Dienstag, 22. Dezember 2009
Moralist! Fortgesetzt!
Um dem vorzubeugen, entschloss ich mich dazu, erst gar keine ortsinterne Straßenbahn mehr zu benutzen. Erstens würde man mich darin sofort wieder erkennen und mit dem Finger auf mich zeigen. Das wäre mir unangenehm gewesen. Zweitens hatte ich Furcht, aus ähnlich moralisch zweifelhaften Gründen wie kürzlich, denselben Faux Pas wieder zu begehen. Und damit wäre ich für die Gemeinde einfach nicht mehr zu ertragen gewesen, ich hätte den Wohnort wechseln müssen, und mit dem üblen Leumund im Nacken wäre auch dort ein Neustart beinahe unmöglich gewesen.
Deswegen entschied ich mich dazu, notwendige Wege einfach zu Fuß zu gehen. Damit war allen gedient: Dem örtlichen Nahverkehrsbetrieb, der Bevölkerung und natürlich mir selbst. Der Versuchung zu widerstehen hieß letztendlich, die Versuchung zu umgehen. Ich war ein trockener Schwarzfahrer, den eine einfache Bahnfahrt hätte rückfällig machen können.
Als ich dann wieder einmal einen wichtigen Termin in der Stadt hatte, machte ich mich auf den Weg. Anfangs ging es auch gut voran. Doch dann, ich nahm eine Abkürzung durch den Park, stand ich abermals vor einer ernsten Situation: Während ich da so nichtsahnend vor mich hin lief, beinahe heiter, stand da ein großer schwarzer Hund vor mir und wollte mich gar nicht vorbei lassen. Schon überlegte ich, ob ich nicht einen Schlenker über den Rasen machen sollte, um die Blockade zu umgehen. Doch leider war das Betreten des Rasens verboten, und ich wollte mich nicht schon wieder mit Ordnungskräften jedweder Art anlegen.
Besser schien es tatsächlich, sich der Bedrohung zu stellen, sogar konstruktiv mit ihr umzugehen. Ich hielt Ausschau nach dem Halter des Hundes. Ein paar Meter entfernt sah ich den einzigen Menschen weit und breit. In seiner Rechten baumelte eine Hundeleine, in seiner Linken hielt er ein Mobilfunktelefon. Er unterhielt sich angeregt und war wohl gerade nicht ansprechbar. Also wartete ich ein paar Minuten. Ich war mir aber auch nicht richtig sicher, ob der Hund dem Mann tatsächlich gehörte. Vielleicht handelte es sich ja um einen neuen Modespaß, eine Hundeleine um das Handgelenk geschlungen zu tragen. Heutzutage war ja alles möglich.
Dann wurde ich jedoch ungeduldig, ich hatte ja einen wichtigen Termin einzuhalten. Deshalb rief ich dem Mann zaghaft zu, ob es denn sein Hund sei, der mir den Weg verwehrte, und wenn ja, ob es denn bitte möglich sei, seinen Hund zu sich zu holen, damit ich passieren könne. Doch der Mann reagierte zunächst überhaupt nicht. Dann rief ich, mit zitternder Stimme zwar, etwas lauter. Der Mann verdrehte die Augen, hielt das Mobilfunkmikrofon mit der Hundeleinenhand zu und entgegnete mir, ich solle doch an dem Hund vorbei laufen, er würde mir schon nichts tun. Ich war mir nicht wirklich sicher, ob ich einem fremden Mann ungeprüft Glauben schenken durfte, und blieb zunächst einfach stehen. Ich wiederholte mein Anliegen ängstlich, doch der Mann war wieder in sein Telefongespräch vertieft und schien mich nicht zu hören.
So stand ich nun eine ganze Weile, und nichts bewegte sich. Ich hatte nun doch wirklich keine Zeit mehr, und so keimte in mir der Gedanke, die Alternative mit dem Umweg über den Rasen unter Umgehung der verbotenen Betretung desselben zu ergreifen. Leider tat ich dies dann so hektisch, dass der Hund wohl erschrocken war und nach meiner Hand schnappte, wobei ich diese panisch zurückzog und dem Hund mit der daran befindlichen Tasche versehentlich auf die Schnauze schlug. Er missinterpretierte dies als Angriff, sprang mich an und warf mich zu Boden, woraufhin er sich in meinem Arm fest biss.
Endlich kam auch der Hundehalter hinzu und schimpfte mit mir: Was ich denn hier mit seinem Hund veranstalte? Ob ich denn nichts anderes zu tun hätte, als seinen lieben Freund zu ärgern und zu nötigen? Darauf hatte ich, wohl auch wegen des Schmerzes in meinem Arm und der ganzen Panik, die mich anheim fiel, nichts weiter zu entgegnen. Der Hundehalter beendete sein Telefongespräch wütend, und mir tat alles sofort leid. Immer machte ich alles verkehrt.
Ich bat ihn trotzdem, den Hund doch bitte von mir fort zu nehmen, was dem Hundehalter allerdings nicht ganz leicht fiel, da der sich ziemlich an meinem Arm fest gebissen hatte, einerseits, und andererseits, weil es ihm wohl ganz gut gefiel, wie sein Hund mit seinem Peiniger umging. Aber letztendlich wollte er wahrscheinlich verhindern, dass das Tier durch ein allzu ruppiges Fortziehen in seinem Beißverhalten traumatisiert würde.
Als es ihm endlich doch noch gelang, das Tier von mir zu befreien, bemaß er mich eines strafenden Blickes. So was hätte er nun noch nicht erlebt. So etwas dämliches. Ob ich denn nicht um die Natur des Tieres wisse? Ob ich denn nicht etwas aufpassen könne? Sofort entschuldigte ich mich bei dem Mann. Es täte mir leid, dass er sein Telefongespräch wegen meiner Person habe beenden müssen. Ich selbst habe aus purem Egoismus, bloß weil ich nicht zu spät zu meinem Termin habe kommen wollen, den Hund samt seinem Halter in eine unzumutbare Situation gebracht. Warum musste ich auch durch den Park gehen, wo ich doch wusste, dass man dort gerne seinen Hund von der Leine ließe? Was habe ich mir nur dabei gedacht?
Jeder wisse doch, dass Hunde Angst und Unsicherheit wittern. Allein meine Unfähigkeit, diese Gefühle zu verbergen und stattdessen dominantes Verhalten zu zeigen, woraufhin der Hund bestimmt gekuscht hätte, hatte mir dieses Unglück eingebracht. Ihn, den Hundehalter, treffe ganz gewiss keine Schuld. Allein mein unangebrachtes Verhalten sei dafür verantwortlich. Es wäre mir überaus unangenehm, würde er, der Hundehalter, meiner Tollpatschigkeit wegen Schuldgefühle davontragen. Gar nicht zu sprechen von dem psychischen Schaden, den der Hund bestimmt erlitten habe. Wie ich dies bloß wieder gutmachen könne?
Mir blieb nur eines: Mit meinem gesunden Arm zog ich die Brieftasche aus meinem Mantel. Der Hundehalter blickte sich verstohlen um, dann nahm er mir die ganze Brieftasche weg und verschwand, nicht aber ohne mich vorher noch einmal als Tierquäler zu beschimpfen und zu konstatieren, wie recht mir geschehe, und überhaupt: hoffentlich müsse mir der Arm amputiert werden. Ich fand, sein Ärger war durchaus gerechtfertigt. Ich würde wohl in Zukunft noch besser aufpassen müssen. Solche Fehler durften mir einfach nicht mehr passieren.
Hernach fiel mir ein, dass ich ja noch etwas zu erledigen hatte. Doch zuerst musste ich mich noch etwas herrichten. Ich konnte unmöglich verspätet und mit blutendem Arm zu meinem Termin erscheinen. Was sollten die Leute von mir denken? Man hatte ja ohnehin schon ein wachsames Auge auf mich geworfen. Da musste ich mich wohl oder übel doppelt, nein dreifach anstrengen, um mich wieder akkreditieren zu können. Ich zog also ein Taschentuch aus meiner Brusttasche und versuchte die selbstverschuldete Wunde notdürftig zu versorgen.
In jenem Moment aber trat ein Polizist auf mich zu und sprach mich an. Was ich denn hier machen würde? Ob mir klar sei, dass ich mich in unerlaubter Weise auf der Wiese aufhalte? Hier stünde doch klar und deutlich „Betreten Verboten!“. Ob mich die öffentliche Ordnung denn gar nicht interessiere? Er wolle bitteschön einmal meinen Ausweis sehen. Da ich keinen vorzeigen konnte, bezichtigte er mich der Landstreicherei und sprach einen Platzverweis aus. Dieses Mal hätte ich aber noch Glück gehabt, rief er mir hinterher. Beim nächsten Mal müsste ich einen ordentlichen Batzen Bußgeld entrichten. Mit solchem Gesocks wie mir habe er aber auch noch ganz andere Pläne, falls ich wisse, was er meine.
Montag, 9. November 2009
Kontrollbegabt.
Kronos schenkte der Welt die Zeit. Zeus, sein Sohn, entmannte ihn SPÄTER. Selber Schuld!Einen Frieden finden
wenn es mal wieder länger dauert
und die Musik Gedanken stillt
an der Zitzen der Zeit
Komplikationen schnaufen im Rhythmus
ich, die Galeere, die Ruder
am Ruder die Hand, an der Hand der Arm
und am Arm der Körper beugt
sich schwer nach Vorne und zurück
Reaktion statt Aktion
Das ist nicht gut. Nein, gar nicht gut
Einen Frieden finden in den Gezeiten
Auf dass der Rhythmus meinig wird
und ich steu're das Boot
in den sich'ren Hafen kontrollbegabt
Beherrscher der Zeit
In den Tag hinein.
Langsam, beinahe vorsichtig dreht er den Kopf in jene Richtung, aus der er die weibliche Stimme vernommen hat und stellt dann folgendes fest: Es spricht tatsächlich jemand zu ihm, und es ist eine Frau, in jenem verlorenen Alter zwischen 30 und 40 Jahren, genauso wie er, Bort, zumindest fühlt er sich in diesem Alter so verloren, da ihm bewußt ist, dass es ihm an Perspektive mangelt, er die Unbefangenheit der Jugend schon lange abgelegt hat und sich dennoch nicht erwachsen genug fühlt, um das zu tun was man in seinem Alter eigentlich tut oder nach landläufiger Meinung tun sollte. Eher meint er zunehmend die Kontrolle über seinen schlaksigen Körper zu verlieren und versucht dem entgegenzuwirken, indem er elegante, maßgeschneiderte Anzüge aufträgt.
Bort grinst nun blöde, und als er dem Anliegen der Frau entsprechen will, nickt er ihr nur zu, wobei ihm der Kopf abzufallen scheint. Im Moment der Bewußtwerdung seines lächerlichen Zustandes hat er starke Zweifel daran, ob sie sein Einverständnis wahr nimmt und sich tatsächlich zu ihm setzt. Doch sie scheint sich daran nicht zu stören und nimmt Platz. Bort sieht: Dunkle, leicht gewellte, lange Haare, slawische Gesichtszüge mit den entsprechend weit auseinander stehenden Augen. Zu ihrem Gesicht trägt sie ein schlichtes, schwarzes, hochgeschlossenes Abendkleid, das ihr Dekolletee verbirgt und vielleicht gerade deshalb einen schönen Busen offenbart.
Sie lächelt ihn freundlich an und wartet eine Weile, die Augen fragend, wartend, auf irgendetwas, was Bort zu ihr sagen könnte. Was Borts Naturell entsprechend nicht passieren wird, da sein fieberhaft nach einem gesprächseinleitenden Satz suchendes Hirn blutet und seinen Verstand lähmt, seinen Mund in botoxhafter Weise offen stehen lässt.
Wenn Bort früher tatsächlich einmal in der Lage war, eine Frau aus zwar freien Stücken, aber nicht ganz freiem, weil geilem Willen anzusprechen, fehlte ihm am Ende jene notwendige Eloquenz, in ein profundes Gesprächsthema überzuleiten, wenn er zuvor irgendeine Banalität zum Besten gab, um überhaupt einmal zu eröffnen. Wie beim Schachspiel gelang es ihm nicht, die nötigen Züge zu tun, um zu gewinnen, obwohl er sich am Anfang stets gut schlug, sich sogar im Vorteil wähnte, aber dann aus lauter Ratlosigkeit eine Figur des Gegners nach der anderen weg schlug, bis das Spiel dadurch langweilig wurde, weil er die Situation zum Schluss nicht ausspielen konnte: Der König entwand sich immer wieder seinem Zugriff. Bort ist definitiv kein Fallensteller.
Mit Freunden hingegen gelang ihm die munterste Konversation, einmal angeregt war er kaum zu stoppen, ein Quell origineller Gedanken und Assoziationen. Dem anderen Geschlecht aber, zum Behufe der Partnerwahl, gegenüber versiegte dieser Fundus geistreicher Bonmots augenblicklich, da sich sein vegetatives Nervensystem auf Fluchtmodus einstellte. Hatte er dann auf ganzer Linie versagt und sich niedergeschlagen auf den Heimweg begeben, sprudelte die Quelle wieder und all die guten Dinge, die es zuvor zu sagen galt, wirbelten nutzlos, weil verspätet, in seinem Hirn umher.
Doch diese Frau, sie spricht nun zu ihm. Trotz seiner entfernten Gedanken und Unaufmerksamkeit genießt er ihre Anwesenheit, das weiche Timbre ihrer Stimme dringt in den Emotionen verarbeitenden Teil seiner Hirnwindungen. Daraufhin fühlt sich Bort geborgen. Zwar dämpft der Alkohol seine Wahrnehmung wie einst das Wasser in der Fruchtblase: warm und wohlig war's, das Herz, Blut pumpend pochend und die Außengeräusche waren gefiltert durch die Membran des Mutterbauches, erst nach der Geburt sollte Bort die Schrecken hochfrequenter Töne erfahren, welche den Bässen zwar erst Tiefe gaben, aber Bort ist nun einmal kein Mensch, der Fallhöhen zu schätzen weiß.
Vielleicht gerade weil er zeitlebens diese Mutterbaucherfahrung vermisst hat, sich in machen Zeiten in ihn zurückwünschte und wahrscheinlich deshalb die vaginale Nähe bei B. so intensiv gesucht hat – er wäre am liebsten ganz in ihr verschwunden statt nur mit seinem Teil – verbringt er sein Leben nun in dieser einen Bar, mit ihrem gedämpften Lichtern und Farben und Geräuschen. Er lebt sein Leben auf diesem Barhocker, haust hier, denkt, trinkt, trauert, erinnert.
Wie er B. kennenlernte, oder besser: sie ihn!
Wie sie eben nicht vor ihm zurück schrak, nachdem sie ihn erlebt hatte.
Wie sie eben doch eine Tiefe in ihm ergründen konnte oder sie ihm diese wenigstens nicht absprach.
Wie sie verliebt, vernarrt ineinander, die Kurzwarenabteilung im Kaufhaus durcheinander brachten, nur so zum Spaß.
Wie sie zusammen gezogen sind und auch noch den 100sten Abend lachend miteinander verbrachten.
Wie sie beide ihre Gerüche verströmten und in Leidenschaft sich selbst vergaßen.
Bort war glücklich mit B. Ihre Freunde störten sich vor allem an dieser gewissen Glückseligkeit, welche sich bei Verliebten nun mal einstellte. Obwohl sich die beiden allergrößte Mühe gaben, sich so natürlich wie möglich zu geben. Doch was ist natürlicher als ein Verhalten in Verliebtheit? Ihrer beider, früherer Normalität war schließlich einer neuen gewichen, sie waren verändert, hatten tief in ihrem Inneren versteckte Eigenschaften aus der Isolationshaft entlassen, ihre Persönlichkeiten aus der Eindimensionalität gerettet.
Als sie nicht mehr da war, hat er es zu Hause nicht mehr ausgehalten. In der gemeinsamen Wohnung erinnerte ihn alles an sie. Er hatte sich zunächst nicht getraut, die Bettwäsche zu waschen, weil ihr Duft noch darinnen war, doch gerade der Geruch war es, der ihm so arg zusetzte und seine Sehnsucht nur noch verstärkte. Doch er konnte sie nicht einfach auslöschen. Dann fand er, obwohl ihre persönlichen Dinge alle fort waren, doch immer wieder kleinste Gegenstände:
Unter dem Bett eine Haarspange
Einen ihrer Schlüpfer in der Kommode
Ein von ihr im gemeinsamen Urlaub gekauftes Essbesteck, welches den Weg von der oberen Schublade in die unterste gefunden hatte und sich in einem Emailletopf wiederfand
Eine Schallplatte in seiner Sammlung
Ein Parfümfläschchen unter dem Sofa
Haare in der Bürste
Briefe, Notizen, welche sie ihm im Laufe der Zeit schrieb
Hab' keine Angst, ich bin Dir nah.
Ein Lächeln, zärtlich. Ein Kuss, gehaucht.
Die Bar, an der Decke ein Lichtermeer.
Der Barmann ganz real, ein authentisches Klischee.
Im Licht des Tresens funkelt das Glas der Flaschen.
Im Spiegel dahinter ein verlorener Mensch und der bin ich.
Die Geräusche gedämpft, eine Musik so halbwahr wie der Mond.
Die Tür nach Draußen, eine Verheißung.
Dass jemand kommen kann.
Dass jemand gehen kann.
In diesem Traum gelingt es mir beinahe zu fliegen. Dieses Gefühl dabei, es scheint mir ganz vertraut, real zu sein. In manch wachem Zustand glaube ich dann, ich könnte das. Doch muss es ein Traum gewesen sein. Wie ich laufe und mit meinen Füßen immer größere Schritte mache, bis ich den Boden fast nur mit den Fußspitzen berühre und aus Schritten Sprünge werden, immer und immer größer. Fast als sei die Schwerkraft vermindert, verlasse ich den Boden zwar nicht ganz, doch verbringe ich nun mehr Zeit in der Luft. Es ist kein Schweben, vielmehr ein schwereloses Hüpfen, ein Gefühl der Leichtigkeit auf schwierigem Gelände. Und wie in einem Traum Gerüche und Geschmäcker vertraut scheinen und ganz real scheinen, kann man sie, zurück in der Realität, jedoch nie eindeutig zuordnen. So will es auch mit dieser Form der Leichtigkeit sein. Ich scheine dies alles tatsächlich schon einmal erlebt zu haben, kenne aber weder das wann und das wo. Kann mich einfach nicht erinnern. Wie ein Astronaut in einem Filmstudio bin ich, im Schutzanzug zwar, doch geknechtet von der irdischen Physik.
Bort stockt. Er kramt sich umständlich eine Zigarette aus der Jackentasche, will sie sich anzünden. Sie sagt: Ich habe auch Träume, Deinen nicht ganz unähnlich. Doch das Feuerzeug entgleitet ihm aus besoffener Hand und fällt zu Boden. Ungeschickt und schwindlig steigt er vom Hocker, kniet, sucht und findet. Er erhebt sich wieder. Verlegen lächelt er die Frau an, während er sich aufrichtet. Doch da ist keine Frau mehr. Er setzt sich auf seinen Hocker und wartet. Bort trinkt aus und bestellt sich ein weiteres Bier, trinkt es mit einem Zug aus, bestellt gleich ein neues, trinkt langsamer. Es kommt niemand mehr. Er bezahlt und tritt zum ersten Mal, seit wie langer Zeit eigentlich, zur Tür hinaus und atmet frische Morgenluft. Bort zieht die Jacke zusammen und geht los, zuerst langsam und dann immer schneller, auf Zehenspitzen in den Tag hinein.
Donnerstag, 1. Oktober 2009
Die Croissant- Affäre
Als er etwas später in die Stadt ging, vergaß er das fiese Backwerk bald. Erst, als er sich etwas unter einer Weide ausruhen wollte und er in seiner Tasche nach einem Getränk suchte, fand er die fettfleckige Papiertüte mitsamt Inhalt. Er stieß sie angewidert zurück in die Tiefen seiner MessengerBag, trank einen Schluck und schickte sich an, das elende Croissant los zu werden. Er hätte es ja auch einfach wegwerfen können, aber das brachte S einfach nicht fertig. Es war die verfluchte Erziehung gewesen und was sie aus ihm gemacht hatte.
Eine erhellende Anekdote zu S' Verhältnis zu Lebensmitteln
Als Kind einer Familie mit Nachkriegserfahrung musste S seinen Teller immer vollständig aufessen. Tagsüber war das nicht so schlimm, die Mutter drückte gerne mal ein Auge zu und verstaute das nicht fertig gegessene Essen im Kühlschrank. Spätestens zum Abendbrot aber, wenn der Vater von der Arbeit zurück war, wurde das übrige Mittagessen aufgewärmt, das S dann vertilgen musste. Damit aber nicht genug forderte der Vater, S möge auch noch eine Butterstulle essen. Nach dem Krieg wären die Zeiten so hart gewesen, das man hätte froh sein können um jeden zusätzlichen Bissen. Außerdem sehe er es nicht ein, das S sein Mittagessen in den Abend hinein verschob und deshalb das Abendbrot verschmähte.
S musste also so lange am Esstisch sitzen bleiben, bis er auch seine Butterstulle gegessen hatte. Irgendwann einmal saß er aber so lange verzweifelt und satt vor seinem Teller, dass es dem Vater zuviel wurde und er lieber Sport schauen wollte. Diese Gelegenheit ergriff S, um seine Butterstulle hinter die Küchenzeile zu stecken. Nach einer viertel Stunde ging er ins elterliche Wohnzimmer und verkündete, er habe sein Abendbrot nun gegessen. Der Vater brummte zufrieden.
Diesen Trick behielt S dann ein halbes Jahr bei, vielleicht sogar noch etwas länger: Er wartete, bis es dem Vater zu lange wurde, stopfte sein Brot hinter die Küchenzeile und wartete eine angemessene Zeit ab, um seinen Gehorsam pflichtschuldigst zu melden. Alle waren zufrieden, bis die Eltern entschieden, dass eine neue Küche her müsse. S war nicht eingeweiht, aber als er eines Tages aus der Schule zurückkam, war die neue Küche eingebaut. Die Mutter starrte ihn feindselig an, sagte aber nichts.
Als die Mutter nämlich während des Abbaus der alten Küche die Menge an verwesten Butterstullen dahinter sah, war ihr Ärger groß. Das war selbst ihr zuviel, wenn Lebensmittel einfach fortgeworfen wurden. Als der Vater abends nach Hause kam, erzählte sie es ihm sofort, woraufhin der Vater bitterböse wurde und S ordentlich den Hintern versohlte. Fortan bleib der Vater so lange am Tisch sitzen, bis S sein Abendbrot verspeist hatte, und noch dazu drängte er auf ein baldiges Aufessen, denn die Sportschau wartete nicht. So kann man es also erklären, dass S bis heute keine Lebensmittel wegzuwerfen vermochte.
Als S sich später mit Freunden zum Bier traf, und einige darunter sogar hungrig waren, sah er seine Chance. Doch auch diese winkten nur ab und bestellten lieber eine Pizza um die Ecke. Sie wollten nicht unhöflich sein und schätzten seine Geste, doch sei ihnen im Moment mehr nach etwas Herzhaftem. Verdrießlich fand S sich damit ab, dass er das fiese Backwerk bis zum jüngsten Tag in seiner Tasche herumtragen musste. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als die Tasche mitsamt ihres unappetitlichen Inhalts irgendwo zu lagern, am Besten wohl im heimischen Keller. Jedenfalls so lange, bis das Croissant zu Staub zerfallen wäre. Wie lange das wohl dauern mochte?
Es wurde dennoch ein fröhlicher Abend, mit viel Bier und entspanntem Gelächter. S hätte das Croissant wohl vollkommen vergessen, wenn nicht P viel später dazu gestoßen wäre und verkündet hätte, dass er etwas hungrig sei. Die heitere Runde verwies P seltsam erleichtert auf jenes ominöse Schoko-Croissant, das S in seiner Tasche mit sich führe und jedem anböte, der nicht bei drei auf den Bäumen sei.
Mittwoch, 16. September 2009
Moralist, nicht integer
Dienstag, 18. August 2009
Terminal2
Am Ende eines Korridors
Nun aber war ich in einem kleinen, familiären Betrieb gelandet, und ich fühlte mich sofort wohl. Schon nach wenigen Wochen gelang es mir, Freundschaften unter den KollegInnen zu schließen. Die zwar mit viel Arbeit ausgefüllten Stunden vergingen schnell, ein Plausch war allemal möglich. Die Kundschaft, mit der ich zu tun hatte, erwies sich als sehr angenehm, mehr als ich mir erhofft hatte. Selbst die Dienstfahrten innerhalb der Stadt waren mir eine willkommene Abwechslung, konnte ich mir doch ausreichend Zeit dafür nehmen.
Dabei wurde mein Einsatz für die Firma stets gelobt, schnell hatte ich bei meinem Vorgesetzten einen Stein im Brett. Völlig neidlos befeuerten mich meine KollegInnen, die ja auch allesamt einmal hier angefangen hatten und ähnliche Erfahrungen gemacht haben mussten. In ihren entspannten Gesichtern und ihrer lockeren Körperhaltung erkannte ich meine eigene Zukunft. Genau so wollte ich schließlich einmal aus dem Berufsleben ausscheiden: Entspannt und neugierig auf meinen Lebensabend. Keineswegs aber gehetzt und über den Tod hinaus gedemütigt, was mir eine andere, vergangene Zukunft prophezeite.
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Alles sollte anders werden. Man traf sich mit den KollegInnen zu freundschaftlichen Zusammenkünften, kochte gemeinsam und lachte viel. Der Betrieb florierte unterdessen, wuchs trotz der freundschaftlichen Laxheit stetig und erzielte enorme Gewinne. Insgeheim durften wir uns alle auf eine kleine Gehaltserhöhung freuen, und nach einem Jahr Betriebszugehörigkeit stand mir ein komfortabler Bürostuhl zu, der dreh- und sogar höhenverstellbar ist und sogar fünf Räder untendran hatte.
Diese kleine Schrulligkeit, dem Personal nach und nach Gemütlichkeiten zukommen zu lassen, entsprach meinem Vorgesetzten sehr, der sich schließlich ebenfalls in seinem Leben alles erarbeiten musste, Stück für Stück. Er zählte bereits 32 Lenze, so pflegte er beim gemeinsamen Dinner gerne zu schwadronieren, bevor er überhaupt seinen ersten Schreibtisch bekommen habe. Und es dauerte weitere fünf Jahre, bis er Ansprüche auf den dazu passenden Bürostuhl erworben hatte. Bis dahin erledigte er seine Arbeiten auf dem Fußboden kauernd, denn das lange Stehen fiel im schon von Kindesbeinen an schwer. „Aber Opi erzählt mal wieder vom Krieg“ prustete er dann los und überliess das Gespräch wieder seinen Angestellten, die sich ganz vortrefflich alleine unterhalten konnten.
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Unser Vorgesetzter war nun schon längst im Rentenalter, doch blieb es unvorstellbar, dass er uns jemals verlassen würde. In seine offen gezeigte Heiterkeit mischte sich in den letzten Monaten jedoch eine Verwundbarkeit, ja sogar eine Art von Traurigkeit, die sich in seine krause Stirn eintrug.
Dann kam ein Gerücht auf: Der Betrieb habe die oberste Gewinnmarge überschritten und müsse nun expandieren oder vor die Hunde gehen, raunte eine Kollegin. Ein anderer Behauptete das glatte Gegenteil. Der Gewinn sei fortgebrochen und nun suche man nach einem Investor, das habe ihm der Vorgesetzte in einer nachlässigen Minute jedenfalls erzählt. Bei genauerem Nachfragen stellte sich jedoch heraus, dass der Kollege nur gelauscht hatte und sich mit einem Mal nicht mehr so recht sicher war, was er nun gehört habe und was nicht.
Wie dem auch sei, aufgrund dieser mehr als vagen Aussagen geriet das Betreibsklima etwas aus den Fugen. Jeder machte sich Sorgen um sich selbst, das Gemeinwohl litt sehr darunter. Der Vorgesetzte wurde Tritt auf Schritt beobachtet, jede seiner Bewegungen analysiert und gewogen. Allein, sie ließen keinerlei Rückschlüsse zu.
Doch alles blieb beim Alten, es ließen sich keine Anzeichen für eine Änderung feststellen, die Gerüchte verblichen wie alte Fotografien, bis sie gänzlich in sich zusammen fielen und in Vergessenheit gerieten. Allmählich entspannte sich die Belegschaft wieder. Es wurde gescherzt und gelacht, und alles war wieder wie früher, ging seinen gewohnten Gang.
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Im Nachhinein waren die Zeichen für den Wandel unübersehbar. Der Vorgesetzte ließ sich kaum noch blicken, und wenn doch, dann war seine Sorgenstirn noch krauser als sonst. Auch sein Lachen über die Scherze der Angestellten klang hohl, und seine eigenen Witzigkeiten waren durchdrungen von einem seltsamen Schmerz. Es war zu leicht gewesen, das alles auf sein fortschreitendes Alter zu schieben. Da kämen halt die kleinen Zipperlein und eine Altersgrantigkeit, meinten die KollegInnen nicht nur einmal.
Andere glaubten zu wissen, dass seine Verrentung bevorstand und er nicht damit klar käme. Denn was sei er denn ohne seine Firma, ohne seine Angestellten? Doch all diese Vermutungen bestätigten nur unsere eigene Blindheit und verdeutlichte unsere überstarke Angst davor, das Unvermeidbare zu erkennen.
Dann trat unser Vorgesetzter eines Tages an, verkündete knapp die Übernahme unseres Betriebes durch ein anderes Unternehmen und seinen Weggang. Er teilte uns sein Bedauern mit, aber am Ende sei es nicht mehr anders gegangen. Wie sich herausstellen sollte, war das Unternehmen, dass von nun an die Geschäfte unseres Betriebes leiten sollte, jenes, aus dem ich zuvor ausgeschieden war. Nun ja, dachte ich, solange alles beim Alten bliebe bei uns, dann wollte ich mich nicht sorgen.
Unser Vorgesetzter verabschiedete sich und verliess uns in schleppendem Gang, aals sei es sein Weg zum Schaffott und wir seine letzten Zeugen. Keiner sprach mehr ein Wort, alle blickten betreten zu der Seite, auf der sich schon unsere neue Zukunft auftat, als dort einige schwarzgekleidete Herren ihre Aktenkoffer öffneten.
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Nichts blieb, wie es war: Unser gemütlicher Betrieb musste umgehend verlassen werden, man verfrachtete uns wie Vieh in das mir verhasste Firmengebäude des Unternehmens. Nun aber waren dort die Decken viel niedriger als zuvor, die Büros waren zudem viel kleiner, als ich es in Erinnerung hatte. Wie uns später erklärt wurde, hatte die Unternehmensleitung es veranlasst, einige Zwischenetagen einbauen zu lassen, damit die neue Belegschaft aufgenommen werden konnte.
Die kleinen Parzellen, in denen wir nun arbeiten mussten, waren stickig und heiß. Die marode Klimaanlage, die direkt über unseren Köpfen angebracht war, schlug einen metallischen Rhythmus, dem Paukenschlag auf einer Galeere gleich. Wie Ruderer stempelten wir im Takt Papierberge ab.
Die Stammarbeiter im Betrieb hassten uns sofort, weil sie wegen uns in eine ähnliche Situation geraten waren. Auch ihre Decken waren nun niedriger und ihre Büros kleiner. Es bereitete ihnen keine Befriedigung, dass wir geringer entlohnt wurden als sie. Wir waren ihre Feinde.
Auch unter uns verschlechterte sich das Klima zusehends. Erstmals seit langem bemerkte ich wieder denselben Neid und diesselbe Missgunst unter den KollegInnen, wovor ich einst geflüchtet war. Mir schnürte sich die Kehle zu, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Es war überdeutlich, dass ich sofort würde kündigen müssen. Meine glückliche Zukunft, die ich mir noch vor wenigen Wochen so farbenfroh ausmalte, war plötzlich überschattet von Furcht.
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Am nächsten Tag ging ich gleich hinauf zur Chefetage, um mit der Sekretärin einen Termin zu vereinbaren. Sie beschied mir, ich könne gleich hier oben bleiben, der Chef nehme sich so bald wie möglich Zeit für mich. Allerdings müsse ich die Zeit, die ich hier verbrächte, nacharbeiten. Ihre Augen schauten streng unter der Brille durch, als sie dies sagte.
Das mache mir nichts, denn es sei wichtig, antwortete ich und setze mich auf den mir zugewiesenen Stuhl. Ich wartete daraufhin Stunde um Stunde. Ich sah die Sonne untergehen und die Sterne funkeln, und dann verschwanden die Sterne und die Sonne ging wieder auf. Es kam sodann der Morgen und der Mittag, dann die Nacht, und erst am dritten Tag wurde ich in das Büro des Chefs hineingebeten.
Sie möchten also kündigen, wie ich höre?
Der Chef hatte keinen Sinn für Nettigkeiten. Nie gehabt.
Sie wissen, dass das nicht so einfach für Sie sein wird wie beim letzten Mal? Offenbar erinnerte er sich an mich. Ich antwortete ihm, ich sei bereit, alles zu tun, nur um seine Firma verlassen zu können, zur Not verzichtete ich auch auf mein Gehalt für die letzten Wochen.
Das wird nicht reichen, und das wissen Sie! Die Übernahme Ihres Betriebes hat uns viel Geld gekostet. Wir müssen daher eine Ablösesumme von 50.000 Euro von Ihnen verlangen.
Soviel Geld habe ich aber nicht.
Ich schluckte schwer, schmeckte Blut in meinem Speichel.
Dann bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als die Summe bei uns abzuarbeiten! Sie können es sich überlegen. Gehen Sie jetzt zurück an die Arbeit.
Als ich die Tür hinter mir schloss, stand ich vor einem langen Korridor, dessen Ende ich nicht mehr erblicken konnte.