nicht tut. Sie hört ihm zu, lächelt an den richtigen Stellen – wenn Bort zum Beispiel amüsant wird – und zeigt krause Stirn, wenn Bort philosophisch wird.

Bort war glücklich mit B. Ihre Freunde störten sich vor allem an dieser gewissen Glückseligkeit, welche sich bei Verliebten nun mal einstellte. Obwohl sich die beiden allergrößte Mühe gaben, sich so natürlich wie möglich zu geben. Doch was ist natürlicher als ein Verhalten in Verliebtheit? Ihrer beider, früherer Normalität war schließlich einer neuen gewichen, sie waren verändert, hatten tief in ihrem Inneren versteckte Eigenschaften aus der Isolationshaft entlassen, ihre Persönlichkeiten aus der Eindimensionalität gerettet.

Als sie nicht mehr da war, hat er es zu Hause nicht mehr ausgehalten. In der gemeinsamen Wohnung erinnerte ihn alles an sie. Er hatte sich zunächst nicht getraut, die Bettwäsche zu waschen, weil ihr Duft noch darinnen war, doch gerade der Geruch war es, der ihm so arg zusetzte und seine Sehnsucht nur noch verstärkte. Doch er konnte sie nicht einfach auslöschen. Dann fand er, obwohl ihre persönlichen Dinge alle fort waren, doch immer wieder kleinste Gegenstände:
Unter dem Bett eine Haarspange

Einen ihrer Schlüpfer in der Kommode
Ein von ihr im gemeinsamen Urlaub gekauftes Essbesteck, welches den Weg von der oberen Schublade in die unterste gefunden hatte und sich in einem Emailletopf wiederfand

Eine Schallplatte in seiner Sammlung

Ein Parfümfläschchen unter dem Sofa

Haare in der Bürste

Briefe, Notizen, welche sie ihm im Laufe der Zeit schrieb
Und viele andere kleine Dinge, die großen Schmerz zu verursachen in der Lage sind. Die den Verlust spürbar machen. Er würde diesen Verlust nur überwinden können, wenn er alles hinter sich lassen würde. Deswegen ist er einfach gegangen, um fortan in einer Bar zu leben, in der sie beide niemals zuvor gewesen sind. Doch weil B. selbst dort ständig anwesend war, in seinen Gedanken, trinkt er. Nicht um zu vergessen, auch nicht um den Schmerz zu überwinden. Er weiß einfach nicht, was er sonst tun soll. Er trinkt auf B. und auf sein Leben mit ihr. Das Trinken ist ihm ein Akt reiner Festlichkeit geworden.
Hab' keine Angst, ich bin Dir nah.
Ein Lächeln, zärtlich. Ein Kuss, gehaucht.
Die Bar, an der Decke ein Lichtermeer.
Der Barmann ganz real, ein authentisches Klischee.
Im Licht des Tresens funkelt das Glas der Flaschen.
Im Spiegel dahinter ein verlorener Mensch und der bin ich.
Die Geräusche gedämpft, eine Musik so halbwahr wie der Mond.
Die Tür nach Draußen, eine Verheißung.
Dass jemand kommen kann.
Dass jemand gehen kann.
Gekommen ist jene Frau, mit der Bort nun spricht. Und während sie beide rauchen und erzählen, trinken, hat sie die Knie übereinander geschlagen, den Ellbogen am Tresen abgestellt, ihre Hand hält Zigarette und Kopf zugleich. Er hat immer wieder diesen einen Traum. Ob er ihn ihr erzählen darf. Sie stimmt zu.

In diesem Traum gelingt es mir beinahe zu fliegen. Dieses Gefühl dabei, es scheint mir ganz vertraut, real zu sein. In manch wachem Zustand glaube ich dann, ich könnte das. Doch muss es ein Traum gewesen sein. Wie ich laufe und mit meinen Füßen immer größere Schritte mache, bis ich den Boden fast nur mit den Fußspitzen berühre und aus Schritten Sprünge werden, immer und immer größer. Fast als sei die Schwerkraft vermindert, verlasse ich den Boden zwar nicht ganz, doch verbringe ich nun mehr Zeit in der Luft. Es ist kein Schweben, vielmehr ein schwereloses Hüpfen, ein Gefühl der Leichtigkeit auf schwierigem Gelände. Und wie in einem Traum Gerüche und Geschmäcker vertraut scheinen und ganz real scheinen, kann man sie, zurück in der Realität, jedoch nie eindeutig zuordnen. So will es auch mit dieser Form der Leichtigkeit sein. Ich scheine dies alles tatsächlich schon einmal erlebt zu haben, kenne aber weder das wann und das wo. Kann mich einfach nicht erinnern. Wie ein Astronaut in einem Filmstudio bin ich, im Schutzanzug zwar, doch geknechtet von der irdischen Physik.

Bort stockt. Er kramt sich umständlich eine Zigarette aus der Jackentasche, will sie sich anzünden. Sie sagt: Ich habe auch Träume, Deinen nicht ganz unähnlich. Doch das Feuerzeug entgleitet ihm aus besoffener Hand und fällt zu Boden. Ungeschickt und schwindlig steigt er vom Hocker, kniet, sucht und findet. Er erhebt sich wieder. Verlegen lächelt er die Frau an, während er sich aufrichtet. Doch da ist keine Frau mehr. Er setzt sich auf seinen Hocker und wartet. Bort trinkt aus und bestellt sich ein weiteres Bier, trinkt es mit einem Zug aus, bestellt gleich ein neues, trinkt langsamer. Es kommt niemand mehr. Er bezahlt und tritt zum ersten Mal, seit wie langer Zeit eigentlich, zur Tür hinaus und atmet frische Morgenluft. Bort zieht die Jacke zusammen und geht los, zuerst langsam und dann immer schneller, auf Zehenspitzen in den Tag hinein.

Donnerstag, 1. Oktober 2009

Die Croissant- Affäre

Als es P eines Morgens gut mit S meinte, da brachte er ihm zum gemeinsamen Frühstück nebst gemeinen Körnerbrötchen auch ein Schoko-Croissant mit. Der war gerade für ein paar Tage zu Besuch in der Stadt. Aus unerfindlichen Gründen, so S, musste P wohl gedacht haben, dass er, S, diese Geste der Freundschaft begrüßen würde, was er aber, S, diesbezüglich nur sehr uneigentlich tat. Für S stand ein Schoko-Croissant symbolisch für eine durch und durch verkommene Gesellschaft, welche Stil mit Dekadenz nur allzu gerne verwechselt.

S grauste es geradezu vor der aufdringlichen Schokoladenfüllung in den ohnehin schon vor Fett triefenden Croissants. Dieser harte Schmelz von erstarrtem Zartbitter, der sich nur ungut mit dem feinen Blätterteig in seinem Mund vermengen mochte, hatte in ihm einmal eine solche Übelkeit verursacht, dass es ihn nun jedesmal schüttelte, wenn er das fiese Backwerk auch nur aus der Ferne sah. S bevorzugte ganz klar das einfache Butter-Croissant, und wenn es schon gefüllt sein musste, dann bitte mit Marzipan! Die weiche Konsistenz des Mandelextrakts hatte gar nichts Erschreckendes an sich, und das war gut.

Nun wollte S aber auch nicht undankbar P gegenüber erscheinen. Er durfte sich seinen Ekel im Moment der morgendlichen Überrumpelung nicht anmerken lassen. P meinte es (siehe oben) einfach nur gut und wollte ihm eine Freude machen. Das durfte man auf keinen Fall vergessen! Also blieb S höflich und unterband den Würgreflex so gut es ging, hustete einmal kurz, ganz so als sei er erkältet, und verkündete mit freudigster Miene, er wolle den Schoko-Croissant später verspeisen, wenn er unterwegs sei in der Stadt und einmal eine Rast brauchte. Nun aber sei es ihm mehr nach etwas Herzhaftem. Also griff S zu einem Körnerbrötchen, schnitt es auf und belegte es mit etwas Salami. Das war gerade noch gut gegangen, dachte S selig kauend vor sich hin.

Als er etwas später in die Stadt ging, vergaß er das fiese Backwerk bald. Erst, als er sich etwas unter einer Weide ausruhen wollte und er in seiner Tasche nach einem Getränk suchte, fand er die fettfleckige Papiertüte mitsamt Inhalt. Er stieß sie angewidert zurück in die Tiefen seiner MessengerBag, trank einen Schluck und schickte sich an, das elende Croissant los zu werden. Er hätte es ja auch einfach wegwerfen können, aber das brachte S einfach nicht fertig. Es war die verfluchte Erziehung gewesen und was sie aus ihm gemacht hatte.

Eine erhellende Anekdote zu S' Verhältnis zu Lebensmitteln
Als Kind einer Familie mit Nachkriegserfahrung musste S seinen Teller immer vollständig aufessen. Tagsüber war das nicht so schlimm, die Mutter drückte gerne mal ein Auge zu und verstaute das nicht fertig gegessene Essen im Kühlschrank. Spätestens zum Abendbrot aber, wenn der Vater von der Arbeit zurück war, wurde das übrige Mittagessen aufgewärmt, das S dann vertilgen musste. Damit aber nicht genug forderte der Vater, S möge auch noch eine Butterstulle essen. Nach dem Krieg wären die Zeiten so hart gewesen, das man hätte froh sein können um jeden zusätzlichen Bissen. Außerdem sehe er es nicht ein, das S sein Mittagessen in den Abend hinein verschob und deshalb das Abendbrot verschmähte.

S musste also so lange am Esstisch sitzen bleiben, bis er auch seine Butterstulle gegessen hatte. Irgendwann einmal saß er aber so lange verzweifelt und satt vor seinem Teller, dass es dem Vater zuviel wurde und er lieber Sport schauen wollte. Diese Gelegenheit ergriff S, um seine Butterstulle hinter die Küchenzeile zu stecken. Nach einer viertel Stunde ging er ins elterliche Wohnzimmer und verkündete, er habe sein Abendbrot nun gegessen. Der Vater brummte zufrieden.

Diesen Trick behielt S dann ein halbes Jahr bei, vielleicht sogar noch etwas länger: Er wartete, bis es dem Vater zu lange wurde, stopfte sein Brot hinter die Küchenzeile und wartete eine angemessene Zeit ab, um seinen Gehorsam pflichtschuldigst zu melden. Alle waren zufrieden, bis die Eltern entschieden, dass eine neue Küche her müsse. S war nicht eingeweiht, aber als er eines Tages aus der Schule zurückkam, war die neue Küche eingebaut. Die Mutter starrte ihn feindselig an, sagte aber nichts.

Als die Mutter nämlich während des Abbaus der alten Küche die Menge an verwesten Butterstullen dahinter sah, war ihr Ärger groß. Das war selbst ihr zuviel, wenn Lebensmittel einfach fortgeworfen wurden. Als der Vater abends nach Hause kam, erzählte sie es ihm sofort, woraufhin der Vater bitterböse wurde und S ordentlich den Hintern versohlte. Fortan bleib der Vater so lange am Tisch sitzen, bis S sein Abendbrot verspeist hatte, und noch dazu drängte er auf ein baldiges Aufessen, denn die Sportschau wartete nicht. So kann man es also erklären, dass S bis heute keine Lebensmittel wegzuwerfen vermochte.
Und deswegen versuchte S an jenem verhängnisvollen Tag, sein Schoko-Croissant einfach zu verschenken. Er dachte da an die vielen Menschen, denen es mangels Broterwerb nicht gelang, selbst für ein Mahl zu sorgen. Doch verschmähten selbst diese Leute das fiese Backwerk und wollten lieber etwas Kleingeld. S konnte das gut verstehen, und nach ein paar Versuchen gab er sein Ansinnen auf. Einfache Passanten hingegen schauten nur misstrauisch zurück, wenn S ihnen sein Croissant feil bot. Also steckte er die fettfleckige Papiertüte wieder ein und fühlte sich ein wenig hilflos.

Als S sich später mit Freunden zum Bier traf, und einige darunter sogar hungrig waren, sah er seine Chance. Doch auch diese winkten nur ab und bestellten lieber eine Pizza um die Ecke. Sie wollten nicht unhöflich sein und schätzten seine Geste, doch sei ihnen im Moment mehr nach etwas Herzhaftem. Verdrießlich fand S sich damit ab, dass er das fiese Backwerk bis zum jüngsten Tag in seiner Tasche herumtragen musste. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als die Tasche mitsamt ihres unappetitlichen Inhalts irgendwo zu lagern, am Besten wohl im heimischen Keller. Jedenfalls so lange, bis das Croissant zu Staub zerfallen wäre. Wie lange das wohl dauern mochte?

Es wurde dennoch ein fröhlicher Abend, mit viel Bier und entspanntem Gelächter. S hätte das Croissant wohl vollkommen vergessen, wenn nicht P viel später dazu gestoßen wäre und verkündet hätte, dass er etwas hungrig sei. Die heitere Runde verwies P seltsam erleichtert auf jenes ominöse Schoko-Croissant, das S in seiner Tasche mit sich führe und jedem anböte, der nicht bei drei auf den Bäumen sei.

Mittwoch, 16. September 2009

Moralist, nicht integer

Ich schäme mich zutiefst! Mir ist große Schande widerfahren, und alles ist ganz alleine meine Schuld. Dabei empfinde ich mich als einen gründlichen, ordentlichen Menschen. Ich trage alle Termine in mein Filofax ein, Geburtstage wie Geschäftstermine, sogar Sperrmülltermine. Ich halte mich stets an Verabredungen und bin dabei grundehrlich: Niemals würde es mir in den Sinn kommen, jemanden zu betrügen oder zu übervorteilen. Manche Menschen halten mich deswegen für sehr naiv und außerdem auch altmodisch. Ich glaube nicht, dass gewisse Tugenden zu besitzen irgendwie altmodisch sein kann.
An diesem einen Tag im März überkamen mich allerdings starke Zweifel an meiner Integrität. Es fing damit an, dass der Fahrscheinautomat an meiner Bahnhaltestelle nicht funktionierte. Das Display reagierte auf keinerlei Eingaben, so sehr ich es auch probierte. In dem Bewußtsein, dass meine Bahn nun schon bald kommen würde, musste ich mir schnell Gewissheit über mein zukünftiges Handeln machen. Denn ich hatte an diesem Morgen einen dringenden Termin, den ich auf keinen Fall verspätet wahrnehmen durfte.
Es gab daher die Überlegung, trotz nicht vorhandenem Fahrschein in die Bahn einzusteigen. Doch wäre dies nicht Diebstahl? Nicht umsonst heißt es in den allgemeinen Geschäftsbedingungen des Verkehrsbetriebes, dass das Fahren ohne gültigen Fahrausweis mit einem erhöhten Beförderungsentgelt von sechzig Euro geahndet wird.
Umgehen beziehungsweise zeitlich begrenzen könnte ich den Diebstahl dadurch, wenn ich an der nächsten Haltestelle aussteigen würde und mir dort den erhofften Fahrschein löste. Bis dies aber geschehen war, wäre die Bahn längst weiter gefahren und ich müsste auf die nächste warten. Dadurch würde ich mich aber um zehn Minuten verspäten und gewonnen wäre gar nichts.
Andererseits konnte es ja nicht mir angelastet werden, wenn der Fahrscheinautomat defekt ist und ich daher keinen Fahrschein lösen kann. Probater wäre es allerdings, die Verkehrsbetriebe zu informieren und zu warten, bis der Fahrscheinautomat wieder seine Arbeit aufnimmt. Doch auch dies würde zu einer unkalkulierbaren Verspätung meinerseits führen und ist deswegen nur probat im Sinne des Verkehrsbetriebs, aber keineswegs in meinem.
Eine Alternative wäre es, zur nächsten Haltestelle zu laufen und dort den Fahrschein zu erwerben. Doch auch dann würde ich die bald herannahende Bahn knapp verpassen und das Problem der Verspätung bestünde weiterhin.
Die Bahn fuhr währenddessen ein, also musste ich schnell reagieren. Ich sprang dann einfach auf, und als ich das tat, beschloss ich den Fahrschein eben am Ende meiner Fahrt an der Zielhaltestelle zu lösen, sie zu entwerten und gleich fortzuwerfen, damit sie nicht in Hände eines Zahlungsunwilligen fallen konnte. Dies schien mir adäquat, denn ich würde den Verkehrsbetrieb ja nicht bestehlen, sondern einfach einen Kredit bei ihm aufnehmen.
Um meinen guten Willen und meine Ehrlichkeit zu demonstrieren, nahm ich keinen Platz in der Bahn, sondern blieb im Mittelgang stehen und hielt mich an einer der zahlreichen Handschlaufen fest. Denn wer noch nicht bezahlt hat, dem steht auch kein voller Service zur Verfügung, dessen bin ich mir voll bewusst.
Natürlich weiß ich, dass die Haltevorrichtungen und Schließmechanismen im Personenbeförderungswesen hochgradig verseucht sind mit Bakterien aller Art. Dies war eben der Preis, den ich für meinen nicht in beiderseitigen Einvernehmen, also eigenmächtig abgeschlossenen Vertrag, mit dem Verkehrsbetrieb zu zahlen hatte. Ich würde deshalb sofort nach Beendigung der Fahrt Hygienetücher im der Zielhaltestelle nahe gelegenen Drogeriemarkt kaufen müssen. Mit etwas Glück würde dieser Akt des Konsums nur circa zwei Minuten dauern, auf dass ich mich nicht allzu sehr verspäten würde. Eine angemessene Entschuldigung für diesen zeitlichen Fehltritt fiel mir sobald zwar nicht ein. Ich würde deshalb einfach vorschlagen müssen, dass ich für jede verspätete Minute eine unbezahlte Überstunde machen würde. Ich finde, das bin ich ihnen schuldig, denn sie können ja am allerwenigsten etwas dafür, dass der Fahrscheinautomat nicht funktionierte und ich deswegen gezwungen war, die mit Bakterien verseuchten Haltegriffe des Fahrzeugs zu ergreifen, dies nur meiner Integrität willens, und ich daraufhin auch noch Hygienetücher benötige, um meine Hände zu reinigen, bevor ich jemandem die Hand schüttele. Das ziemt sich nicht, ich hoffe sie haben dafür Verständnis und weisen mich nicht ab.
Aber wahrscheinlich würden sie dann sagen, ganz recht, es sei allein meine Schuld, wenn ich zu spät käme. Denn ich hätte auch schon eine Bahn früher nehmen können, und wenn ich dann nämlich gemerkt hätte, dass der Fahrscheinautomat nicht funktionierte, dann hätte ich genügend Zeit gehabt zum nächsten zu gehen und dort einen Fahrschein zu lösen. Ich hätte einfach die übernächste Bahn genommen und wäre trotzdem pünktlich bei meinem Termin gewesen. Außerdem hätte ich auch keine Hygienetücher im Drogeriemarkt kaufen müssen, da ich aufgrund meines reinen Gewissens ruhig einen Sitzplatz hätte nehmen können, am Besten mit den Händen in den Manteltaschen, und keinerlei Kontaminierung wäre möglich gewesen. 
Meine Güte, sie hätten damit tatsächlich recht gehabt. Und da fing ich doch ganz selbstverständlich an, über meine Integrität und meine sogenannte Gründlichkeit nachzudenken. Wenn ich es mir recht überlegte, hatten meine Bemühungen, es allen recht zu machen, alle Beteiligten nur geschädigt: Ich saß ohne Fahrschein in der Bahn. Dem Verkehrsbetrieb entging dadurch zwar nur ein minimaler Betrag, aber stellen Sie sich einmal vor, jeder würde das so machen. Da spielt es auch keine Rolle, wenn ich bereit bin, den Fahrtpreis an der Zielhaltestelle zu zahlen. Noch dazu mussten Menschen auf mich warten, einige Lebenszeit wegen meiner Unzuverlässigkeit verschwenden. Und ich selbst schade damit natürlich meinem Ansehen: Wer lässt sich schon gerne mit einem Dieb und Betrüger ein? Sie vielleicht? Sehen Sie!
In diesen Überlegungen gefangen, bemerkte ich zu meinem Leidwesen, dass die Bahn sich gerade von meiner Zielhaltestelle entfernte. Ich hatte es versäumt, auszusteigen. Nun versuchte ich den Zugführer dazu zu überreden, mich doch noch hinaus zu lassen. Denn ich käme deswegen sicher noch weitere fünf Minuten zu spät zu meinem Termin, nicht dass ich zuvor noch in einen Drogeriemarkt müsse, da ich die Haltevorrichtungen der Bahn berührt hatte. Doch der Zugführer verneinte nur, das ginge nun mal nicht, und schloss das Fenster zum Passagierraum beinahe zornig.
Wie sollte ich diese zusätzliche Verspätung nun wieder erklären? Dafür gab es eigentlich gar keine Entschuldigung mehr. Es würde mir auch nicht helfen, zu beteuern, dass so etwas bei mir noch niemals vorgefallen sei. Man würde es mir schlicht und einfach nicht glauben.
Nun hätte ich beinahe die Folgehaltestelle auch noch verpasst, doch gelang es mir gerade noch rechtzeitig, die Bahn zu verlassen. Mit schnellen Schritten verließ ich die Haltestelle, um vielleicht doch noch etwas Zeit gut zu machen. Doch dann bauten sich zwei Herren mit Dienstausweis vor mir auf und fragten mich, wo ich denn so schnell hinwolle. Ob ich denn einen Fahrschein hätte? Man hätte mich eben beobachtet, wie ich ganz schnell aus der Bahn entschwunden sei und mich aus dem Staub machen wollte. Dies sei allerdings verdächtig, meinte der kleinere der Kontrolleure.
Und da fiel mir ein, dass ich ja eigentlich vorgehabt hatte, einen Fahrschein an der Zielhaltestelle zu lösen, zu entwerten und wegzuwerfen. In meiner Zerstreutheit hatte ich das ganz vergessen. Wahrheitsgemäß erläuterte ich den Kontrolleuren, dass ich keinen Fahrschein hätte, da der Fahrscheinautomat an der Starthaltestelle defekt gewesen sei, so dass es mir unmöglich gewesen sei, einen Fahrschein zu lösen und dass ich mir eben genau deshalb keinen Sitzplatz genommen hätte, weil ich beim Verkehrsbetrieb ja quasi einen Kredit aufgenommen hätte und ich es unverschämt gefunden hätte, mich dann auch noch zu setzen und ich eigentlich auch vorgehabt hatte, besagten Fahrschein am Ende der Fahrt zu lösen, dies aber aufgrund meiner Eile nun doch vergessen hätte, es nun aber jederzeit, trotz meines Terminproblems, zwei oder drei Minuten mehr oder weniger würden jetzt ja auch nichts mehr ausmachen, noch nachholen könne, bitteschön.
Nun, ich hätte wohl warten müssen, bis der Automat repariert gewesen sei, so der größere der Kontrolleure. Oder ich hätte zur nächsten Haltestelle laufen müssen, in der Hoffnung, dort einen funktionstüchtigen Fahrscheinautomaten anzutreffen. Keinesfalls aber sei es legitim, einfach ohne Fahrschein ein Fahrzeug der Verkehrsbetriebe zu betreten, denn dies hätte nun einmal ein erhöhtes Beförderungsentgelt zur Folge, wird man denn kontrolliert. Außerdem sei ja gar nicht bewiesen, dass ich keinen Sitzplatz beansprucht hätte, argwöhnte der kleinere Kontrolleur. Und die Ausrede, ich hätte nach der Fahrt einen Fahrschein lösen wollen, hat sich ja wohl kaum bestätigt, nachdem ich ja nun ohne angetroffen wurde. Verzwickt sei die Lage, doch nicht für sie, die Kontrolleure. Denn es sei klar, dass ich bis auf weiteres sechzig Euro zu entrichten hätte. Wolle ich Einspruch erheben, solle ich das gerne tun, doch die Chancen auf Erfolg stünden gering bei dieser Sachlage.
Ich hätte das erhöhte Beförderungsentgelt sehr gerne sofort bezahlt, schon alleine um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, denn allmählich wurden aus sieben acht, aus acht neun Minuten und wer weiß wie lange die Sache noch gedauert hätte. Leider offenbarte mir ein Blick in die Geldbörse nur einen dort angelegten Betrag von neunzehn Euro und vierundreissig Cent.
Dann müssten sie eben leider einen Bußgeldbescheid ausstellen, und dazu benötigten sie meine Personalien. Aufgrund des Zeitdrucks verließ mich jede Geduld und ich geriet in Panik. Wie lange würde das wohl noch dauern? Ich hatte doch einen Termin einzuhalten, und jetzt schon würde ich mich um zehn Minuten verspäten. Wie sollte ich dies jemals erklären? Ich versuchte, den beiden Kontrolleuren zu entkommen, indem ich mich zwischen ihnen durchzwängte und einfach los rannte. Doch die beiden waren schneller und warfen mich schon wenige Sekunden später zu Boden. Der kleinere der Kontrolleure setzte sein Knie auf meinen Brustkorb, während der größere die Polizei anrief.
Ganz allmählich versammelten sich Passanten um uns herum, einige zeigten mit den Fingern auf mich. Sie tuschelten alle, wollten die Sensation ergründen. Einer fragte, was denn passiert sei, woraufhin ihm der größere der Kontrolleure entgegnete: Schwarzfahrer! Und schon wurden mir böse Blicke seitens der Passanten zuteil, einige unter ihnen zischten böse: So eine Schande!

Dienstag, 18. August 2009

Terminal2

Es war vorhersehbar gewesen. Gerade verließen wir unser Haus an der Küste, das wir von unserem Arbeitgeber gestellt bekommen hatten. Der Bus, der uns zum Flughafen bringen sollte, war komfortabel, Air-Condition Inside, wie ein Aufkleber uns verheißen hatte, was auch einfach nur bedeuten konnte, dass die Fenster sich öffnen ließen. Dieses Mal hatten wir Glück, es handelte sich um einen tatsächlich gut gekühlten Bus mit sehr viel Beinfreiheit. Draußen waberte derweil eine tropische Hitze, die unseren Augen Tricks spielte und die Kleidung innerhalb von Sekunden durchschwitzen ließ.
So war es die letzten Monate gewesen. In der Tat war dieses Wetter unerträglich: klebrig, feucht, heiß, faulig. Stinkendes Brackwasser ließ Milliarden von Stechmücken heranreifen und uns angreifen. Im Land herrschte ein eklatanter Mangel an Autan, und Moskitonetze waren ebenfalls ständig vergriffen. Stiche juckten erbärmlich und entzündeten sich durch die ewige Kratzerei. Wir waren übersäht von unschönen, nässenden und eiternden Exzemen. Bis dahin verloren meine Frau und ich mehrere Liter Blut, so scherzten wir uns jedenfalls den unangenehmen Zustand beiseite.
Im Büro war es dank einer funktionierenden, laut pochenden Klimaanlage gerade erträglich genug, so dass ich den Aufenthalt dort dem Haus vorzog, in dem ein Kühlschrank offenbar verzichtbarer Luxus gewesen war. Ein Deckenventilator wälzte die heiße Luft lediglich um und verschaffte uns keine Linderung. Was Wunder, dass meine Frau die Tage bis spät in die Nacht alleine im Haus verbrachte, weil ich Überstunden machte. Arbeit war hier eine willkommene Abwechslung. Meiner Frau setzte dies allerdings sehr zu, die Hitze und das Alleinsein. Und so waren wir beide sehr froh, als meine Tätigkeit hier enden sollte und der Heimflug endlich anstand, zurück ins kalte Deutschland. Heizung, Kühlschrank, nordisches Klima.
Die Fahrt zum Flughafen indes sollte laut Reisebüro über mehrere Stunden dauern, also präparierte ich mich mit Arbeitsmaterialien. Der Bericht musste geschrieben werden. Im Bus beschrieb ich Postits, die ich zwecks Übersicht ans Busfenster kleben wollte, was aber misslang, da die Klebestreifen sich wohl mit Feuchtigkeit vollgesogen und ihre Klebefähigkeit dadurch verloren hatten. Es war geradezu lächerlich, dass ein klebrig-feuchtes Klima ausgerechnet Klebstoff zu neutralisieren in der Lage war.
Auf einer Rast sprach mich einer der Mitfahrer an. Er redete freundlich auf mich ein, allein ich verstand nicht, was er mir zu sagen hatte. Die Landessprache hielt ich nicht für nötig zu erlernen, Englisch verstand er wiederum nicht, was ihn dazu veranlasste, französisch mit mir zu sprechen. Was soll ich sagen, der zweite Bildungsweg beinhaltet keine zweite Fremdsprache. Daraufhin versuchte er mir sein Anliegen mit Händen und Füßen zu verdeutlichen. Auch dies Misslang. Am Ende kritzelte er etwas mit einem Stock in den staubigen Boden.
Dies verstand ich ebenso wenig. Allmählich verlor ich die Geduld, doch da beschied uns der Busfahrer, dass die Reise nun weiter ginge.
Ob es sich nun um Polizei oder um Militär handelte, die den Bus etwas später kontrollieren sollte, war in diesem chaotischen Land nicht nur unwesentlich, sondern auch gar nicht ausmachbar. Doch als Gäste besaßen wir einen Sonderstatus, eine Immunität vor Strafverfolgung und Willkür. Beides schien ebenfalls völlig ununterscheidbar, doch schützte es uns bisher davor, Opfer irgendeiner fehlgeleiteten Justiz zu werden.
In der Vergangenheit dieses heißen, schmutzigen Landes hatte es diverse Regimewechsel gegeben, die wie üblich aus Glaubensfragen hervorgingen. Mal herrschten jene mit dem Glaubensbekenntnis zum Kapitalismus, mal jene mit dem Bekenntnis zum Islam. Beides waren sie Seelenheil und Wohlstand versprechende Religionen, deren Kämpfer stets grausam und unbarmherzig waren und die weder das eine noch das andere einhalten konnten oder wollten. Das letzte Regime hatte deutsche Ingenieure für den Wiederaufbau des Landes bestellt, das aktuelle wies sie nun wieder aus dem Land und machte sich daran, ebensolche Ingenieure aus den muslimischen Nachbarländern zu rekrutieren. Und das sollte mir nur recht und billig sein, konnte ich doch mit meiner Frau nach Hause.
Der Polizist/ Milizionär, der unser Gepäck durchsuchte, hob ein Päckchen in die Höhe und rief nach seinen Kollegen. Ich weiß bis heute noch nicht, was darinnen war, denn das verriet man uns selbstverständlich nicht in dem darauf folgenden, stundenlangen Verhör in einem örtlichen, baufälligen Gebäude. Soviel stand aber für die Polizisten/Milizionäre fest: Jemand musste uns beauftragt haben, eben jenes Päckchen mit dem Flugzeug ins Ausland zu schmuggeln. Doch nach der Injektion einer Droge schien alles darauf hinzudeuten, dass wir tatsächlich von nichts wussten, höchstens eine Ahnung hatten, wer es uns hatte zukommen lassen.
Unsere Mitfahrer waren offenbar ebenfalls in dieses Gebäude verbracht worden und hatten offenbar die gleichen Verhöre hinter sich, wie an deren desolaten Zustand unschwer zu erkennen war. Einige darunter, überwiegend Europäer, waren sehr ungehalten über diese Behandlung, und beschimpften die Polizisten/Milizionäre, weswegen sie einige Blessuren davontrugen. Seltsam kalt blickten die Wachleute in die Menge, während sie auf sie einprügelte.
Der Offizier, der mich zuvor verhört hatte und nun mit uns im Raum war, begleitete mich in einen separaten Raum, in dem einige Mitfahrer in einer Reihe aufgestellt waren. Unter ihnen war auch derjenige, der mich auf der Rast angesprochen hatte. Ich deutete auf ihn, weil man von mir verlangte, alle anzuzeigen, mit denen ich auf der Fahrt Kontakt hatte. Freilich teilte ich dem Offizier mit, dass ich nicht wisse, ob er es war, der mir das Päckchen zugesteckt hatte. Noch während ich dies erklärte, fiel ein Schuss und der Mann sackte tödlich getroffen zu Boden. Dann wurde mir schwarz vor Augen.
Als ich schweißdurchnässt aufwachte, befand ich mich in einem Bus älterer Bauweise. Ich geriet sofort in Panik, weil ich dachte, ich würde nun in ein Gefängnis transportiert. Dann bemerkte ich meine Frau neben mir, die mich beruhigte. Sie sei die ganze Zeit wach gewesen und hätte mitbekommen, dass wir nun endlich zum Flughafen führen. Unsere Papiere und unsere Gepäckstücke wurden uns wieder ausgehändigt, nur der ursprüngliche Bus sei zur Beweisaufnahme konfisziert worden, was immer das heißen solle. Zudem hätten wir nun beide ein lebenslängliches Einreiseverbot. Ich sagte noch, dass ich darauf scheißen würde, bevor ich erschöpft, aber beruhigt in einen weiteren, tiefen Schlaf fiel.
Endlich erreichten wir den internationalen Flughafen und sahen den Terminal, weiß strahlend wie eine Verheißung. Die asphaltierten Landebahnen glühten in der Hitze und ein Geruch von Teer stieg in meine Nase. Die nationalen Flaggen hingen müde von den Fahnenmasten und symbolisierten nur mehr ein ermattetes Land. Das ohrenbetäubende Geräusch startender Flugzeuge störte die wabernde Ruhe des Mittags. Sogar die allgegenwärtigen Zikaden waren es müde, Laut zu geben. Es fiel mir auf, dass keine Flugzeuge landeten. Immer nur flogen sie davon, doch keines schien ankommen zu wollen.
Sonderbarerweise umfuhr unser alter Bus den Terminal weiträumig, änderte dann aprupt die Richtung, woraufhin wir uns eine ganze Weile auf einer Piste befanden. Der Terminal wurde zusehends kleiner, bis er ganz aus unserem Sichtfeld entschwand. Am Ende der Piste befand sich eine provisorisch zusammengenagelte Schranke und ein kleines Wärterhaus. Dahinter lag ein weites Gelände, umzäunt von einem Stacheldraht. Wir hielten an. Der Busfahrer bedachte die hervortretenden Wachen mit schnarrenden Worten. Die Wachen hoben die Schranke an und winkten den Bus herein. Wir fuhren weiter.
Von da an war der Weg unbefestigt, der Bus holperte über Schlaglöcher in verbrannter Erde. Staubwolken folgten uns. Endlich kamen wir an einer Baracke an, baufällig stand sie in der Einöde. Mit weißer Farbe stand darauf „Terminal 2“ geschrieben. Wir stiegen aus und streckten unsere Glieder. Irgendwie hatten wir nichts anderes erwartet nach den Vorkommnissen an diesem Tag. Gerne hätten meine Frau und ich etwas getrunken, leider war der Getränkeautomat außer Betrieb. Einige Passagiere versuchten es dennoch, hoben fluchend Sand aus dem Ausgabeschacht. Daraufhin schauten wir uns etwas um, vertraten uns die Beine. Wir entdeckten dabei eine Sandpiste.
Nahendes Motorengeräusch kündigte eine Maschine an. Sie setze am anderen Ende der Piste auf und kam stolpernd und hustend näher, wie ein alter, kranker Mann. Es handelter sich dabei um eine zweimotorige Dornier, die bei näherer Betrachtung bestenfalls als klapprig zu bezeichnen war. Ein Fenster im Passagierbereich war eingeschlagen, und als die Besatzung die Maschine verlassen wollte, klemmte die Tür zunächst, bis sie sich mit einem Ruck öffnete und hernach schief in den Scharnieren hing. Dennoch war ja der Beweis erbracht, dass dieses Teil flugtauglich war, und die Aussicht, nach Hause zu kommen ließ es uns als das schönste Flugzeug dieser Welt erscheinen.
Die anderen schnatterten und blökten wie Vieh, als sie das Gerät erblickten, waren weitaus weniger zuversichtlich. Wie um sich abzulenken vor drohendem Ungemach tauschten sie sich aus mit vielen Geschichten über Erlebtes, über Länder, Sitten, über Kunst und Siechtum. Als dann plötzlich ein Kleintransporter einfuhr, neben den zwei uniformierten Fahrern eine aufgeregte Frau, wahrscheinlich eine Britin, war die Überraschung groß. Sie teilte uns mit, dass im Terminal 1 eine wichtige Übertragung eines Fußballspiels gezeigt werde und lud uns höflich dazu ein, mit ihr zu kommen. Mich selbst interessiert der Sport nicht sehr, und ein Blick auf die an der Baracke angebrachte Zeittafel wies darauf hin, dass unsere Maschine wohl bald starten würde. Doch einige Passagiere, darunter meine Frau, ließen sich in Erwartung dieser willkommenen Abwechslung davon nicht beirren und stiegen auf die Ladefläche des Transporters. Sie hinterließen eine Staubwolke zur Erinnerung.
Ich setze mich in einen Schatten und wartete darauf, einzuchecken. Der Durst war mittlerweile unerträglich geworden, und beinahe beneidete ich meine Frau, die nun wahrscheinlich bei gut gekühlten Getränken diese banale Spiel betrachtete. Die Hitze flimmerte mir vor Augen, und die Exzeme begannen wieder zu jucken und zu nässen. Mein Tuch war mittlerweile unbrauchbar geworden, es war feucht und voller Dreck. Ich warf es weg, es lag wie ein Fremdkörper im heißen Staub. Dann dämmerte ich weg. Mir träumte von saftigen Wiesen und kalten, klaren Bächen. Meine Frau reichte mir Gebäck zum Tee, und wir waren beide nackt. Plötzlich wurde der Bach trübe von brauner Erde, bis das Wasser ganz versiegte und an seiner Stelle Sand floss. Ich schaute meiner Frau in die Augen, doch da waren keine Augen mehr, nur dunkle Löcher, aus denen derselbe Sand rieselte wie im Bach. Sie sagte etwas, doch ich konnte es nicht verstehen, da das herannahende Pferdegetrappel zu laut war. Dann ergoss sich aus ihrem Mund Schlamm und ich wurde wach.
Die Reiterinnen waren gekleidet in lange Gewänder und in ihre Gesichter verhüllende Kopfbedeckungen. Es war nicht die landesübliche Bedu-Tracht, viel moderner, fast futuristisch mutete die Kleidung an, wie von Gaultier entworfen. Die Anführerin unter den fünf Frauen war in ein leuchtendes, elegantes Weiß gewandet, ihre Kopfbedeckung verbarg ihr vornehmes Gesicht nur halbseitig. Ihre Begleiterinnen hatten zum Teil gehäkelte Masken mit herausgearbeiteten Nasen. Sie sattelten ihre Pferde ab, versorgten sie und banden sie fest. Dabei schaute mich die Anführerin beiläufig an, ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung. In diesem Moment starteten die Motoren des Flugzeugs und wir wurden aufgefordert, einzusteigen. Die Augen der Frau waren Fallen.
HEK 18.02.2009

Am Ende eines Korridors

Als ich es dann endlich schaffte, einen neuen Job zu bekommen, war ich überglücklich. Mein alter Arbeitgeber war ein richtiges Schwein, er grabschte nach jedem, der noch einen letzten letzten Rest von Ehrgefühl hatte, und schuf unter den Angestellten ein Klima von Mißgunst und unwürdiger Abgeklärtheit. Ich möchte nicht mehr darüber sagen.

Nun aber war ich in einem kleinen, familiären Betrieb gelandet, und ich fühlte mich sofort wohl. Schon nach wenigen Wochen gelang es mir, Freundschaften unter den KollegInnen zu schließen. Die zwar mit viel Arbeit ausgefüllten Stunden vergingen schnell, ein Plausch war allemal möglich. Die Kundschaft, mit der ich zu tun hatte, erwies sich als sehr angenehm, mehr als ich mir erhofft hatte. Selbst die Dienstfahrten innerhalb der Stadt waren mir eine willkommene Abwechslung, konnte ich mir doch ausreichend Zeit dafür nehmen.

Dabei wurde mein Einsatz für die Firma stets gelobt, schnell hatte ich bei meinem Vorgesetzten einen Stein im Brett. Völlig neidlos befeuerten mich meine KollegInnen, die ja auch allesamt einmal hier angefangen hatten und ähnliche Erfahrungen gemacht haben mussten. In ihren entspannten Gesichtern und ihrer lockeren Körperhaltung erkannte ich meine eigene Zukunft. Genau so wollte ich schließlich einmal aus dem Berufsleben ausscheiden: Entspannt und neugierig auf meinen Lebensabend. Keineswegs aber gehetzt und über den Tod hinaus gedemütigt, was mir eine andere, vergangene Zukunft prophezeite.

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Alles sollte anders werden. Man traf sich mit den KollegInnen zu freundschaftlichen Zusammenkünften, kochte gemeinsam und lachte viel. Der Betrieb florierte unterdessen, wuchs trotz der freundschaftlichen Laxheit stetig und erzielte enorme Gewinne. Insgeheim durften wir uns alle auf eine kleine Gehaltserhöhung freuen, und nach einem Jahr Betriebszugehörigkeit stand mir ein komfortabler Bürostuhl zu, der dreh- und sogar höhenverstellbar ist und sogar fünf Räder untendran hatte.

Diese kleine Schrulligkeit, dem Personal nach und nach Gemütlichkeiten zukommen zu lassen, entsprach meinem Vorgesetzten sehr, der sich schließlich ebenfalls in seinem Leben alles erarbeiten musste, Stück für Stück. Er zählte bereits 32 Lenze, so pflegte er beim gemeinsamen Dinner gerne zu schwadronieren, bevor er überhaupt seinen ersten Schreibtisch bekommen habe. Und es dauerte weitere fünf Jahre, bis er Ansprüche auf den dazu passenden Bürostuhl erworben hatte. Bis dahin erledigte er seine Arbeiten auf dem Fußboden kauernd, denn das lange Stehen fiel im schon von Kindesbeinen an schwer. „Aber Opi erzählt mal wieder vom Krieg“ prustete er dann los und überliess das Gespräch wieder seinen Angestellten, die sich ganz vortrefflich alleine unterhalten konnten.

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Unser Vorgesetzter war nun schon längst im Rentenalter, doch blieb es unvorstellbar, dass er uns jemals verlassen würde. In seine offen gezeigte Heiterkeit mischte sich in den letzten Monaten jedoch eine Verwundbarkeit, ja sogar eine Art von Traurigkeit, die sich in seine krause Stirn eintrug.

Dann kam ein Gerücht auf: Der Betrieb habe die oberste Gewinnmarge überschritten und müsse nun expandieren oder vor die Hunde gehen, raunte eine Kollegin. Ein anderer Behauptete das glatte Gegenteil. Der Gewinn sei fortgebrochen und nun suche man nach einem Investor, das habe ihm der Vorgesetzte in einer nachlässigen Minute jedenfalls erzählt. Bei genauerem Nachfragen stellte sich jedoch heraus, dass der Kollege nur gelauscht hatte und sich mit einem Mal nicht mehr so recht sicher war, was er nun gehört habe und was nicht.

Wie dem auch sei, aufgrund dieser mehr als vagen Aussagen geriet das Betreibsklima etwas aus den Fugen. Jeder machte sich Sorgen um sich selbst, das Gemeinwohl litt sehr darunter. Der Vorgesetzte wurde Tritt auf Schritt beobachtet, jede seiner Bewegungen analysiert und gewogen. Allein, sie ließen keinerlei Rückschlüsse zu.

Doch alles blieb beim Alten, es ließen sich keine Anzeichen für eine Änderung feststellen, die Gerüchte verblichen wie alte Fotografien, bis sie gänzlich in sich zusammen fielen und in Vergessenheit gerieten. Allmählich entspannte sich die Belegschaft wieder. Es wurde gescherzt und gelacht, und alles war wieder wie früher, ging seinen gewohnten Gang.

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Im Nachhinein waren die Zeichen für den Wandel unübersehbar. Der Vorgesetzte ließ sich kaum noch blicken, und wenn doch, dann war seine Sorgenstirn noch krauser als sonst. Auch sein Lachen über die Scherze der Angestellten klang hohl, und seine eigenen Witzigkeiten waren durchdrungen von einem seltsamen Schmerz. Es war zu leicht gewesen, das alles auf sein fortschreitendes Alter zu schieben. Da kämen halt die kleinen Zipperlein und eine Altersgrantigkeit, meinten die KollegInnen nicht nur einmal.

Andere glaubten zu wissen, dass seine Verrentung bevorstand und er nicht damit klar käme. Denn was sei er denn ohne seine Firma, ohne seine Angestellten? Doch all diese Vermutungen bestätigten nur unsere eigene Blindheit und verdeutlichte unsere überstarke Angst davor, das Unvermeidbare zu erkennen.

Dann trat unser Vorgesetzter eines Tages an, verkündete knapp die Übernahme unseres Betriebes durch ein anderes Unternehmen und seinen Weggang. Er teilte uns sein Bedauern mit, aber am Ende sei es nicht mehr anders gegangen. Wie sich herausstellen sollte, war das Unternehmen, dass von nun an die Geschäfte unseres Betriebes leiten sollte, jenes, aus dem ich zuvor ausgeschieden war. Nun ja, dachte ich, solange alles beim Alten bliebe bei uns, dann wollte ich mich nicht sorgen.

Unser Vorgesetzter verabschiedete sich und verliess uns in schleppendem Gang, aals sei es sein Weg zum Schaffott und wir seine letzten Zeugen. Keiner sprach mehr ein Wort, alle blickten betreten zu der Seite, auf der sich schon unsere neue Zukunft auftat, als dort einige schwarzgekleidete Herren ihre Aktenkoffer öffneten.

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Nichts blieb, wie es war: Unser gemütlicher Betrieb musste umgehend verlassen werden, man verfrachtete uns wie Vieh in das mir verhasste Firmengebäude des Unternehmens. Nun aber waren dort die Decken viel niedriger als zuvor, die Büros waren zudem viel kleiner, als ich es in Erinnerung hatte. Wie uns später erklärt wurde, hatte die Unternehmensleitung es veranlasst, einige Zwischenetagen einbauen zu lassen, damit die neue Belegschaft aufgenommen werden konnte.

Die kleinen Parzellen, in denen wir nun arbeiten mussten, waren stickig und heiß. Die marode Klimaanlage, die direkt über unseren Köpfen angebracht war, schlug einen metallischen Rhythmus, dem Paukenschlag auf einer Galeere gleich. Wie Ruderer stempelten wir im Takt Papierberge ab.

Die Stammarbeiter im Betrieb hassten uns sofort, weil sie wegen uns in eine ähnliche Situation geraten waren. Auch ihre Decken waren nun niedriger und ihre Büros kleiner. Es bereitete ihnen keine Befriedigung, dass wir geringer entlohnt wurden als sie. Wir waren ihre Feinde.

Auch unter uns verschlechterte sich das Klima zusehends. Erstmals seit langem bemerkte ich wieder denselben Neid und diesselbe Missgunst unter den KollegInnen, wovor ich einst geflüchtet war. Mir schnürte sich die Kehle zu, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Es war überdeutlich, dass ich sofort würde kündigen müssen. Meine glückliche Zukunft, die ich mir noch vor wenigen Wochen so farbenfroh ausmalte, war plötzlich überschattet von Furcht.

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Am nächsten Tag ging ich gleich hinauf zur Chefetage, um mit der Sekretärin einen Termin zu vereinbaren. Sie beschied mir, ich könne gleich hier oben bleiben, der Chef nehme sich so bald wie möglich Zeit für mich. Allerdings müsse ich die Zeit, die ich hier verbrächte, nacharbeiten. Ihre Augen schauten streng unter der Brille durch, als sie dies sagte.

Das mache mir nichts, denn es sei wichtig, antwortete ich und setze mich auf den mir zugewiesenen Stuhl. Ich wartete daraufhin Stunde um Stunde. Ich sah die Sonne untergehen und die Sterne funkeln, und dann verschwanden die Sterne und die Sonne ging wieder auf. Es kam sodann der Morgen und der Mittag, dann die Nacht, und erst am dritten Tag wurde ich in das Büro des Chefs hineingebeten.

Sie möchten also kündigen, wie ich höre?

Der Chef hatte keinen Sinn für Nettigkeiten. Nie gehabt.

Sie wissen, dass das nicht so einfach für Sie sein wird wie beim letzten Mal? Offenbar erinnerte er sich an mich. Ich antwortete ihm, ich sei bereit, alles zu tun, nur um seine Firma verlassen zu können, zur Not verzichtete ich auch auf mein Gehalt für die letzten Wochen.

Das wird nicht reichen, und das wissen Sie! Die Übernahme Ihres Betriebes hat uns viel Geld gekostet. Wir müssen daher eine Ablösesumme von 50.000 Euro von Ihnen verlangen.

Soviel Geld habe ich aber nicht.

Ich schluckte schwer, schmeckte Blut in meinem Speichel.

Dann bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als die Summe bei uns abzuarbeiten! Sie können es sich überlegen. Gehen Sie jetzt zurück an die Arbeit.

Als ich die Tür hinter mir schloss, stand ich vor einem langen Korridor, dessen Ende ich nicht mehr erblicken konnte.